Ewald Plachutta, Christoph Wagner: "Die 100 klassischen Gerichte Österreichs"

Das kulinarische Erbe Österreichs


Ewald Plachutta und Christoph Wagner bewahren 100 klassische Gerichte

Die Gaumenfreuden, welche die österreichische Küche über die Jahrhunderte hervorgebracht hat, sind ein (Welt-)Kulturerbe, dessen Erhaltung sicherlich weitaus weniger Kontroversen auslöst als so manches historisches Stadtbild. Unumstritten ist die Tatsache, dass sich die Kultur eines Landes nicht nur in der bildenden und angewandten Kunst, der Musik und dem Theater, der Architektur und Literatur manifestiert, sondern auch auf dem Gebiet der Kochkunst. Für Museen, Bibliotheken, Bühnen und Konzertsäle nicht geeignet, lassen sich kulinarische Leistungen am besten in Form eines Kochbuches für kommende Generationen bewahren.

Auf Initiative des "Kuratoriums zur Erhaltung des kulinarischen Erbes Österreichs" haben Ewald Plachutta und Christoph Wagner den Versuch eines "kulinarischen Denkmalschutzes" unternommen und die "100 klassischen Gerichte Österreichs" in einem opulenten Band gesammelt.

Unterstützt wurde das bekannt-bewährte Herausgeberduo von einer hochkarätigen Fachjury aus allen Bundesländern, der u.a. Jaroslav Müller, über Jahrzehnte Chefkoch des Hotel Sacher, Franz Josef Wagner vom Hotel Waldhof in Fuschl und Karl Schuhmacher, als langjähriger Chef-Pâtissier der Kurkonditorei Oberlaa Experte für die süße Küche, angehörten. Bei der Auswahl aus deren Vorschlägen stießen Wagner und Plachutta ob der zahlreichen, oft unverzichtbaren Variationen von Gerichten schnell an die Grenzen der "magischen Zahl" 100. Einige der Grundrezepte wie etwa für Rostbraten oder Gulasch wurden daher um ihre wichtigsten Abwandlungen und kurze Informationen zu Herkunft und Geschichte ergänzt.

Kalte Vorspeisen, Suppen, ein paar Salate, deftige Zwischengerichte und Fisch, aber auch Innereien, Geflügel, Fleischspeisen und natürlich zahlreiche warme Mehlspeisen sowie kalte Desserts, Torten und Kuchen umfasst diese die Vielfalt heimischer Esskultur repräsentierende Zusammenstellung. Aus allen Regionen zwischen Boden- und Neusiedlersee stammen die Rezepte, doch Gerichte wie Szegediner Gulasch, Zwiebellékvár, jiddische Hendlleber oder Karpfen auf kroatische Art weisen deutlich auf die in der Donaumonarchie wurzelnde multikulturelle Herkunft der "österreichischen" Küche hin.

Die meisten dieser altbekannten Köstlichkeiten behaupten auch heute ihren festen Platz im heimischen Küchenkosmos. Bei aller neu entdeckter Liebe zu Sushi und Tiramisu - ohne die traditionelle Landesküche wäre das Welt- und Selbstbild von Herrn und Frau Österreicher nicht komplett. Das Wiener Schnitzel ist und bleibt hierzulande immer noch die unumstrittene Lieblingsspeise, die Sachertorte wird als bester Botschafter im Ausland gesehen, klassisch zubereitetes Rindfleisch macht den Erfolg von Plachuttas eigenen Restaurants aus, und die steigende Beliebtheit von bodenständigen Gasthäusern lässt darauf schließen, dass Schweinsbraten, Krautfleckerln, Topfenstrudel & Co nicht so schnell von den heimischen Speiseplänen verschwinden werden.

Doch zugleich geht in Zeiten der kulinarischen Globalisierung und der Lebensgewohnheiten, die auch in der Küche wenig Raum für Althergebrachtes lassen, das praktische Wissen um die Zubereitung vieler in der Familie überlieferter Spezialitäten nur allzu leicht verloren. Fischbeuschelsuppe, Bohnensterz, gebackener Kalbskopf, Rahmherz, Liwanzen oder Wiener Wäschermädeln - was die Großmutter noch täglich kochte, ist dem Enkelkind oftmals nur noch von der vagen Erinnerung an Glücksmomente (oder auch Protestgeschrei) bei Tisch ein Begriff.

Die Rezepte dieses kulinarischen Kanons und die für sie notwendigen Zubereitungsarten bewahren nicht nur ein schmackhaftes Stück Alltagsgeschichte, sondern auch traditionelle, wenngleich manchmal ein wenig obsolet erscheinende Kulturtechniken. Denn obwohl die Autoren die Kunst des "Krendelns", also die Fähigkeit, "den Rillenrand der [Kärntner] Nudel mit flinken Fingern aus dem Handgelenk heraus ornamental zu formen", immer noch zu einem essenziellen Bestandteil der Hausfrauenehre in Österreichs südlichstem Bundesland zählen, mag der alte Spruch "A Kärntnerin, die wos net krendeln konn, die kriagt kann Monn" in unseren Tagen glücklicherweise wohl doch keine allgemeine Gültigkeit mehr haben.

(sb; 02/2004)


Ewald Plachutta, Christoph Wagner:
"Die 100 klassischen Gerichte Österreichs"

Deuticke, 2003. 208 Seiten mit zahlreichen Farbfotos.
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