John Griesemer: "Niemand denkt an Grönland"

Dunkle Machenschaften und ein schreckliches Geheimnis


Die Filmsatire "M.A.S.H." (Abk. f. "Mobile Army Surgical Hospital"; Anm.) aus dem Jahr 1969 spielt in einem mobilen Feldlazarett, wenige Kilometer von der koreanischen Front entfernt.
Qangattarsa, sozusagen die "Romanversion" des einstigen Lazaretts der U.S. Army, befand sich in Grönland. Dorthin wurden die Schwerstverletzten des Koreakrieges gebracht, deren Angehörige lediglich erfuhren, dass ihre Familienmitglieder "M.I.A." ("Missing in Action"; dt.: "im Feld verschollen") waren, bis ihnen nach deren Ableben genau dieses Ableben mitgeteilt wurde. 
Jenes Lazarett existierte offiziell nicht und war für alle, die davon Kenntnis hatten, eine schwere emotionale Belastung.

Die Romanversion des entlegenen Lazaretts schildert John Griesemer durch die Augen des jungen Corporals Rudy Spurance betrachtet, der einigermaßen unmotiviert dorthin abkommandiert und zunächst selbst Patient wird, da ihn niemand vor den überaus aggressiven grönländischen Moskitos gewarnt hat, denen er auch prompt zum Opfer fällt. Nachdem er in der Krankenstation aufgewacht ist, erkundet Rudy den seltsamen Stützpunkt nach und nach. Natürlich lernt er auch den Kommandanten, Colonel Lane Woolwrap, kennen, dessen Geliebte, Sergeant Irene Teal, bald ein Auge auf Rudy wirft, was dessen Leben unweigerlich verkompliziert. Außerdem bekommt Rudy den Auftrag, eine Stützpunktzeitung herauszugeben; allerdings stößt er mit einigen seiner Artikel nicht unbedingt auf Gegenliebe bei den oberen Rängen ...

Im Zusammenhang mit seiner Arbeit als Chefredakteur bekommt Rudy darüber hinaus Zugang zu einem besonderen Trakt des Lazaretts, genannt "der Flügel", wo sich zu dieser Zeit, also gegen Ende des Jahres 1959, immer noch einige Überlebende des Koreakrieges aufhalten, die gewissermaßen auf den Tod warten. Einer dieser Schwerstverletzten beginnt eine ungewöhnliche Beziehung mit Rudy und verschweigt diesem seinen Namen. Rudy kennt ihn folglich nur als "Guy X". Als dann der letzte Verwundete, für dessen Zustand Woolwrap die Schuld zugewiesen wurde, verstirbt, ändert sich die Situation: Die Zeitung wird eingestellt, Rudy darf nicht mehr in die Station, und es werden immer mehr Besatzungsmitglieder des Stützpunkts anderswohin verlegt.
Irene und Rudy überlegen, wie sie es anstellen könnten, dennoch zusammen zu bleiben, und gleichzeitig bekommt Rudy "Guys" Sorge um seinen weiteren Verbleib mit. Dies alles ereignet sich in einer Zeit, als in Grönland die Sonne nicht aufgeht und die Stimmung der Leute irgendwo zwischen suizidal-depressiv und berserker-aggressiv schwankt.
In dieser dantesken Atmosphäre herrscht Woolwrap noch wie ein verrückter König, bis er nach dem Verlust seiner Macht beginnt, immer mehr König Lear zu ähneln - und Rudy dem dazugehörigen Narren ...

Anders als in "Rausch" sind die Figuren durch den abgegrenzten Handlungsraum durchgehend schlüssig gezeichnet, somit dem Leser leichter zugänglich und insgesamt klarer charakterisiert. Zudem verarbeitet Griesemer in "Niemand denkt an Grönland" eine Geschichte, die ihn während seiner Dienstzeit in den Jahren des Vietnamkriegs verfolgt hat: Die Geschichte eines "weißen Schiffs", das niemals anlegt, auf das Verwundete nur zum Sterben gebracht wurden, einerseits, und einen Ausschnitt aus Lawrence Millmans "Saga Land", in dem die real existierende Station in Grönland beschrieben wurde, andererseits, wodurch der Autor eine größere emotionale Nähe erzeugt, als dies generell bei "Rausch" der Fall war.
Nicht uninteressant an solchen Überlegungen ist, dass es sich bei "Niemand denkt an Grönland" um Griesemers Debüt handelt und "Rausch" erst später entstand.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 09/2004)


John Griesemer: "Niemand denkt an Grönland"
Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke.
Marebuch, 2004. 335 Seiten.
ISBN 3-936384-44-4.
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