Avram Kantor: "Die erste Stimme"
Ich und mein Bruder - mein Bruder und ich
Der
1950 in Haifa geborene Verleger und Übersetzer Avram Kantor
ist ein in Israel seit vielen Jahren sehr geschätzter Autor
von zahlreichen Romanen und Jugendbüchern. In dem hier
vorliegenden, von Mirjam Pressler wieder einmal hervorragend
übersetzten Jugendbuch setzt sich Avram Kantor in einer auch
für die deutschsprachigen jungen Leser sehr
verständlichen Weise mit einem innerisraelischen Problem
auseinander und verbindet es gleichzeitig mit dem Thema eines Jungen,
der nicht sprechen kann, selbst aber sehr wohl seine Stimme
hört und versteht.
Er ist ein Junge, von dem alle seit seinen Kindertagen glauben, dass er
weder hören noch sprechen könne. Seine Eltern, beide
sehr gebildet und der oberen Mittelschicht angehörend, so wie
viele in Israel religiös eher indifferent, aber mit Feuer und
Flamme für den eigenen Staat einstehend, wobei die Armee
selbstverständlich vor allem für seinen Vater eine
fast unantastbare Rolle spielt, wollen sich damit nicht abfinden. Vor
allem die Mutter des Jungen hat fast alles gelesen, was es zu diesem
Thema auf dem Büchermarkt gibt, hat alle Ärzte
abgeklappert und alle besonderen Therapien ermittelt, die ihrem Sohn
helfen könnten. Dem Vater wird das oft etwas zu viel, doch im
Prinzip ist er immer dabei, wenn die Mutter etwas Neues entdeckt, was
ihrem Sohn vielleicht zum Hören und Sprechen verhelfen
könnte.
Was sie alle seit Jahren nicht wissen: Er kann sehr wohl
hören. Er kann sogar seit langem verstehen, worüber
die Erwachsenen und sein großer Bruder Kobi sich unterhalten.
Und er hat sich über die Zeit bei seinen Geschwistern das
Lesen und Schreiben abgeschaut. Dabei hat auch geholfen, dass er dann,
wenn Kobi nicht zu Hause in seinem Zimmer ist, dessen Computer
für Spiele benutzen darf. Was niemand weiß, ist
allerdings, dass sich der Junge langsam in die Programme einlernt und
den Liens folgt, die sein Bruder Kobi benutzt.
Mit diesem Kobi versteht sich der Junge, der die ganze Geschichte in
der Ich-Form erzählt, sehr gut. Kobi kann ihn verstehen, auch
ohne Worte. Deshalb ist der Junge auch sehr besorgt, als er aufgrund
seiner enormen Sensibilität als Erster gewisse
Veränderungen an Kobi bemerkt. Kobi ist im Internet auf eine
Seite einer ultraorthodoxen jüdisch-messianischen Sekte
gestoßen und beginnt sich dafür zu interessieren. Er
konfrontiert seine Eltern mit bestimmten jüdischen Regeln und
Geboten für den Haushalt und das gemeinsame Leben, aber die
begreifen noch nichts und halten es für eine
vorübergehende Marotte ihres ältesten Sohnes. Zu
diesem Zeitpunkt weiß der Junge wegen des Aufrufens der
Seiten, die Kobi besucht hat, schon ganz genau, womit dieser sich
beschäftigt, und er spürt, wie es das Wesen seines
Bruder verändert. Er kann es intellektuell noch nicht richtig
beurteilen, aber er spürt genau, dass Kobi in eine Richtung
unterwegs ist, die ihm nicht gut tut.
Als Kobi eines Tages zum ersten Mal verschwindet und nach einem Besuch
bei den
Ultraorthodoxen sehr verändert zurückkommt, begreift
der Junge als Erster in der Familie, dass etwas unternommen werden
muss, um Kobi zurückzuholen. Und obwohl der Junge sich in
seinem Kokon sehr wohl fühlt und die Vorteile
genießt, die es mit sich bringt, dass die Anderen nicht
wissen, was er eigentlich kann, beschließt er, diesen
Schutzraum zu verlassen, aus seiner stillen Welt auszubrechen und Kobi
zu helfen. Er folgt seinem Bruder in ein von den Eltern
zähneknirschend akzeptiertes Ferienlager der Orthodoxen und
konfrontiert Kobi auf bewundernswerte Weise mit sich selbst.
Sie behalten aber danach ihr kleines Geheimnis für sich. Erst
nach mehr als einem Jahr, als das Buch, das der Junge danach
über seine Erlebnisse geschrieben hat, mit Kobis Hilfe
veröffentlicht worden ist und auf dem Tisch der Eltern liegt,
wird das Geheimnis gelüftet.
Bei "Die erste Stimme" handelt es sich um einen Roman über
einen bemerkenswerten Jungen und ein Buch über die besondere
Rolle der Religion in Israel. Nach
Gila
Almagors "Alex, Dafi und
ich" wieder ein hervorragender Jugendroman aus Israel bei
Hanser Kinderbuch.
(Winfried Stanzick; 03/2008)
Avram
Kantor: "Die erste Stimme. Ich und mein Bruder - mein Bruder und ich"
Übersetzt aus dem Hebräischen
von Mirjam
Pressler.
Hanser Kinderbuch, 2008. 208 Seiten. (Ab 12 J.)
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