David Lindley: "Die Unbestimmbarkeit der Welt"

Heisenberg und der Kampf um die Seele der Physik


Der Bruch mit der klassischen Physik

Als der junge Physiker Werner Heisenberg im Jahr 1927 sein Unschärfeprinzip formulierte, war er keineswegs der Erste, der am Fundament der klassischen Newtonschen Physik rüttelte. Unter anderem hatten schon etliche Jahre zuvor Planck und Einstein gezeigt, dass sich manche Phänomene nicht mithilfe der klassischen Physik erklären ließen. Während diese beiden und eine Reihe anderer etablierter Physiker jedoch mit ihren Entdeckungen alles andere als glücklich waren, gehörte Heisenberg zu einer neuen Generation, die mutig das Althergebrachte über Bord warf und äußerst unkonventionelle Wege beschritt.

David Lindley stellt in seinem Buch die Geschichte dieser "neuen" Physik seit ihren Anfängen im ausgehenden 19. Jahrhundert vor. Den Anfang macht die erste Konfrontation mit dem Element des Zufalls, das sich in der von Robert Brown entdeckten und von der Wissenschaft lange nicht beachteten ungerichteten Zitterbewegung mikroskopisch kleiner Partikel in einer Flüssigkeit manifestierte. Statistische Methoden etablierten sich mit der Erforschung radioaktiver Zerfälle endgültig in der Physik.

Der Autor vollzieht die allmähliche Herausbildung eines Atommodells nach - des Bohrschen -, das die empirischen Beobachtungen größtenteils erklären konnte, wobei der Leser viele hochinteressante und durchaus auch skurrile Wissenschaftlerpersönlichkeiten kennen lernt, und geht schließlich genau auf Heisenbergs Werdegang ein. Denn Heisenberg, wiewohl nur einer von vielen Revolutionären im frühen 20. Jahrhundert, sollte Berühmtheiten wie Einstein vor den Kopf stoßen, indem er nachwies, dass sich bestimmte Eigenschaften von Teilchen im atomaren und subatomaren Bereich der exakten Quantifizierung entziehen: Bei ihrer Bestimmung gibt es ein Element der Unschärfe wie bei einem etwas verwackelten Foto.

Heisenbergs Entdeckung spaltete die Gemeinschaft der Physiker. Manche, wie Pauli, waren prinzipiell auf seiner Seite, andere taten sich wie Bohr schwer mit seiner Theorie, und eine Gruppe um Einstein vermochte das Element der Unbestimmbarkeit nicht zu akzeptieren und versuchte sich in erfolglosen Gegenbeweisen. In diesem Zusammenhang fällt auch das berühmte Einstein-Zitat: "Gott würfelt nicht."

Doch auch die Philosophie, die der Physik ohnehin immer nahe stand, befasste sich intensiv mit der Tatsache, dass sich Teile der Natur einer genauen Bestimmung verweigern. Der Autor untersucht, wie sich Heisenbergs Entdeckung auf die Philosophie und auf andere Wissenszweige auswirkte, und in welcher Weise schließlich auch etwas oberflächlich Schindluder damit betrieben wurde.
Anregungen zu weiterführender Lektüre finden sich in den Anmerkungen und vor allem im Literaturverzeichnis.

David Lindley gelingt es hervorragend, den Kampf der Physiker um Erkenntnis darzulegen. Zum Teil ging es natürlich darum, sich zu profilieren und zu positionieren, doch stand im frühen 20. Jahrhundert zweifellos der Drang zur Entschlüsselung von physikalischen und philosophischen Wahrheiten und Zusammenhängen im Vordergrund der Wissenschaft, die sich in einem einzigartigen Auf- und Umbruch befand. Diese Stimmung wurde auch, wie der Autor einfühlsam nachvollzieht, durch das gesellschaftliche und politische Umfeld der Forscher geprägt. Die großen Entdeckungen in der Physik fanden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Teil in Deutschland statt, einem Land, das zu dieser Zeit ständigen Höhen und Tiefen und einem stetigen Sog hin zum Abgrund des Faschismus ausgesetzt war - das Element der Unsicherheit, das Heisenberg in die Physik hineintrug, fand man in der Zwischenkriegszeit auch in der Politik.

Der Leser lernt alle wichtigen Physiker dieser Zeit nicht nur hinsichtlich ihrer Bedeutung als Wissenschaftler, sondern auch als eigenwillige Persönlichkeiten mit Ecken und Kanten kennen: charmante wie Einstein und Schrödinger, Individualisten wie Pauli, der nachts lange ausging und erst vormittags zur Arbeit erschien, den einnehmenden, doch sturen und umständlichen Niels Bohr und nicht zuletzt Heisenberg: höflich, sehr gut erzogen, doch zurückhaltend und spröde.

Die Rolle einiger Physiker im Nationalsozialismus wird ebenfalls beleuchtet, steht jedoch nicht im Zentrum des Buchs. Wesentlich sind die Geschichte der Heisenbergschen Entdeckung und deren Konsequenzen für die Weiterentwicklung der Physik und für weitere Wissenschaften, und dies vermag der Autor sehr anschaulich und mit möglichst wenigen Rückgriffen auf komplexe physikalische Sachverhalte darzustellen. Daher erfordert die Lektüre keine Fachkenntnisse.

Das letzte Kapitel untersucht kritisch die Vereinnahmung des Unschärfeprinzips durch Nicht-Naturwissenschaften und führt Heisenbergs Gedanken dorthin zurück, wo er hingehört: ins Zentrum der Physik.

Ein spannendes und leicht verständliches Buch, das trotz seines ausgeprägten populärwissenschaftlichen Charakters alles andere als oberflächlich ist und den von Heisenberg erzeugten Bruch in der Physik aus verschiedensten Blickwinkeln gut nachvollziehbar darzustellen vermag.

(Regina Károlyi; 03/2008)


David Lindley: "Die Unbestimmbarkeit der Welt. Heisenberg und der Kampf um die Seele der Physik"
(Originaltitel "Uncertainty Einstein, Heisenberg, Bohr, and the Struggle for the Soul of Science")
Übersetzt von Doris Gerstner.
DVA, 2008. 302 Seiten.
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David Lindley, geboren 1956, ist promovierter Astrophysiker und Journalist sowie Autor mehrerer populärwissenschaftlicher Bücher zu physikalischen Themen.

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Werner Heisenberg (1901-1976) ist eine der Schlüsselfiguren der modernen Physik. Er schuf entscheidende konzeptuelle Voraussetzungen für die Beherrschung von Prozessen, ohne die die technische Zivilisation der modernen Welt nicht denkbar wäre. Thema dieser Einführung in sein Leben und Denken sind die Erfahrungen und Überlegungen, die ihn zu seinen wichtigsten theoretischen Erkenntnissen geführt haben, die wesentlichen Inhalte dieser Erkenntnisse sowie die Konsequenzen für das Verständnis der Physik und für das wissenschaftliche Weltbild überhaupt. (C.H. Beck)
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