Adelheid Dahimène, Heide Stöllinger: "Die seltsame Alte"

"Ich spiel dir auf deinen Fesseln ein Lied vor. Du kannst dann die Tonleiter hochklettern und ins Freie hüpfen."


Die Alte und das Mädchen. Ob Donnerstag-Nachmittag schon Grund genug ist - es wird nicht gesagt - die Türe geht einfach auf, und die seltsame Alte kommt herein. "Wie geht es deinen zehn Puppen? Und was ist mit deinen sieben Bällen? Beim "Mensch-ärgere-dich-nicht", hast du da endlich gewonnen? Und wohin sind deine drei aufregenden Brüder verschwunden?"

Seltsam, das ist diese Alte sehr. Und nicht nur das Aussehen - an dieser Stelle gleich eine Verbeugung in Richtung Illustratorin Stöllinger, das ist eine reale alte Frau, kein geschönter Körper, kein schickes Kleid, stattdessen wundervolle Runzeln, solche zum Lächeln neben den Augen und solche die einen schmalen, aber verschmitzt dreinblickenden Mund machen können - sondern auch das Verhalten. Kommt zu Beginn der Geschichte einfach so und verschwindet am Ende genauso geheimnisvoll wieder. Stellt einfach Fragen, die klingen zwar nach dem typischen Ausfratscheln der Erwachsenen und sind doch ganz andere Fragen! Eine gute Abwechslung ist das Fadenspiel, das die seltsame Alte mitbringt, obwohl sie immer so lange braucht, bis ihr die nächste Abnehmefigur einfällt.

Eine grandiose Erzählung von Jung und Alt. Von der Langeweile und der Zeit. Und von Aufmerksamkeit und Nähe. Es ist ganz egal, wer die Alte ist, wichtig ist, dass sie da ist und wieder kommen wird. Wichtig ist, dass sie Zeit hat. Und auch Zeit braucht, weil sie alt ist. Das Mädchen - die Erzählung ist übrigens in Ich-Form seitens des Mädchens geschrieben - kann mit diesem Gegenüber all ihre belastenden und unangenehmen Empfindungen verarbeiten. Den Überfluss der zehn Puppen hat sie ja satt, und die sieben Bälle hat sie mit Fußtritten in alle Windesrichtungen zerstreut, die Kegel des "Mensch-ärgere-dich-nicht" hat das wohl etwas explosive Temperament hinweggefegt, und die Brüder sollen froh sein, dass sie nicht in der Nähe sind. Das Mädchen hat die Alte ganz alleine für sich. Parallel zu den Fäden des Gespräches beginnt das Fadenspiel - (Faden und Anleitung im Anhang inklusive!) - und das Zaubern der Finger geht los.

Die Mimik des Mädchens ist von da an entspannt. Sie und die Alte blicken sich in die Augen. Oder schließen sie sogar und warten, aus den Fesseln des Spieles vom Gegenüber erlöst zu werden. Ganz konzentriert ist das Mädchen nun und innerlich ruhig. Das hat die Alte für sie getan. Das junge Mädchen kann auch etwas für die Alte tun. Was für den Einen die geistige Beruhigung ist, ist für den Anderen die körperliche Entspannung: ein Fußbad. Das ist für mich eine der größten Szenen in dieser Geschichte, die körperliche Annäherung von Jung und Alt:
"Die Alte zupfte an den Schnursaiten, dabei schleichen sich meine Füße die Eimerwand hinauf und stürzen sich von oben ins Wasser neben die Füße der Alten."
Die Sprache Dahimènes ist punktgenau, klar und aufrichtig. Das "Dahinterleben" der Sätze ist das eigentliche Geschehen der Geschichte. Kongenial dazu die Bilder ihrer Kunstpartnerin Stöllinger. Der Hintergrund braun, die Alte rot, das Mädchen grünlich. Was hier nach "Unfarben" klingt, ist ebenfalls Erzähltechnik. Braun: alles läuft ruhig und gelassen ab, ungewöhnlich aber warm und freundlich, eher ein wenig altmodisch, als bunt und modern. Rot: das Alter ist bereits genau definiert; die Farbe kann gefallen oder auch nicht, sie ist eindeutig, sie bekennt Farbe. Grün: das Mädchen ist das Gegenteil zur Alten; jung, stürmisch im Temperament und noch wenig gefestigt - daher lichtgrün, dafür aber sanfter in der Erscheinung und zarter.

Zwei außergewöhnliche Autorinnen denen nach "ESEL" ein weiteres aus dem Rahmen fallendes Buch gelungen ist. Ich empfehle es allen und jedem! "Ab 4 Jahren" steht auf dem Cover, mag sein, es zielt aber vielleicht eher auf die Altersgruppe des in der Geschichte dargestellten Mädchens: ein Kind knapp vor der Pubertät. Ein Bilderbuch für 8- bis 13jährige also?!

(Die Prinzessin; 10/2003)


Adelheid Dahimène, Heide Stöllinger: "Die seltsame Alte"
NP Verlag, 2003. 32 Seiten. (Ab 4 J.)
ISBN 3-85326-273-2.
ca. EUR 14,90.
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