Der Misanthrop No. 14: "Wider die Praxis kultureller Verelendung"

"... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch."

(Theodor Wiesengrund Adorno)


"... nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch ..." - Mit diesem in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts getätigten, hier als Satzfragment zitierten, Sager zur ästhetischen Verfasstheit der postfaschistischen Ära traf Adorno den verhassten Kulturbetrieb ins Mark, doch keineswegs tödlich, da nicht einfach zu fällen ist, was aus dem tiefsten Wesen menschlicher Verkommenheit herrührt. Es sei an dieser Stelle in weiterer Folge nicht näher ausgeführt, was Adorno konkret mit seinem Ausspruch meinte (eine philosophische Erörterung, in die sich vertiefe, wer so wolle), sondern, des Philosophen Worte seien lediglich dienlich als inspirierende Ansatzpunkte für fortführende Gedanken zur Praxis kultureller Verelendung, die als anhaltender Verfallsprozess den Verbliebenen dieser Erde Schicksal und Ungemach in Einem ist.

Adorno liegt wohl nicht so falsch, wenn er das Treiben der Kulturindustrie, überspitzt doch zielsicher polemisierend, unzweideutig in Bezug zur Wirklichkeit industriell organisierter Vernichtung von Leben setzt, denn eine gewisse, wenn auch reichlich amorphe, Geistesverwandtschaft, etwa was den destruktiven Charakter betrifft, lässt sich ja kaum verleugnen. Weniger der vorgebliche Kunstgenuss, denn viel mehr das Gedeihen der Profitrate ist der Kulturfabrikanten vordringliches Anliegen, wofür es gilt eine allgemeine Geschmacksverflachung zu realisieren, die noch dem abgestumpftesten Gemüt vermittels - wenn auch schaler - Sinnesreizungen einen Zugang zur Produktpalette billiger Gefälligkeiten erschließt. Kunst wird solcherart zur abgeschmackten Handelsware reduziert, massenhaft produziert und, nach dem Gebrauch, ebenso massenhaft entmüllt. Nicht der Kunstsinnige, sondern der aller verfeinerten Empfindung entfremdete Konsument von Wegwerfartikeln ist Adressat dieser - im wahrsten Wortsinn - nihilistischen Gesittung. Eine Massenkultur jedoch, die sich in ihrem Streben nach Profitmaximierung immer mehr verflacht, ist zwangsläufig auf dem besten Wege in die Barbarei, als ein sich selbst zelebrierender Rückfall in primitivistische Formen kultureller Ausdrucksweisen; dem Faschismus nicht unähnlich, der selbst ganz gezielt auf Methoden archaischer Massenverzückung setzt und dabei einem simplen Schönheitsbegriff frönt. Und ist es denn nicht so, dass der industriell vermittelte Kulturbetrieb dieser Tage, möchte man überhaupt noch von "Gewinn" sprechen, zusehends gerade noch an geistigem Tiefstand gewinnt, in seiner Rohheit und Verflachtheit mehr und mehr tatsächlich zur längst schon prophezeiten Barbarei ausartet? Wird die Gegenwart nicht Zeugin einer Unart, die sich letztlich - jetzt psychologisierend aufgefasst - als Geist des Faschismus entpuppt, welcher sich als allumfassendes Ressentiment, neuerdings weniger gegen ethnische Minderheiten, denn gegen die Schöpfung in all ihren materiellen wie ideellen Erscheinungen richtet? Ein imperialistischer Aggressor, der, ohne irgendwelche Reservate noch auszusparen, alle Lebensräume verheerend, schon alsbald nach den Sternen greift, um selbst der Götter ferne Areale in sein ruinöses Wüten einzufassen, kriegerisch zielstrebig und bis ins letzte Glied beseelt von blindwütigem Trachten alle Unter- wie Überwelten unter seinem Müll zu begraben.

Das Toben der Barbarei hat sich längst schon zur globalen Eskapade ausgewachsen, weltenübergreifend kosmisch in seiner verhängnisvollen Wirkung verwandelt es alle Lebenswelt in ein einziges riesiges Vermüllungslager, in dessen verschundeten Räumen es sich - welch Tücke! - immer noch wohl ergehen lässt. Zurechtgefälscht wird alles Bewusstsein, das, während es immerzu nach lustvoller Entspannung strebt, kaum ahnt wie ihm derweilen vermittels allerkümmerlichster Vergnügungen das Hirn aus dem Schädel geblasen wird, auf dass seelenlose Körperlichkeit an Stelle eines geistdurchdrungenen Schöpfungszieles ideeller Selbstgöttlichkeit verbleibt. Wie richtig doch liegt, wer meint, der Erde ungebrochenes Siechtum - populär unter dem Schlagwort von der "ökologischen Krise" - sei nichts als die Konsequenz einer Weltanschauung, die - in ebenso kurzsichtiger wie romantischer Manier - den Menschen, also die reale Ausgeburt aller kreatürlichen Niedertracht, zum Maß aller Dinge erhöht.

Darwin meinte noch in der Natur ein Gesetz zum Fortschritt zur ständigen Entwicklung in Richtung des Besseren zu erkennen, was in Bezug auf das Kulturwesen Mensch wohl nur ein Fortschreiten zum "Schöneren" und "Edleren" bedeuten kann, doch wusste der optimistische Forschergeist des Privatgelehrten noch nicht um die zerstörerische Macht einer - zu jener Zeit erst rudimentär entfalteten - Kulturindustrie, die ihre Geschöpfe in Käfighaltung mit Mastfutter der übelsten Sorte zum eigenen Wohle verwöhnt. Was solcherweise über die Gebärde freundlicher Wohltätigkeit zum Wuchern gebracht wird, spottet jeder Beschreibung und ist dem Ideal des schlechthin Grauenhaften nicht aus der Pflicht genommen. Sarkastisches Grinsen ist noch die verhaltenste Reaktion, die einem zu dieser Tragödie in den Sinn kommen mag.

Kunstgenuss dürfte keineswegs mit bloß vergnüglichem Zeitvertreib verwechselt werden, meinte schon Adorno, sondern ist als mühselige Befassung mit ebenso schwer zugänglichen wie irritierenden Materien zu begreifen, welche im dialektischen Konflikt den entwicklungswilligen Charakter formt und zur ästhetischen Person reifen lässt, was, bei Betrachtung aktueller Lebenswirklichkeiten, freilich mehr den je verunmöglicht scheint. Flutet doch aus allen medialen Vermittlungsquellen immerzu nichts als gefälliger Schmarren in eine allfällig gerade einmal auf Beiläufigkeit geschaltete Sinneswahrnehmung, deren vordringlichster Anspruch es ist, sich nicht anstrengen zu müssen. Ein Fiasko, basierend auf Faulheit und Ignoranz, nährend den Verdacht einer insgeheimen Unlust am Leben, gefangen in der Gebärde eines Wartens auf Nichts und darin zu Tode gelangweilt. Die Massenkultur unserer Tage veräußert sich zu aller erst als Kultur der Langeweile, welche zu ihrer Selbstbewältigung nach billiger Unterhaltung giert. Ein Gieren, dessen flüchtige Befriedigung der Kulturindustrie obliegt.

Mittlerweile, der Unfug ist so weit gediehen, muss es bereits mit einer grob fahrlässigen Selbstschädigung gleichgesetzt werden, unachtsam verfahrend ein Radiogerät in Betrieb zu setzen (der erwartbaren akustischen Brachialitäten wegen), und ehe man sich noch versieht, vernimmt man auch schon der Menschheit unaufhörliches Streben nach tiefster Erniedrigung ihrer selbst. Ekeligster Unrat, aufdringlich rumorend, verschüttet sich aus den Lieferkanälen eines zur Unform missratenen Lärmgewebes, eindringend in sphärisch hallende Klangwelten, alles verätzend, verschmutzend, verunstaltend, eine, über den Hörsinn zudringende, lärmende Pestilenz von ebenso unartigen wie garstigen Beleidigungen, welche, sich selbst perpetuierend, im deprimierten Rezipienten des Geschehens ein Gefühl der Ohnmacht vor jenem epidemisch ausschlagendem Grauen erregt, dessen Gepräge sich brausend und dröhnend zu einer quälenden Nötigung jeglichen Feinsinns verdichtet. Insbesondere die über Rundfunkgeräte und sonstige Krawallmacher transportierte akustische Umweltverschmutzung nimmt zusehends apokalyptische Züge an. Kaum dass es einem noch gelingt dem allgegenwärtigen Krach auch nur zeitweilig zu entkommen und wenn, so heißt dies einsame Berggipfel erklimmen.

Kommerzialisierung ist ein Schandwort, weil voll des Schändlichen, doch trügt die Begleiterscheinung glühenden Hasses, bei Wahrnehmung scheußlicher Anbiederungen, das Symptom mit dem Ursprung zu verwechseln, welcher doch nur, und dessen sei man gewiss, in den Untiefen menschlicher Niedrigkeit zu suchen ist. Aller Optimismus muss sich folglich in bitteren Pessimismus verkehren, wollten wir die Zukunft unserer Weltgeworfenheit dem Untier Mensch überantworten. Eine Gesittung kulturoppositioneller Widermenschlichkeit sei deswegen unser innerweltliches Glaubensbekenntnis, solange sich das fassbar Menschliche praktisch weiterhin mit dem ebenso peinlichen wie peinigenden Kult um den Dekalog kulturindustriell vermittelter Verfallsrituale gleichsetzen lässt.

Wahrlich! Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, sofern an äußere Merkmale verführerischer Gefallsucht gebunden, es sei denn, die sorgsam erwählte Lyrik empfiehlt sich als konsequente Verneinung von all dem, was des Menschen Gemüt für gewöhnlich - in simpler Weise (!) - heiter und sinnenfroh stimmt. Adornos Trübsinn in Ehren, doch an den verschütteten Adel der Menschenseele zu rühren muss selbst nach Auschwitz nicht zwangsläufig barbarisch sein.

(Misanthrop; August 2003)