Marcus Jensen

Das nachstehende Interview entstand anlässlich des Erscheinens des Romans "Oberland" und wurde am 6. und 7. März 2004 von Klemens Taplan per E-Mail geführt.


Klemens Taplan: Gibt es Autoren, an denen Sie sich orientieren, die für Sie einen Vorbildcharakter haben?

Marcus Jensen: Stilistische Verwandtschaften empfinde ich keine. Ich bewundere viele tote und ein paar lebende Autoren, aber ein richtiges Vorbild habe ich nicht.

Sie hatten vor zwei Jahren ein Stipendium des Künstlerdorfes Schöppingen in der Nähe von Münster. Ich wohne im Münsterland. Hatten Sie Zeit, sich das Münsterland anzuschauen, mit seiner Parklandschaft und seinen zahlreichen Schlössern und Burgen? Was hat Ihnen im Münsterland gefallen, was hat Ihnen nicht gefallen?

Schöppingen habe ich als eine Art Arbeitskloster genutzt. Es gab Tage, da setzte ich keinen Fuß aus meinem Appartement Nr. 3, sondern war nur am Schreiben oder Lesen. Insofern habe ich nicht viel gesehen vom Münsterland. Einmal waren wir zu mehreren in diesem klotzartigen Kino-Center in Ahaus, mit Axel Schöpp und Marjana Gaponenko, anschließend im gemütlichen "Café Muse" und auch im Schlosshof. Mit dem Bus Richtung Münster kam ich ständig durch Horstmar, sehr hübsch. Malerisch fand ich die gemeinsamen Stipendiatenabende vor dem großen Kamin, wenn draußen ein Wintersturm jaulte, und die Nachmittagsspaziergänge unter den zwei Dutzend Windrädern. Und dass man immer den Sternenhimmel sehen konnte! Nicht gefallen hat mir in Schöppingen gar nichts, aber ich war im Winter dort, da kommen die Parks und Knicks und Wiesen wenig zur Geltung.

Sie waren Mitarbeiter des "DESY" (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg. Hat diese Arbeit, auch wenn Sie mit Dokumentationen etc. zu tun hatten und kein Physiker sind, Ihre Sicht auf die Naturwissenschaften beeinflusst?

Es ist schon faszinierend, wie hier schleichend eine Modifikation des dualistischen Weltbildes stattfindet. Wunderbarerweise hat Heisenberg seine Quantenmechanik 1925 auf Helgoland entwickelt. Noch ein Link zur Welt von Jens Behse.

Wie definieren Sie irdisches Glück?

Zur Zeit rein materiell und völlig profan, also: Abwesenheit von gesundheitlichen und finanziellen Sorgen. Der, der ich vor zwanzig und auch noch vor zehn Jahren war, hätte das nicht begriffen. Und ich frage mich seit langem, ob er das als Fortschritt empfinden würde oder als Verrat. Das ist auch einer der Punkte, die an "Oberland" die Perspektive ausmachen: Der Erzähler "da oben" interessiert sich überhaupt nicht mehr für das Leben, das der "dort unten" für ihn vorbereitet. Das finde ich zugleich grausam und natürlich.

Ich habe aus dem Buch "Oberland" eine Passage herausgesucht: "Nach einem siebenjährigen Marathon durch Schule und Zivildienst trabte ich gewissermaßen ins Stadion, in die Station, ich drehte die finalen Runden der gesamten Strecke unter ausbleibendem Jubel, ich lief ein in die leere, eisig stumme Arena, ... und plötzlich war mir ein wenig einsam zumute." Für mein Verständnis gibt diese Passage den Geist bzw. die Stimmung des Buches wieder. Würden Sie dem zustimmen?

Abgesehen vom letzten Halbsatz gefällt mir die Stelle immer noch gut, aber der letzte Halbsatz soll auch bewusst schlechter Stil sein, denn der geisterhafte Erzähler macht sich, wenn er "ich" sagt, lustig über den herumtappenden Jens, der von den kommenden Ereignissen keine Ahnung hat. Der Ton wird hier "spitz". Es ist die Sichtweise dessen, der den Ausgang der Geschichte kennt, und insofern recht typisch für das Buch.

Die Bezeichnung "Schelmenroman" auf dem Buchrücken hat mich, nachdem ich das Buch gelesen habe, irritiert. Ich fand diese Bezeichnung für einen Roman, in dem es um Todessehnsucht geht, nicht treffend. Ist "Oberland" ein Schelmenroman?

Das hängt mit der süffisanten Perspektive von "oben" zusammen. Das mit dem "Schelmenroman" war meine Idee, und natürlich ist der lebende Jens Behse gar nicht schelmisch, eher im Gegenteil, aber dem toten Erzähler dort "oben" ist außer seiner Geliebten Steff nichts heilig, und der überwiegende Ton des Buches ist als Groteske angelegt. Die Hauptkomik entsteht (hoffentlich) dadurch, dass Jens sein Ziel tatsächlich erreicht hat, aber jetzt sein eigenes Leben nur noch abfällig betrachtet, seufzend, und sich selbst und seine Mühen gar nicht zu schätzen weiß. Meine Freundin, die katholisch aufgewachsen ist, meinte, ich hätte mit "Oberland" eine christliche Höllenvorstellung abgeliefert. Nur, wie gesagt, ICH finde das komisch. Dann ist es halt ein schwarzer Schelmenroman - wo Jens sich doch mit Schwarzen Löchern beschäftigt.

Helgoland spielt in dem Buch "Oberland" eine große Rolle. Spielt Helgoland auch in Ihrem Leben eine Rolle?

Die einzige autobiografische Szene des ganzen Buches hat sich dort abgespielt, Herbst 1974. Mein jüngerer Bruder fand in Strandnähe eben diese Kapitänsmütze, die im Buch eine fetischistische Rolle spielt. Der Rest der Szene allerdings ist möglicherweise von mir erfunden, da sich meine Eltern nicht mehr daran erinnern können: Ein Hund sprang auf dem Nachhauseweg zur Pension meinen Bruder an, eine Helgoländerin lehnte sich aus ihrem Fenster und sagte, dieser Hund erkenne eben die Mütze seines neulich verstorbenen Herrchens wieder. Die zweite Szene ist die, dass ich (7) in dem Helgoländer Pensionszimmer im Kinderbett lag und plötzlich die Todesangst hatte, dass, wenn ich tot sei, nicht mal mehr wüsste, DASS ich tot sei. Wie gesagt, meine Eltern können sich an meine Panik nicht erinnern. Nur von der Mütze gibt es Fotos. Ich musste unbedingt die Insel als Jenseits-Metapher haben, und so beginnt das Buch eben mit dem Übersetzen zur Toteninsel.

Für mich bleibt unklar, ob es in "Oberland" mehr um den Menschen "Jens Behse" geht oder mehr um die Gesellschaft in der er sich bewegt? Oder kann man das nicht trennen?

Es geht im Buch nur um Jens Behse, das ist das Grundprinzip, er beschäftigt sich rein narzisstisch nur mit sich selbst, findet auch nach seinem Tod nur sich selbst, wie er sich kennt. Alles ist ihm Kulisse seines pubertierenden Egos, entsprechend ist alles "Gesellschaftliche" seine Kulisse. Ich benutze die Zeitumstände, indem ich z.B. die politische Linke als Kontrast zu Jens darstelle. Er probiert eine Privatreligion aus, die seiner Elterngeneration widerwärtig sein muss. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit dem, was man New Age bzw. Esoterik nennt, also mit dem religiösen Pudding, der kaum an die Wand zu nageln ist und den ich für ein elementar wichtiges und schriftstellerisch höchst ergiebiges Thema halte. Die Linke ist hier ein bedeutendes Korrektiv, die idealistische, letztlich atheistische Stimme. Die Esoterikerin im Krankenhaus zeigt wieder eine andere Sichtweise, und natürlich Steff mit ihrem skeptizistischen Spott. Svens beinahe faschistoide Walhalla-Phantasien mussten natürlich mit rein: Aufnahme des Kriegers im Kreis der anderen Krieger. Wer sich in Deutschland mit heidnischen oder neuheidnischen Themen beschäftigt, kann am Faschismus nicht vorbeigucken. Was das gesellschaftlich bedeuten oder ergeben wird, kann noch nicht erkannt werden, dazu ist das Feld der nach-christlichen Glaubensvorstellungen zu sehr in Bewegung.

Die Stimmung der 1980er Jahre wird mit vielen typischen Begriffen thematisiert und wirkt recht lebendig. Wäre "Jens Behse" auch in einer anderen Epoche denkbar gewesen?

Sicher. Ich habe einfach die Zeit genommen, die ich erlebt hatte - obwohl ich Anfang der Achtziger niemanden kannte, der sich mit dem Tod beschäftigt hat. Die ersten "Grufties" oder "Gothics" erschienen in Deutschland, glaube ich, etwas später.

Auffallend ist das Geburtsjahr 1967 des Protagonisten "Jens Behse". Der Autor Marcus Jensen ist ebenfalls 1967 geboren. Ein Zufall?

Ich nahm eben die Kulisse vom Anfang der Achtziger, in der ich mich selber schrecklich fühlte. Wahrscheinlich steht aber Jens Behse heutigen Jugendlichen näher als mir oder meiner Generation damals.

Sie schätzen die elektronische Musik von "Tangerine Dream", Klaus Schulze oder "Kraftwerk", um ein paar Beispiele zu nennen. Gefällt Ihnen die Musik der "Neuen deutschen Welle", die prägend für die 1980er Jahre war und im Roman häufig erwähnt wird?

Mir gefiel an der NDW schon damals das Elektronische und das teilweise schräge Arrangement, und davon natürlich eher das Dunkle. Einige der Titel, speziell von Witt und Ideal, werden ja auch im Buch breit zitiert, weil sie hervorragend zur Untermalung bzw. Motivandeutung dienten. Der "Herbergsvater" am Ende von Teil 2 ermahnt gottväterlich die ganze Party, und im stockdunklen, drangvollen, aufgeheizten Klassenraum dröhnt Ideals "Eiszeit", während alle Schüler blind durcheinanderschnattern - für mich ein Heidenspaß. Die Lieder von Alexandra, die das Buch durchziehen, passen dagegen nicht in die Achtziger, gehören eher zur tragisch-elegischen Seite.

Welche Projekte/ Bücher planen Sie in nächster Zeit?

In der Konzeptionsphase steckt ein neuer Roman, der ein paar Jahre in der Zukunft spielt und sich wie "Red Rain" und "Oberland" mit Phänomenen der Esoterik beschäftigt, diesmal allerdings nicht überwiegend satirisch.

Vielen Dank für das Interview.