Der Misanthrop No 17

Silvester - Aufstand plebejischer Gesittung


Silvester nennt das Menschenvieh den alljährlichen Vorwand zur Versauung seines kümmerlichen Rests an Würde. Und selbst noch ansonsten kultiviertes Volk meint zu diesem Anlass in wüste Pöbeleien verfallen zu dürfen. Es knallt und kracht, ungeachtet der zu Tode erschrockenen Tiere, deren wildlebender Teil doch gerade unter den Ungemächlichkeiten des Winters zu darben hat und zumindest des Nächtens Ruhe und Entspannung zur Selbststärkung benötigen würde. Doch nichtsdestotrotz, es knallt und kracht, und edle Tropfen fließen in Strömen die heiser gegrölten Kehlen der Feiernden hinab. Das Gesöff wird entwürdigt durch eine Praxis besinnungsloser Sauferei. Menschliche Abgründe der grauenhaftesten Art tun sich in dieser Nacht zur Jahreswende auf. Der Mensch zeigt sein wahres Gesicht. Und dieses ist hässlich!

Erträglich wäre es noch, würde sich dieser Ausbruch menschlicher Verworfenheit nur auf diese eine lärmende Nacht beschränken, doch verkannt hat die unmäßige Natur des Menschen, wer wider besseren Wissens und allzu gutgläubig auf maßvolle Selbstbeschränkung seiner Zeitgenossen hofft. Schon Wochen zuvor setzt das Lärmen und Toben ein und hält hernach noch an. Ein Krawall sondergleichen entfaltet sich über die stillste Zeit im Jahr, verübt von einer kleinen doch umso rücksichtsloser sich gebärdenden, weil allemal mit dämlichem Knallzeug bewaffneten, Minderheit, deren Teilhabende zumeist im Entwicklungsstand von Halbstarken befindliche oder verharrende, jedoch allemal Barbaren im Geiste sind. Der Neigung zur derben Gesittung kann nicht eine Nacht im Jahr genügen, mag diese auch noch so wüst begangen sein. Oh nein, der Terror muss zeitlich erstreckt werden, und ein Volk von Alltagsvergnügten ergötzt sich auch noch an dem Gelärme, wird sentimental dabei, obgleich doch nur noch die gemarterten Ohren dröhnen. Es knallt und kracht zur feierlichen Gestimmtheit. Allmachtsfantasien wollen die Knallmacher ausleben, sonst nichts. Innerliche Perchten treiben zum Leidwesen aller Kreaturen ihr Unwesen.

Und kaum ist die Nacht zur Jahreswende durchgestanden, welche gnadenreiche Stille den Morgen alljährlich durchdringt (auch diese ist schon von Knallfetischisten bedroht), erschallt aus den Rundfunkgeräten, soweit man den Fehler begeht diese unvorsichtigerweise einzuschalten, die ewig gleiche musikalische Niedertracht. Man vernimmt aus dem Äther das Wiener Neujahreskonzert, eine kulturelle Institution, der alle Welt andächtig lauscht, wobei es sich in der Tat jedoch um eine unendliche Wiederkehr Straußscher Schmeicheleien handelt, deren Abgeschmacktheit nach der tausendsten Aufführung des ewig Gleichen nicht mehr unerträglicher werden kann, was man dem Strauß nicht zum Vorwurf machen sollte, sondern viel mehr jenen, denen zur Jahreswende im Wiener Musikverein nichts Besseres einfällt, als immer wieder nur Märsche und Walzer der Familie Strauß zu intonieren. Und einfach peinlich, wenn das stocksteif dasitzende Konzerthauspublikum (vorwiegend Geldaristokratie) zum Radetzkymarsch zu patschen beginnt. Eine beschwingte Lustbarkeit in Habachtstellung. Wer wollte jetzt noch daran zweifeln? Diese Silvesterstimmung ist eine unerträgliche Verfehlung gegen den guten Geschmack, derb und roh, ein Aufstand plebejischer Gesittung gegen den letzten Adel in Umgang und Form, alljährlich von verrottetsten Gemütern zum Anlass genommen ihre Verderbtheit - und wenn auch nur für einige wenige Tage - zum Maß aller Dinge zu erheben.

(Misanthrop; Dezember 2003)