Gila Almagor: "Alex, Dafi und ich"

Roman über die Freundschaft


Seit langem habe ich kein so schönes und anrührendes Buch mehr gelesen. Gila Almagor ist eine Schriftstellerin aus Israel, wo dieses wunderbare Jugendbuch auch spielt. Sie ist dort seit über 25 Jahren ehrenamtlich tätig in der Betreuung und Begleitung von krebskranken Kindern und ihren Familien. Diese ganze schwere und zutiefst menschliche Erfahrung ist in ihr neues Buch eingeflossen. Es ist ein Buch über wirkliche Freundschaft und über das Abschiednehmen. Und es ist ein Buch über das Geheimnis, wie Eines mit dem Anderen zusammenhängt, dass man einem anderen Menschen erst wirklich nahe sein kann, wenn man ihn loszulassen vermag.

Alex Lerner war mein Freund, Alex Lerner war mein bester Freund. Ich glaube, ich werde nie wieder einen so guten Freund haben wie ihn.
Ich sitze am Tisch, rühre das Essen nicht an und denke nur an ihn, an Alex, und mein Vater sagt: "Ich weiß, Junge, was dir im Kopf rumgeht, aber du bist noch ein Kind, und mit der Zeit wirst du andere Kinder kennen lernen und neue Freunde haben. Du wirst sehen, wie viel Freunde du noch haben wirst. Schließlich bedeutet hier, bei uns, Freundschaft etwas ganz anderes als in anderen Gesellschaften..." Ich schweige und mein Vater fährt fort: "In Israel schließen die Leute vor allem in der Armee Freundschaften, in den Kriegen und bei den Wehrübungen", und ich nicke, als Zeichen, dass ich ihm zuhöre, obwohl ich am liebsten aufstehen und weggehen würde, aber es ist nicht höflich, aufzustehen und zu sagen: Lass mich in Ruhe, Papa, ich will dir nicht zuhören, mir ging es gut mit meinen Gedanken an Alex, ich sehe ihn vor mir, und ich erinnere mich an die schönen Momente, die ich nie vergessen möchte.
(Aus dem Roman)

Avner Magan ist zwölfeinhalb Jahre alt. Er lebt als Einzelkind mit seinen Eltern in Tel Aviv. Sein Vater ist Jurist und lehrt als Professor an der Universität. Auch seine Mutter ist vom Fach und arbeitet bei Gericht. Avner spürt schon seit längerer Zeit, dass die Beziehung zwischen seinen Eltern kriselt, und es macht ihm Angst. In jenen Szenen, in denen Almagor die Gedanken und Gefühle Avners seinen Eltern gegenüber beschreibt, zeigt sie mit viel Gespür, wie sensibel und differenziert, aber auch mit wie viel Übernahme von Verantwortung Kinder reagieren, um die Beziehung ihrer Eltern zu retten.

Avner spürt aber schon früh, dass er machtlos ist. In diesen Abschnitt seines Lebens schneit von heute auf morgen ein Mensch in seinen Alltag, mit dem ihn über acht Monate eine Freundschaft verbinden wird, die Ihresgleichen sucht. "Alex Lerner war mein Freund, Alex Lerner war mein bester Freund. Ich glaube, ich werde nie wieder einen so guten Freund haben wie ihn."

Alex Lerner, mit seinen Eltern aus Russland nach Israel ausgewandert, lebt mit seiner Mutter allein in einer kleinen Wohnung, nachdem sich sein Vater von seiner Mutter scheiden ließ und mit einer anderen Frau nach Amerika gegangen ist. Er kann deshalb seinem Freund Avner im weiteren Verlauf der Handlung Avner gute und hilfreiche Tipps geben, als dessen Vater wegen einer anderen Frau die Familie verlässt und Avner darüber bald verrückt wird.

Kaum hat sich Alex Lerner etwas bei seinen Mitschülern eingelebt und kaum haben ihn diese mit Hilfe der wundervollen Lehrerin Noga als einen der Ihren aufgenommen, bricht er beim Sport zusammen und kommt ins Krankenhaus. Diagnose: Alex hat Krebs. Nun beginnt die wirkliche Bewährungsprobe einer Freundschaft zwischen drei Kindern (Jugendlichen), in der jeder den Anderen auf seine Weise liebt, so stark und intensiv, wie man in diesem Alter nur lieben kann. Alex, das Mädchen Dafi und eben Avner, der lernt, seine Freundschaft zu den Beiden über seine eigene Liebe zu Dafi zu stellen.

Gila Almagor schildert zunächst den Kampf der Lehrerin Noga um die Kinder in ihrer Klasse und um ein menschliches Klassenklima, dann den Kampf von Kindern und Erwachsenen gegen Alex' Krankheit mit einer Sprache und Einfühlsamkeit, die mich sehr angerührt hat. Über viele Seiten sind mir beim Lesen Tränen der Betroffenheit das Gesicht hinuntergeflossen. Ich habe versucht nachzuspüren, woher eine solche starke Emotion kommt, und habe herausgefunden, dass es nicht die Krankheit und der tapfere Kampf der beschriebenen Menschen dagegen war, sondern die innere Haltung dieser Menschen, die in einem Land leben, das sich quasi in einem permanenten Kriegszustand befindet und dessen Kinder täglich in ihren Schulen und Bussen von tödlichen Terroranschlägen bedroht sind. Eine innere Haltung, die viel Menschlichkeit ausstrahlt, viel Hoffnung auf das Mitgefühl setzt. An manchen Stellen habe ich mich kritisch gefragt: Hatte Gila Almagor Vorbilder für ihre Figuren? Gibt es eine solche Lehrerin wie Noga? Gibt es zwölfjährige Kinder wie Alex, Dafi und Avner, die so differenziert denken und handeln können?

Gibt es Eltern, die über alle Krisen hinweg den echten Kontakt zu ihren Kindern halten und sie als tatsächliche Lebenspartner mit eigenen Zielen und eigenem Willen sehen können?

Als Vater eines zweijährigen Sohnes hoffe ich, dass es solche Menschen wirklich gibt. Ich wünsche es ihm und ich wünsche es mir selbst, dass wir zu solchen Menschen werden können und auch solchen begegnen auf unserem Lebensweg. Ich wünsche mir gelingendes Leben, auch wenn sich der Tod dazwischen stellt.

Ein Buch, das solche Gefühle und Wünsche, solche Gedanken und Sehnsüchte auslöst, kann man nur weiterempfehlen.

(Winfried Stanzick; 10/2005)


Gila Almagor: "Alex, Dafi und ich"
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler.
Hanser, 2005. 222 Seiten. (Ab 12 J.)
ISBN 3-446-20644-2.
Buch bei Libri.de bestellen
Buch bei amazon.de bestellen