Leseprobe aus "Salz. Eine Literaturgeschichte"
von Thomas Strässle


I. Einleitung

Daß all jene Wörter, mit denen die großen alten Geschichten erzählt wurden, und ohne die es keine Geschichten gibt, "Segen", "Fluch", "Liebe", "Zorn", "Meer", "Traum", "Wahnsinn", "Wüste", "Jammer", "Salz", "Elend", "Frieden", "Krieg", für uns Heutige Fremdwörter geworden sind, deren letzten verbliebenen Sinn wir noch weiter vernichten, indem wir sie entweder peinlich falsch aussprechen oder bloß so fallenlassen wie im Gerede der Fußgängerzonen? Daß wir unfähig sind, die langen verschlungenen Sätze darzustellen, in denen allein jene Wörter wieder frisch ihren Platz bekommen? 
Peter Handke


Lektürekonflikte: Kontroversen um das Salz

Erzählte Ambivalenz

"Ein König hatte drei Töchter; da wollte er wissen, welche ihn am liebsten hätte, ließ sie vor sich kommen und fragte sie. Die älteste sprach, sie habe ihn lieber als das ganze Königreich; die zweite, als alle Edelsteine und Perlen auf der Welt; die dritte aber sagte, sie habe ihn lieber als das Salz. Der König ward aufgebracht, daß sie ihre Liebe zu ihm mit einer so geringen Sache vergleiche, übergab sie einem Diener und befahl, er solle sie in den Wald führen und töten." So beginnt das Märchen Prinzessin Mäusehaut aus der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen (1812/ 1815) der Gebrüder Grimm. Es entwirft eine erzählerische Ausgangslage, die unverkennbar derjenigen in Shakespeares King Lear entspricht - wobei bei den Brüdern Grimm nicht klar wird, ob es in dieser Szene ebenfalls um eine Verteilung des Erbes geht wie bei Shakespeare. Der Grund für die geforderten Liebesbeweise bleibt im Märchen von der Prinzessin Mäusehaut bis zuletzt offen.
Während jedoch in Shakespeares Tragödie die jüngste Königstochter Cordelia schon bei den Schmeicheleien ihrer älteren Schwestern "beiseite" zu erkennen gibt, dass sie werde schweigen müssen, weil ihre Liebe schwerer wiege als ihr Wort, und sie dann auch auf mehrfache Nachfrage des königlichen Vaters tatsächlich "nichts" zu sagen weiß, was ihren Gefühlen angemessen wäre, findet im Grimmschen Märchen die Prinzessin ein Wort, zu dem sie ihre Liebe zum Vater in Zusammenhang setzen kann: Sie hat ihn "lieber als das Salz". Dessen Erwähnung hat freilich unerhörte Folgen: Die Reaktion des Königs auf die Antwort der jüngsten Tochter fällt bei den Brüdern Grimm noch erbarmungsloser aus als bei Shakespeare, dessen Lear Cordelia zwar verstößt, aber nicht geradewegs Befehl gibt, sie für ihr "Schweigen" umzubringen. Wie in der Tragödie besteht auch im Märchen die Hamartia des Königs, sein verhängnisvoller Irrtum, in einem fundamentalen Missverstehen dessen, was gesagt bzw. nicht gesagt wird: Vermag Lear die Weigerung der jüngsten Tochter, beim diktierten Wettstreit der Liebesbeteuerungen mitzutun, trotz ihrer unmissverständlichen Hinweise nicht zu lesen als das Resultat ihrer Skepsis, die Liebe zum Vater so ausdrücken zu können, wie sie sie tatsächlich empfindet, so begeht im Grimmschen Märchen der König seinen verheerenden Fehler dadurch, dass er das Salz selbstredend für gewöhnlich und wertlos erachtet, ohne sich darüber auch nur auf eine Diskussion einzulassen. Solche Geringschätzung des Salzes hat ihre eigene Tradition und wird im Text auch explizit, wenn es heißt, der König sei darüber erzürnt, dass die Tochter "ihre Liebe zu ihm mit einer so geringen Sache vergleiche". Diese Disqualifizierung des Salzes ist durch königlich-väterliche Autorität privilegiert, und so erhebt sich dagegen zunächst kein Einspruch. Die Prinzessin fällt in Ungnade und wird zum Tode verurteilt, offenbar ohne die Gelegenheit erhalten zu haben, sich selbst und das Salz zu verteidigen.
Das Liebesgeständnis an den eigenen Vater bezieht seine missverständliche Diskretion aus dem Stoff selbst. Zwar lässt der Beginn des Märchens streng genommen offen, wie denn die verhängnisvolle Antwort "wirklich" gemeint ist, doch ist schon da zu erahnen, dass, neuerlich in Analogie zum King Lear, mit ihr keine bewusste Provokation beabsichtigt wird, eher deren Gegenteil. Gleichwohl erhält die Wahl des Gleichnisworts unwillkürlich einen rebellischen Zug dadurch, dass sie einen riskanten Verzicht leistet auf vordergründige Schmeichelei, wie sie vom Gegenüber anscheinend erwartet und von den beiden Nebenbuhlerinnen auch bereitwillig ausgesprochen wird. Umgekehrt wird diese Wahl so zum Indiz einer charakterlichen Reinheit, durch die sich die jüngste Königstochter vor den anderen auszeichnet: Im Unterschied zu Königreich, Edelsteinen und Perlen ist das Salz nicht durchdrungen von der Gier nach der Zuneigung des eigenen Vaters und den dadurch erhofften Begünstigungen. Innerhalb des geschwisterlichen Antagonismus von Hypokrisie versus Integrität wird es daher auch zu einer moralisch lesbaren Chiffre, die eine gewisse Zurückhaltung, Anspruchslosigkeit und Ehrlichkeit signalisiert - selbst wenn der König im Grimmschen Märchen die Frage nach der Wahrhaftigkeit nicht stellt, mit der sich der brüskierte Lear der Aufrichtigkeit der eigenen Tochter versichert: "LEAR But goes thy heart with this? CORDELIA Ay, my good lord. / LEAR So young, and so untender? / CORDELIA So young, my lord, and true. ("LEAR Und kommt dir das von Herzen? CORDELIA Ja, mein Vater! / LEAR So jung und so unzärtlich? / CORDELIA So jung, mein Vater, und so wahr.") Im Gegensatz zur heuchlerisch überspannten, aber sicherlich einträglicheren Unwahrheit von "ganzem Königreich" und "allen Edelsteinen und Perlen auf der Welt" wird bei den Brüdern Grimm die Wahrheit des Salzes als Affront aufgefasst, der dem Stoff entspringt.
Das erzählkonstitutive Moment des Märchens Prinzessin Mäusehaut markiert folglich eine radikale Ambivalenz der inkriminierten Substanz selbst: Insofern deren konträre Valenzen bedingungslos zur Disposition gestellt werden, steht mit dem Leben der Prinzessin auch das Salz als solches auf dem Spiel. Der Text der Brüder Grimm kann entsprechend, zumal in seiner exklusiven Fokussierung auf das Schicksal der jüngsten Königstochter, als Inszenierung des Salzes in der Offenheit seiner Zuschreibungsmöglichkeiten gelesen werden. Anders als Königreich, Edelsteine und Perlen, die in ihren Konnotationen - auch für den König - unzweideutig sind, erscheint das Salz als Chiffre, deren Lektüre nicht nur höchst umstritten ist, sondern deren Spektrum an Lesbarkeiten mögliche Handlungsfolgen vorzeichnet, die sich denkbar widersprüchlich zueinander verhalten: Verwendet als Gleichniswort, das das Maß der Liebe zum Vater andeuten soll, verschuldet es die Todesstrafe an derjenigen, die es ausspricht.
Glücklicherweise gehört es zum Genre des Märchens, dass niemand zu Unrecht bestraft wird. Zwar geleitet der Diener die todgeweihte Königstochter wie ihm befohlen in den Wald, doch lässt er sich von ihrem Bitten schon bald erweichen. Nicht nur will er das Leben der Prinzessin schonen, sondern er bietet ihr sogar seine Dienste an. Sie begehrt aber nichts als ein "Kleid von Mausehaut", das sie sich überzieht, kaum dass sie es vom Diener erhalten hat, um daraufhin alleine im Wald zu verschwinden. Diese zweite Haut, die dem Märchen seinen Titel gibt, verleiht der Königstochter das Inkognito, dessen sie nach ihrer Ächtung bedarf, und sie vollzieht einen Wechsel der Identitäten, der allein durch das Salz erforderlich geworden ist: An einem benachbarten Königshof gibt sich die Prinzessin in dieser Verkleidung als Mann aus, macht dem König ihre Aufwartung und tritt in seine Dienste, ohne ihre adelige Herkunft preiszugeben. Als sie eine trotzige Antwort auf eine seiner Fragen gibt, wird der König auf sie aufmerksam, und da man einen Ring von ihr findet, der allzu kostbar ist, als dass er nicht gestohlen sein müsste, kommt die Prinzessin Mäusehaut in Bedrängnis. Es bleibt ihr nichts, als ihr wahres Gesicht, ihr wahres Geschlecht unter der Maske zu enthüllen: Sie streift die Mäusehaut ab, und "ihre goldgelben Haare quollen hervor, und sie trat heraus, so schön, aber auch so schön, daß der König gleich die Krone von seinem Kopf abnahm und ihr aufsetzte, und sie für seine Gemahlin erklärte."
Beim anschließenden Hochzeitsbankett kommt das Salz wieder ins Spiel - indem es fehlt:

Zu der Hochzeit wurde auch der Vater der Mausehaut [sic] eingeladen, der glaubte, seine Tochter sei schon längst tot, und erkannte sie nicht wieder. Auf der Tafel aber waren alle Speisen, die ihm vorgesetzt wurden, ungesalzen, da ward er ärgerlich und sagte "ich will lieber  nicht leben als solche Speise essen!" Wie er das letzte Wort ausgesagt, sprach die Königin zu ihm "jetzt wollt ihr nicht leben ohne Salz, und doch habt ihr mich einmal wollen töten lassen, weil ich sagte, ich hätte euch lieber als Salz!" Da erkannt er seine Tochter und küßte sie, und bat sie um Verzeihung, und es war ihm lieber als sein Königreich und alle Edelsteine der Welt, daß er sie wiedergefunden.

So endet das Märchen. Für den zunächst noch immer blinden Vater wird das Salz per absentiam zum Medium von Anagnorisis und Metanoia, von Wiedererkennen und Reue: Der fade Geschmack der Speise, die ihm vorgesetzt wird, lässt ihn in seinem Ärger unwillkürlich nach jenem Stoff verlangen, der das Verbrechen an der Königstochter nicht nur erinnert, sondern selbst zu verantworten hat. Auch wenn der König an scheinend gar nicht merkt, was genau er vermisst - zumindest sagt er es nicht -, wird ihm das Salz derart unentbehrlich, dass die Gastgeberin sich mit dem Hinweis darauf als das einst in Ungnade gefallene Kind zu erkennen geben kann: Sie rekurriert auf die praktische, kulinarische Notwendigkeit des Salzes, wenn sie die verhängnisvolle Antwort von damals in einer symbolisierenden Geste übersetzt in die missverstandene Beteuerung, den Vater mehr noch zu lieben als das, ohne das auch er "lieber nicht leben will" - und ohne das er, im Gegensatz zu Macht und Reichtum, übrigens auch gar nicht leben kann. In dieser Übersetzung wird zuhanden des königlichen Vaters jene übertragene Dimension freigesetzt, die in der schicksalhaften Antwort zu Beginn bereits angelegt war. Rückwirkend wird der gesamte Text darauf hin perspektiviert, wenn es an dessen Ende heißt, dem reumütigen König sei das Wiedersehen mit der totgeglaubten Tochter "lieber" gewesen "als sein Königreich und alle Edelsteine der Welt" - werden doch damit die Gleichniswörter wiederholt, mit denen die beiden älteren Schwestern die jüngste und ihr Salz übertrumpft hatten. Aus dem internen Wettstreit der Gleichniswörter hat sich das Salz indes nunmehr zurückgezogen: Es heißt nirgends, der König habe es am Ende lieber gehabt als sein Königreich oder alle Edelsteine und Perlen auf der Welt, mit denen es zu Beginn zu konkurrieren hatte - wie im Text auch nicht aufgelöst wird, was denn nun für die beiden anderen Prinzessinnen mit ihren Schmeicheleien tatsächlich herauszuholen gewesen war. Mehr als alle königlichen Privilegien und Besitztümer gilt dem Vater zuletzt aber das unvermutete Wiedersehen mit der Tochter, das vom Salz vermittelt wird, ohne dass es eigens noch einmal genannt würde: Das Salz selbst löst sich im Text, als es den Konflikt zwischen Vater und Tochter löst.
Das Grimmsche Märchen führt auf engstem Raum und in paradigmatischer Weise eine Kontroverse um Lesarten des Salzes vor. Es setzt den ambivalenten Stoff in sein konfliktuöses Zentrum, um aus dessen Diskreditierung und impliziter Rehabilitierung seine erzählerische Spannung zu beziehen. Dabei ereignet sich ein riskantes Spiel aus praktischer Relevanz und assoziativem Mehrwert, das erst am Ende in einer symbolisierenden Geste zugunsten der Tochter entschieden wird, ohne dass der Vater darunter zu leiden hätte. Das gattungskonforme "glückliche Ende" des Märchens wird erst dadurch möglich, dass der Vater seine Blindheit für die Qualitäten jenes Stoffs, in dem ihm die eigene Tochter ihre Liebe bekundet hatte, unter arrangiertem Zwang überwinden muss. In der Inszenierung einer Verweigerung des Salzes beim gastfreundschaftlichen Mahl aber entsteht eine symbolische Emergenz, die aus dem Stofflichen hervor- und zugleich darüber hinausgeht: Das Salz wird am Ende als Chiffre dessen festgeschrieben, ohne das man "lieber nicht leben" will. Die anfängliche Offenheit seiner Lesbarkeit aber bildet das poetologische Movens des Märchens. (...)


Thomas Strässle: "Salz. Eine Literaturgeschichte"
Hanser, 2009. 480 Seiten.
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Das Salz, sagt Peter Handke, gehört wie die Liebe, der Zorn oder der Wahnsinn zu den Wörtern, "mit denen die großen alten Geschichten erzählt wurden und ohne die es keine Geschichten gibt". Um solche großen Geschichten geht es in diesem Buch: In fünf thematischen Kapiteln - Natursalze, Glaubenssalze, Sprachsalze, Körpersalze und Beziehungssalze - verfolgt Thomas Strässle die Spur, die das weiße Gold durch die Literaturgeschichte zieht - von den Anfängen bis in die Gegenwart: vom Alten Testament bis Paul Celan, von Homer bis Dürrenmatt, von Cicero bis Peter Weiss. Dabei zeigt sich ein unerhörter Reichtum an Bedeutungen, die die literarischen Texte dem elementaren Stoff zuschreiben.