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In Künstlerkreisen herrschte damals während der sogenannten verrückten zwanziger Jahre und noch bis zum Zweiten Weltkrieg eine ganz erhebliche Freiheit der Sitten. Aber das große Ziel, das, worauf es immer ankam, war und blieb der Mann. Man brauchte sich nur
Colette anzuschauen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter an ihrem sechzigsten Geburtstag (selbstverständlich war sie im Sternzeichen des Widders geboren) triumphierend nach Hause kam und zu meiner Schwester und mir sagte: "Ich hoffe sehr, dass ihr es eines Tages macht wie ich: die Liebe mit sechzig! Nehmt euch gefälligst ein Beispiel!"
Ihre Liebhaber, normalerweise Schriftsteller oder Maler, standen in Korrespondenz mit ihr, widmeten ihr Gedichte, schickten ihr Blumen, Geschenke, Zeichnungen ...
Das Telefon hat alle diese Dinge abgetötet. Ich nehme an, sie wusste, wie man diesen Männern die Komödie der Liebe vorspielt. Damals waren viele Frauen frigid, schließlich gab es keine sexuelle Aufklärung, und Erfahrungen waren rar. Aber letztlich war das den Männern gar nicht so unangenehm. Diese Frauen machten ihnen weniger Angst als die anderen, die sie als "Nymphomaninnen" bezeichneten. Erotischer Appetit, Sinnlichkeit bei Frauen, und vor allem bei Ehefrauen, haben die Männer doch immer erschreckt.
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(Aus "Leben heißt frei sein" von Benoîte Groult. Droemer. 1998. ISBN 3-426-19446-5. Die Leseprobe wurde freundlicherweise vom Verlag zur Verfügung gestellt) Buch bestellen