Der heiße Soldat
Es war keine Kleinigkeit
für die Militärärzte gewesen, alle die verwundeten Fremdenlegionäre zu verbinden.
-- Die Annamiten hatten schlechte Gewehre und die Flintenkugeln waren fast immer
in den Leibern der armen Soldaten stecken geblieben. --
Die medizinische
Wissenschaft hatte in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht, das
wußten selbst diejenigen, die nicht lesen und schreiben konnten, und sie unterwarfen
sich, zumal ihnen nichts anderes übrig blieb, willig allen Operationen.
Zwar starben die meisten, aber immer erst nach der Operation, und auch dann
nur, weil die Kugeln der Annamiten offenbar vor dem Schuß nicht aseptisch behandelt
worden waren, oder auf ihrem Weg durch die Luft gesundheitsschädliche Bakterien
mitgerissen hatten.
Die Berichte des Professors Mostschädel, der sich aus wissenschaftlichen Motiven,
und von der Regierung bestätigt, der Fremdenlegion angeschlossen hatte, ließen
keinen Zweifel daran zu.
Seinen energischen Anordnungen war es auch zu danken, daß die Soldaten wie auch
die Eingeborenen im Dorfe nur noch im Flüstertone von den Wunderheilungen des
frommen indischen Büßers Mukhopadaya sprachen.
Als letzter Verwundeter
wurde lange nach dem Scharmützel der Soldat Wenzel Zavadil, ein gebürtiger Böhme,
von zwei annamitischen Weibern in das Lazarett getragen. Befragt, woher sie
jetzt so spät noch kämen, erzählten sie, daß sie Zavadil wie tot vor der Hütte
des Mukhopadaya liegend gefunden und sodann getrachtet hätten, ihn durch Einflößen
einer opalisierenden Flüssigkeit -- das einzige, was in der verlassenen Hütte
des Fakirs zu finden gewesen war -- wieder zum Leben zurückzubringen.
Der Arzt konnte keine Wunde finden und bekam auf sein Befragen von dem Patienten
nur ein wildes Knurren zur Antwort, das er für die Laute eines slawischen Dialektes
hielt. Für alle Fälle verordnete er ein Klystier und ging in das Offizierszelt.
-- -- --
Ärzte und Offiziere unterhielten sich ausgezeichnet; das kurze, aber blutige
Scharmützel hatte Leben in das alte Einerlei gebracht.
Mostschädel hatte eben einige anerkennende Worte über Professor Charkot -- um
die anwesenden französischen Kollegen sein deutsches Übergewicht nicht allzu
schmerzlich fühlen zu lassen -- beendet, als die indische Pflegerin vom roten
Kreuz am Zelteingang erschien und in gebrochenem Französisch meldete:
"Sergeant Henry Serpollet tot, Trompeter Wenzel Zavadil 41,2 Grad Fieber."
"Intrigantes Volk, diese Slawen", murmelte der Wache habende Arzt, "der Kerl
hat Fieber und doch keine Verwundung!"
Die Wächterin erhielt die Weisung, dem Soldaten, natürlich dem lebendigen, drei
Gramm Chinin in den Schlund zu stopfen, und entfernte sich. -- -- --
Professor Mostschädel hatte die letzten Worte aufgefangen und machte sie zum
Ausgangspunkt einer längeren gelehrten Rede, in der er die Wissenschaft Triumphe
feiern ließ, die es verstanden hatte, das gute Chinin in den Händen von Laien
zu entdecken, die in der Natur, der blinden Henne gleich, auf dieses Heilmittel
gestoßen waren.
Er war von diesem Thema auf die spastische Spinalparalyse übergegangen und die
Augen seiner Zuhörer begannen bereits gläsern zu werden, als wiederum die Wärterin
mit der Meldung erschien:
"Trompeter Wenzel Zavadil 49 Grad Fieber, bitte um ein längeres Thermometer."
-- -- --
"Also demnach schon längst tot", sagte lächelnd der Professor. --
Der Stabsarzt stand langsam auf und näherte sich mit drohender Miene der Wärterin,
die sofort einen Schritt zurückwich. -- "Sie sehen, meine Herren", erklärte
der daraufhin zu den übrigen Ärzten, "das Weib ist ebenfalls hysterisch, wie
der Soldat Zavadil; -- -- -- Duplizität der Fälle!" -- Hierauf legten sich alle
zur Ruhe.
"Der Herr Stabsarzt
läßt dringend bitten", schnarrte der Meldereiter den noch sehr verschlafenen
Gelehrten an, als kaum die ersten Sonnenstrahlen den Saum der nahen Hügel färbten.
Alles blickte erwartungsvoll auf den Professor, der sich augenblicklich an das
Bett Zavadils begab.
"54 Grad Réaumur Blutwärme, unglaublich", stöhnte der Stabsarzt. Mostschädel
lächelte ungläubig, zog aber entsetzt seine Hand zurück, als er sich an der
Stirne des Kranken tatsächlich verbrannte.
"Nehmen Sie die Vorgeschichte der Krankheit auf", sagte der zögernd nach längerem
peinlichem Schweigen zum Stabsarzt. "Nehmen Sie doch die Vorgeschichte der Krankheit
auf und stehen Sie nicht so unentschlossen herum!" schrie der Stabsarzt den
jüngsten der Ärzte an.
"Bhagavan Sri Mukhopadaya wüßte vielleicht ..." wagte die indische Wärterin
zu beginnen.
"Reden Sie, wenn Sie gefragt werden", unterbrach sie der Stabsarzt.
"Immer der alte verdammte Aberglauben", fuhr er, zu Mostschädel gewendet, fort.
"Der Laie denkt immer an das Nebensächliche", begütigte der Professor. -- "Senden
Sie mir nur den Bericht, ich habe jetzt dringend zu tun." -- --
"Nun, junger Freund, was haben Sie eruiert", fragte der Gelehrte den Subalternarzt,
hinter dem sich eine Menge Offiziere und Ärzte wißbegierig in das Zimmer drängten.
"Die Temperatur ist inzwischen auf 80 Grand gestiegen ..."
Der Professor machte ein ungeduldige abwehrende Bewegung: Nun?
"Patient machte vor zehn Jahren einen Typhus durch, vor zwölf Jahren eine leichte
Diphtheritis; Vater an Schädelbruch gestorben, Mutter an Gehirnerschütterung;
Großvater an Schädelbruch, Großmutter an Gehirnerschütterung! -- Der Patient
und seine Familie stammen nämlich aus Böhmen", fügte der Subalternarzt erklärend
hinzu. "Befund, Temperatur ausgenommen, normal, -- Abdominalfunktionen sämtlich
träge; -- Verwundung, außer leichten Kontusionen am Hinterkopf, nicht auffindbar.
-- Patient soll angeblich in der Hütte des Fakirs Mukhopadaya mit einer opalisierenden
Flüssigkeit ..."
"Zur Sache, nicht in das Unwesentliche abschweifen, junger Freund", ermahnte
gütig der Professor und fuhr, seinen Gästen mit einer einladenden Handbewegung
die umherstehenden Bambuskoffer und Stühle als Sitze anbietend fort: "Es handelt
sich hier, meine Herren, wie ich schon heute früh auf den ersten Blick erkannte,
Ihnen aber nur andeutete, damit Sie selber Gelegenheit fänden, den richtigen
Weg zur Diagnose einzuschlagen, um einen nicht allzuhäufigen Fall von spontaner
Temperaturerhöhung infolge einer Verletzung des Thermalzentrums" -- (mit einer
leicht geringschätzigen Miene zu den Offizieren und Laien:) "des Zentrums im
Gehirn, das die Temperaturschwankungen des Körpers
vermittelt -- auf Basis erheblicher und akquirierter Belastung. -- Wenn wir
ferner die Schädelbildung des Subjektes -- -- --"
Hornsignale der Ortsfeuerwehr,
die aus einigen invaliden
Soldaten
und chinesischen Kulis bestand, drangen Schrecken verkündend vom Missionsgebäude
herüber und ließen den Redner verstummen. --
Alle stürzten ins Freie; der anwesende Oberste voran.
Vom Lazaretthügel herab zum See der Göttin Parvati raste, einer lebenden Fackel
gleich, gefolgt von einer schreienden und gestikulierenden Menge, der Trompeter
Wenzel Zavadil in brennende Fetzen gehüllt.
Knapp vor dem Missionshause empfing den Armen die chinesische Feuerwehr mit
einem armdicken Wasserstrahl, der ihn zwar zu Boden warf, sich aber fast gleichzeitig
in eine Dampfwolke verwandelte. -- -- -- Die Hitze des Trompeters hatte sich
im Lazarett zuletzt derart gesteigert, daß die neben ihm stehenden Gegenstände
zu verkohlen angefangen hatten und die Wärter schließlich gezwungen waren, Zavadil
mit Eisenstangen aus dem Hause zu scheuchen; die Fußböden und Treppen wiesen
seine eingebrannten Fußstapfen, als ob der Teufel dort spazieren gegangen wäre.
--
Jetzt lag Zavadil nackt, -- die letzten Fetzen hatte der Wasserstrahl fortgerissen
-- auf dem Vorhofe des Missionsgebäudes, dampfte wie ein Bügeleisen und schämte
sich seiner Blöße. -- -- --
Ein findiger Jesuitenpater warf ihm einen alten Asbestanzug, der einmal einem
Lavaarbeiter gehört hatte, vom Balkon zu, in den sich Zavadil unter Dankesworten
hüllte.
"Wie, um Gottes willen, soll man sich aber erklären, daß der Kerl nicht selbst
gänzlich zu Asche verbrennt?" fragte der Oberst den Professor Mostschädel. --
"Ich bewundere stets Ihre strategischen Talente, Herr Oberst", entgegnete der
Gelehrte indigniert, "aber was die medizinische Wissenschaft anbetrifft, so
müssen Sie diese schon uns Ärzten überlassen. -- Wir müssen uns an die gegebenen
Tatsachen halten, und diese aus den Augen zu lassen, liegt für uns keinerlei
Indikation vor!" --
Die Ärzte freuten sich der klaren Diagnose, und abends traf man immer wieder
im Zelte des Kapitäns zusammen, wo es dann stets lustig herging.
Von Wenzel Zavadil sprachen nur noch die Annamiten; -- -- zuweilen sah man ihn
am anderen Ufer des Sees beim Steintempel der Göttin Parvati sitzen, und die
Knöpfe seines Asbestanzuges erstrahlten in Rotglut. -- --
Die Priester des Tempels sollten ihr Geflügel an ihm braten, hieß es; andere
sagten wiederum, er sei bereits im Abkühlen begriffen und gedenke, schon mit
50 Grad in seine Heimat zurückzukehren.
(aus "Des deutschen Spießers Wunderhorn" von Gustav Meyrink)