Hans de Beer: "Leonardos großer Traum"

Eine moderne Fabel, die nicht nur Kinder zum Träumen anregt


Mit "Leonardos großer Traum" ist es Hans de Beer gelungen, die Erwartungen, die der Leser seit "Kleiner Eisbär" oder "Ich bin MäuseKatzenBärenStark" an ihn stellt, voll und ganz zu erfüllen. Auch hier unterstreichen wieder reizende Bilder eine wunderschöne Geschichte, und ganz nebenbei kann der kleine, aber auch der große Leser etwas lernen.

Leonardo ist ein kleiner Pinguin, der mit seinen Artgenossen am Südpol lebt. "Meine Freunde nennen mich Leo", sagt er jedem. Doch eigentlich hat Leonardo keine Freunde. Leonardo ist anders als die anderen Pinguine. Er hat keine Lust zu schwimmen, Wasser ist ihm nicht geheuer. Sein großer Traum ist es, zu fliegen. Jeden Tag überprüft er, ob seine Flügel gewachsen sind, und er nun endlich seinen großen Traum verwirklichen kann. Doch vergebens. Die anderen Pinguine interessieren sich nicht für seinen Traum. Sie verspotten ihn und haben kein Interesse an seinen Flugversuchen.

Doch eines Tages sieht Leonardo einen großen Vogel lautlos am Himmel schweben. Als der Vogel landet, schließt Leo sofort Freundschaft mit ihm. Eingehend betrachtet er die langen schmalen Flügel von Albatross Otto. Eines Tages will er auch solche Flügel haben. Otto meint, dass das noch einige Jahre dauern könnte. Doch so lange will Leonardo nicht mehr warten. Er baut sich seine Flügel selber. Sein Flugversuch mit den neuen Flügeln endet, wie könnte es anders sein, in einer Schneewehe. Doch hier macht er eine erstaunliche Entdeckung. Er findet eine Flugmaschine. Zusammen mit Otto schaufelt er sie frei und macht sie flugbereit. Nun endlich zeigen auch die anderen Pinguine Interesse, und mit Leo als Pilot und Ottos Hilfe wird Leonardos großer Traum endlich Wirklichkeit. Endlich kann er fliegen. Dass sein erster Flug auch sein letzter ist, stört ihn nicht. Einmal in seinem Leben zu fliegen genügt ihm voll und ganz. Die anderen Pinguine akzeptieren den "fliegenden Leo" nun, und er lernt zu schwimmen, mit seinen "echten Schwimmflügeln".

"Leonardos großer Traum" ist mehr als nur eine nette Geschichte für Kinder. Es ist ein Kinderbuch, das gerade uns Erwachsene daran erinnert wie wichtig es ist, an Träume zu glauben, so unwahrscheinlich uns deren Verwirklichung auch erscheinen mag. Jedes Kind ist ein Leonardo und träumt davon, eines Tages etwas wirklich Besonders zu erleben. Doch wie oft verhalten wir uns nicht besser als eine schnatternde Pinguinherde, die sich weigert, Träume zu akzeptieren? "Leonardos großer Traum" hält uns einen, wenn auch sehr nett gezeichneten, Spiegel vor. Jeder Traum ist es wert, geträumt zu werden. Egal ob man nun mit einem Teppich um die Welt fliegen oder im Garten einen längst vergessenen Schatz entdecken will. Und wenn wir nur fest genug daran glauben, wird jeder Traum wahr werden, und sei es nur für einen Tag.

Was mir auch sehr gut gefallen hat, ist die Art und Weise, wie Hans de Beer seinen Figuren einen Charakter gibt, der wie in allen Fabeln seine Entsprechung in der Welt der Menschen findet.
Leonardo ist ein Träumer, der sich von der Masse unterscheidet. Er ist anders als die anderen Pinguine und wird deshalb zum Außenseiter. Doch so traurig ihn das auch macht, er lässt sich trotzdem nicht von seinem Weg abbringen. Und nur dieser Entschlossenheit ist es schließlich zu verdanken, dass er und die anderen Pinguine schließlich doch noch fliegen.

Die anderen Pinguine sind eine eingeschworene Gemeinschaft, in der jemand, der nicht das Einheitsziel der Erde verfolgt, keinen Platz hat. Es ist ihnen unbegreiflich, dass Leonardo nicht schwimmen will, und noch viel schlimmer erscheint ihnen sein Wunsch, zu fliegen. Wenn die Pinguine bis jetzt nie geflogen sind, was soll es dann bringen? Wenn etwas bis heute immer so war, warum soll man dann einem kleinen Pinguin erlauben, es anders zu machen?

Albatross Otto hat nicht nur in der Luft den besseren Überblick. Er erlaubt Leonardo, wenn zunächst auch schmunzelnd, an seinen Traum zu glauben. Otto sagt nicht "das geht nicht" oder "das kann nicht funktionieren", als Leo sich seine eigenen Flügel baut. Er mag den kleinen Pinguin, der sich von der Masse abhebt. Und das genügt ihm, um an Leonardos großen Traum zu glauben.

Die Bilder in "Leonardos großer Traum" sind einfach hinreißend. Jeder, der schon einmal Skizzen von Leonardo da Vincis Flugmaschinen gesehen hat, wird schmunzeln, wenn er sie in Leonardos selbstgebauten Flügeln wiedererkennt. Leonardo und die anderen Figuren in Hans de Beers Buch haben wieder eine eigene Mimik, in der sich unsere Mitmenschen und manchmal auch wir selbst widerspiegeln. Dieser Effekt wird dadurch, dass sich die einzelnen Figuren miteinander wie Menschen unterhalten, noch unterstrichen. Dadurch wird das Buch sowohl für Kinder als auch für Erwachsene zum wahren Lesevergnügen.

"Leonardos großer Traum" ist meiner Meinung für Kinder ab dem Kindergartenalter zu empfehlen. Durch die relativ große Schrift eignet es sich auch zum selber Lesen für Volksschüler. Und natürlich ist das Buch auch für jeden Erwachsenen, der verträumte, aber doch kritische Fabeln mag, genau das Richtige.

Fazit: Ein wirklich wunderschönes Buch, das uns alle daran erinnert, wie wichtig Träume sind. Wäre Leonardo ein Mensch, würde er da Vinci, Lilienthal oder Cousteau heißen. Und wir alle sollten hin und wieder daran denken, dass wir vermutlich noch in Höhlen sitzen und, weil wir das Feuer nicht kennen würden, frieren würden - hätte es nicht immer schon Träumer gegeben, die das Unerreichbare erreichen wollten. Denn es sind immer die Träumer, die Neues erreichen und Unmögliches möglich machen. Wir müssen ihnen nur die Gelegenheit dazu geben.

(Anna Mehlmann; 10/2003)


Hans de Beer: "Leonardos großer Traum"
Nord-Süd, 2003. 28 Seiten. 
ISBN 3-314-01367-1.
ca. EUR 12,80. Buch bestellen