Das Dorf der wilden Kinder -


Augen gab es viele im Adlernest: Einige waren wunderbar - es gab ein Mädchen mit einem blauen und einem grünen Auge, was teilweise Bewunderung und teilweise eine Art Zurückschrecken auslöste - andere groß, viele normal, die meisten recht neugierig.
Mit den Namen war es so: Auf Grund alter Traditionen gab's fast immer fünf oder vielleicht sechs, die ständig zwischen den Fassaden der Gassen widerprallten. Ob dann das gerufene Kind wusste, dass gerade es gemeint war, das ist, glaube ich, heute noch ein nicht gelüftetes Geheimnis.
Meine Kenntnisse der lokalen Sprache waren nicht so ganz genügend: Dialekt sprach man bei mir zu Hause nicht, und oft war die Kommunikation schon ein bisschen erschwert; aber Kinder verständigen sich mit Händen und Füßen, also das Problem war halb so groß. Mit der Zeit habe ich den Dialekt gelernt, und die Kinder im Dorf die Hochsprache: Auf diese Weise hatten wir zwei verschiedene Möglichkeiten miteinander Gedanken auszutauschen. Das Adlernest an der ligurischen Küste war zwar kein Fischerdorf, aber es gab dort schöne farbige Holzboote - auf die man übrigens immer gesprungen ist mit dem Effekt, die in den Booten schlafenden Katzen zu wecken. Diese Boote schwammen alle nebeneinander, an die Mole durch dicke Seile gehängt, und man hatte oft den Eindruck, dass sie einen langsamen rhythmischen Tanz aufführten. Aus tanzenden Nussschalen wurden aber stille Wächter im Trockenen, wenn bei unruhigem Meer alle Boote auf den Platz geschleppt werden mussten, und dort mit den spitzigen Nasen nach vorne bewegungslos liegen blieben: Für uns Kinder war es ein Ereignis, für die Männer die ziehen, tragen und schieben mussten, war es nicht gerade das Lieblingshobby und auch nicht das ersehnte Ende eines Nachmittags.
Unsere Spiele waren einfach und meistens erfunden. Das Dorf bot Sicherheit und - für jene die aus der Stadt kamen - eine ungewöhnliche Freiheit.
Das Wilde stellten eigentlich die schrägen steilen Felsen und Klippen dar, auf denen man kletterte, rutschte, sich verkratzte, rollte, hängen blieb, sprang, kurz an der Sonne saß, oder von deren vorstehenden Spitzen man sich ins Wasser fallen ließ.
Das Wilde war auch das unglaubliche Zutrauen der Fische, welche unsere Füße berührten und sich sogar streicheln ließen, das Kämpfen auf dem kleinen Strand, das Suchen und Sammeln von kleinen farbigen Glasscherben, die das Meer den ganzen Winter lang hin und her gerollt hatte und sie damit zu begehrten "Glasedelsteinen" verwandelt hatte (die roten waren die seltensten, dann die violetten, die blauen, die gelben und schlussendlich die für uns Kinder fast wertlosen waren die weißen und grünen Glasstücke).
Das Wilde war die Unbeschwertheit und das Gefühl, dass fast alles erlaubt war.
Das Wilde war jedenfalls sehr, sehr schön.
Ich weiß nicht, ob dieses Dorf, das aus dem Meer emporragte, eigentlich eine besondere Bezeichnung hatte: Dort hat man gelacht, geweint, gestritten, gejubelt, gespielt und geblödelt. Der Sommer war lang, warm, endlos; die Tagen erstreckten sich bis in das Reich des Mondes, der die Sonne bis ins Meer begleitete und ihr sagte, sie solle nicht so schüchtern sein und jedes Mal so knallrot werden. Die Tage verliefen immer anders: Manchmal saßen wir neben schwarz gekleideten alten Frauen, die mit Wolle und Spindel hantierten, und uns merkwürdige Geschichten von Seelen, grauen Katzen, Fegefeuern und Kapuzen erzählten. Manchmal folgten wir brav den traditionellen Prozessionen, die sich von der Kirche am Meer bis zum Friedhof auf dem Hügel bewegten, und wir fragten uns, ob wir auch eines Tages in der Lage sein werden, die riesigen schweren Kruzifixe zu tragen wie die Männer es taten. Manchmal jagten wir Eidechsen, Schlangen, Frösche und Libellen in dem wilden Bach der, sich windend zwischen Wäldern von hohem Schilf, von irgendwo kommend sich in das Meer stürzte. Ab und zu gab es eine Hochzeit oder eine Taufe: Bei diesen Gelegenheiten regnete es Zuckerl, Bonbons und Süßigkeiten aus den Fenstern, und wir rannten hin und her auf der Hauptgasse und versuchten so viele Lutscher wie nur möglich zu ergattern.
Ein außergewöhnliches Abenteuer waren die Nachmittage in einem Mittelmeergemüsegarten. Chaos pur, aber aufregend: Zwischen Salaten, Tontöpfen, flüchtenden kleinen Mäusen, Kletterpflanzen, Steinmauern, Teichen, Treppen, Smaragdeidechsen, Blindschleichen, singenden Vögeln, riesigen Spinnengeweben und prächtigen Blumen spielten wir Jäger und Botaniker, kletterten wir auf Obstbäume, versuchten vergeblich die Goldfische zu fangen, aßen Tomaten und frische Karotten und starteten Wettbewerbe mit den unzähligen Wasserläufern, die sich Zickzack auf der Oberfläche des geheimnisvollen Teiches blitzschnell bewegten.
Könige des Dorfes waren die Katzen: es gab sie in rot, orange, grau, weiß, schwarz, braun, gestreift und dreifarbig. Sie lagen überall zwischen 12 und 15 Uhr, gewunden auf Mauern, gestreckt auf Bänken, gerollt neben Weinfässern, versteckt in den Booten oder in einem Eck eines Innenhofes, am Strand, neben der Kirche, unter blühendem Oleander - aber am liebsten in der Nähe des Fischladens. Sie gehörten niemandem und doch allen, sie lieferten tolle Konzerte in Dur und Moll in den Nachtstunden, bekamen regelmäßig Kübel voll Wasser auf den Kopf, begleiteten Passanten und Hausfrauen die gerade Fleisch gekauft hatten, wurden doppelt so groß wie sie waren, halbkreisförmig und gestreckt, wenn ein Hund sich näherte, oder spazierten mit Gleichgültigkeit in die sicheren Keller. Bei uns Kindern war es nämlich so: Probe Nr. 1: Wer ist schneller? Die Katze gewann immer und flüchtete auf einen Baum. Probe Nr. 2: Wer ist kräftiger? Unsere Hände waren voll verkratzt und die Katze ganz zufrieden. Probe Nr. 3: Wer kann besser schwimmen? Diesmal waren wir die erfolgreicheren und die Katzen, sobald sie das Ufer wieder erreichten, spuckten links und rechts das Salzwasser aus, versuchten durch das Rollen auf dem Boden das Haar wieder trocken zu bekommen, und schauten uns ganz giftig an.
Eines Tages wurde man wach und die Luft roch anders; es war kaum zu spüren, aber sie war doch dichter, irgendwie trug sie nicht mehr leichte schwingende Seide, sondern festere Baumwolle. Auch das Licht schien verwandelt zu sein: Es tauchten Zwischentöne auf, welche das Gesamtbild vertieften und es wie dünne Striche bereicherten. Es kam langsam die Esskastanienzeit, und die Wälder mit den Bäumen der langen Blätter bückten sich mit tausenden hängenden grünen Igeln, voll mit braunen Früchten. Das Rauschen des Laubes war herrlich, die runden glatten Esskastanien lächelten aus ihren glänzenden Lippenstiftmündern, und am Ende der Ernte waren unsere Finger voll mit winzigen Löchern, gerötet und brennend. Und wir Kinder des Mondes, Kinder des Waldes, Kinder des Meeres, Kinder des Baches, Kinder der Felsen und Kinder der Sonne waren gleichzeitig glücklich und traurig, wie bunte Luftballons die fliegen hätten wollen, wenn der undurchsichtige Nylonfaden uns nicht am Boden festgehalten hätte.
Als wir vom Wald zurückkamen, mit den vollen Jutesäcken mit den "castagne felix" auf dem Rücken, sangen wir Kinderlieder und hüpften wie die berühmten Wasserläufer auf dem Teich. Dann fiel ein Blick auf die Weinterrassen: Ocker, Ocker und noch mal Ocker.
Zehnmal verfärbten sich die Traubenblätter rubinrot und kündigten das Ende des Sommers an.
Zehnmal berührten wir die Reben ohne Früchte, als das Dorf nach Most roch.
Zehnmal dachten wir: "Es war eine aufregende Zeit."
Das zehnte Mal aber, da waren wir keine Kinder mehr.


(Dr. Gianni Lorenzo Lercari©)