(...)

Chor
Von einem Sterblichen stammst du, Elektra! Bedenke es! und sterblich war Orest! Drum klage nicht zu sehr! Uns allen steht dies auch bevor!

Orest (der Elektra während ihrer Rede erkannt hat)
Weh mir! was sage ich? Wie ratlos ist mein Wort! Bezähmen kann ich meine Zunge länger nicht!

Elektra
Welcher Schmerz hat dich erfaßt? was sprichst du so?

Orest
Ist dies Elektras herrliche Gestalt?

Elektra
Sie ist's! und trostlos steht's um sie!

Orest
Ach, wie unselig ergriff dich das Geschick!

Elektra
Du klagest, Fremder, doch nicht um mich?

Orest
O herrlicher Leib! so unwürdig und gottlos zerstört!

Elektra
Sprichst du so bitter, Fremder, von keiner anderen als mir?

Orest
Weh deiner kummervoll und ehelos verlebten Zeit!

Elektra
Was blickst du, Fremder, mich so seufzend an?

Orest
Ich ahnte nichts von meiner Not!

Elektra
Wie lehrten meine Worte dich's?

Orest
Gezeichnet seh ich dich von vielen Leiden!

Elektra
Und siehst doch wenig nur von meinen Übeln!

Orest
Wär's möglich, noch ärgere zu schaun als die?

Elektra
Da ich zusammen mit den Mördern leb -

Orest
Wessen Mördern? Worauf deutest du?

Elektra
Des Vaters! - Und gezwungen dien ich ihnen!

Orest
Welcher Mensch unterwirft dich solchem Zwang?

Elektra
Mutter heißt sie! doch gleicht sie einer Mutter nicht!

Orest
Wodurch? Mit Händen, Mangel und jeder Not?

Elektra
Mit Händen, Mangel und jeder Not!

Orest
Und niemand, der helfen und es hindern könnte?

Elektra
Nein, denn der einzge der mir war, den brachtest du als Asche heim!

Orest
Ach, Unglückselige, wie beklag ich dich!

Elektra
Als einziger von allen Menschen erbarmst du dich!

Orest
Weil ich als einziger am gleichen Übel leide!

Elektra
So bist du doch nicht etwa unseren Geschlechts, uns blutsverwandt?

Orest (auf den Chor deutend)
Ich würd es sagen, wären diese wohlgesinnt.

Elektra
Sie sind's! du redest vor Vertrauten!

Orest
So stell beiseit den Aschekrug und hör es an!

Elektra
Nein, bei den Göttern, Fremder! tu mir dies nicht an!

Orest
Folg meinem Wort, und fehlen wirst du nicht!

Elektra
Nein! bei deiner Wange! nimm mir nicht mein Teuerstes!

Orest
Laß es, sage ich!

Elektra
Weh mir Unglückseliger, um dich, Orest! man beraubt mich deines Grabs!

Orest
Nicht solche Klage! du sprichst nicht recht!

Elektra
Wie, klag ich um den toten Bruder nicht zu recht?

Orest
Es ziemt dir nicht, derart von ihm zu reden!

Elektra
So unwürdig bin ich des Toten?

Orest
Nicht unwürdig, doch trifft's dich nicht! (er ergreift die Urne, die sie noch festhält)

Elektra
Wenn doch Orests Leib in meinen Händen ruht!

Orest
Nicht des Orests! nur zum Schein so hergerichtet!

Elektra
(überläßt ihm die Urne) Wo aber dann ist das Grab des Unglückseligen?

Orest
Nirgends! denn wer lebt, der braucht kein Grab!

Elektra
Was sagst du, Jüngling?

Ores
Ich lüge nicht!

Elektra
So lebt der Mann?

Orest
Wenn Leben ist in mir!

Elektra
Du? - du bist es?

Orest
Betrachte hier des Vaters Siegel, und sieh, ob ich die Wahrheit sprach!

Elektra
O liebstes Licht!

Orest
Ja, gewiß das liebste mir! Elektra: O Stimme! So kamst du denn?

Orest
Hör sie von andern nicht!

Elektra
Hält meine Hand dich wirklich fest?

Orest
Wie sie mich künftig immer halten soll!

Elektra
O liebste Fraun, ihr Bürgerinnen! Seht hier Orest, der erst durch schlaue List verstarb, und listig sich gerettet hat!

Chor
Wir sehn es, Kind! und Tränenflut entschleicht bei solcher Fügung unsrem Aug'!

Elektra
O teurer Sproß! Sproß des mir liebsten Stammes! Du kamst, du fandest, sahst, die du ersehntest!

Orest
Ich kam! doch schweige still und warte!

Elektra
Warum?

Orest
Besser, du schweigst, damit uns drinnen niemand hört!

Elektra
O nein! bei Artemis, der Unbezwungenen! Niemals will ich zittern vor der unnützen Last der Weiber dieses Hauses!

Orest
Bedenke, daß auch in Weibern Ares lebt! Du weißt es gut, da du es selbst erfahren!

Elektra (aufschluchzend)
O wehe, o Götter, wehe! Du erregst unverhüllt unser nimmer zu tilgendes, nimmer zu lassendes Leid!

Orest
Ich weiß! doch erst wenn die Gegenwart es rät, ist dieser Dinge zu gedenken!

(...)


(aus "Elektra" von Sofokles;
übersetzt von Wolfgang Peter)
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