Kelley Armstrong: "Die Nacht der Wölfin"

Die attraktive junge Journalistin Elena hat ein Geheimnis: Sie ist ein Werwolf ...
Seit ein verflossener Liebhaber sie biss, damit sie ihm ebenbürtig werde, führt Elena ein Leben zwischen den Welten. Als ihr ehemaliges Rudel in Gefahr gerät und ums Überleben kämpft, muss sie sich entscheiden ...


Elena Michaels ist ihrer Meinung nach die einzige Werwölfin weltweit. Insgesamt gibt es nur etwa drei Dutzend Werwölfe in der Welt des 21. Jahrhunderts, und alle anderen sind männlich und meist als Werwölfe geboren, wohingegen Elena die erste Werwölfin zu sein scheint, die durch einen Biss entstanden ist. Nachdem sie einige Zeit unter dem Schutz eines Rudels in Nordamerika auf dem Anwesen Stonehaven lebte, hat sie sich entschlossen, in die Welt der Menschen zurück zu kehren und ein "normales" Leben zu führen, mit einem guten Beruf und einem menschlichen Freund, der allerdings nicht genau weiß, was für eine besondere Freundin er hat. Dann ruft eines Tages Jeremy, der "Alpha" ihres Rudels, sie zu Hause an und fordert sie auf, nach Stonehaven zu kommen, da das Rudel ihre Hilfe braucht. Widerwillig macht sich Elena auf den Weg.

In Stonehaven angekommen findet sie größtenteils alles unverändert vor, bis auf die Tatsache, dass in der Nähe des Anwesens eine von einem großen Hund zerfleischte junge Frau gefunden wurde. Nun sind Jäger unterwegs, um diesen Hund zu erlegen, was den eher zurückgezogen lebenden Werwölfen in Stonehaven einige Probleme bereitet. Elena, die vormalige Archivarin des Rudels, soll dabei helfen, den Streuner, der in ihr Gebiet eingedrungen ist, zu finden und auszuschalten. Widerwillig kommt sie ihren "familiären" Verpflichtungen nach. Dabei kommt sie mit demjenigen zusammen, den sie vor dem ahnungslosen Philip geliebt hat, und der durch seinen Biss ihre bisherigen Lebenspläne gründlich über den Haufen geschmissen hat. Dieser Werwolf ist immer noch sehr an ihr interessiert, eine Tatsache, die sie nach wenigen Tagen auch nicht ganz ignorieren kann. Elena muss sich allerdings fragen, wie ihre eigenen Reaktionen auf seine Annäherungen zu verstehen sind. Ist sie doch noch Teil der Welt des Rudels, oder fällt sie nur in der besonderen Atmosphäre von Stonehaven wieder in alte Muster zurück, die sie ganz schnell ablegen kann, sobald sie wieder in der "realen Welt" ist?

Dies ist eine der wichtigsten Fragen, die Elena zunächst beschäftigen, bevor ein Streuner gestellt und getötet werden kann, aber am gleichen Abend ein anderes Mitglied des Rudels durch einen weiteren Streuner getötet wird. In dem Moment werden die Überlegungen Elenas durch näher liegende Probleme überdeckt, besonders, nachdem ein Streuner einen ermordeten Menschen auf das Grundstück bringt und danach die Polizei verständigt. Danach kann sich Elena nur noch auf das eigentliche Problem konzentrieren: die Streuner haben sich gegen das Rudel zusammen geschlossen, und gerade Elena steht als Zankapfel zwischen den beiden Seiten. Obwohl sie doch eigentlich meint, gar nicht mehr zur Welt der Werwölfe dazu zu gehören. Doch diese Welt bricht immer mehr in ihr Alltagsleben ein, und auch Elena hat immer größere Probleme, in sich selbst zwischen ihrem "wölfischen" und ihrem "menschlichen" Selbst zu unterscheiden, besonders, wenn sie sich mit den Streunern vergleicht, die in einigen Aspekten wesentlich menschlicher sind, als die anderen Rudelmitglieder.

Im Endeffekt muss sich Elena entscheiden, wo sie letztlich hingehört - und feststellen, dass egal, wo man auch hinzugehören glaubt, das Dazugehören immer auch eigene Anstrengungen von einem selbst erfordert, die eigentlich niemals wirklich beendet sind.

Kelley Armstrong lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Ontario. "Die Nacht der Wölfin" ist ihr erster Roman.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 10/2003)


Kelley Armstrong: "Die Nacht der Wölfin"
Knaur, 2003. 479 Seiten.
ISBN 3-426-61811-7.
ca. EUR 8,90. Buch bestellen

Leseprobe:

Prolog
Ich muss.
Ich habe die ganze Nacht dagegen angekämpft. Ich verliere. Der Kampf ist so aussichtslos wie der einer Frau, die das Einsetzen der Wehen spürt und feststellt, dass der Zeitpunkt für die Geburt ungünstig ist. Die Natur siegt. Die Natur siegt immer.
Es ist beinahe zwei Uhr morgens, zu spät für solche Albernheiten, und ich brauche den Schlaf. Vier Abende, die ich durchgearbeitet habe, um einen Termin einhalten zu können, haben mich ausgelaugt. Es macht keinen Unterschied. Die Haut an der Innenseite meiner Ellenbogen und Knie hat schon seit einer ganzen Weile geprickelt, und jetzt beginnt sie zu brennen. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich nach Luft schnappen muss. Ich kneife die Augen zu und versuche die Empfindungen fortzuzwingen, aber sie bleiben.
Philip schläft neben mir. Er ist ein weiterer Grund, weshalb ich nicht gehen sollte, nicht schon wieder mitten in der Nacht fortschleichen und mit einem Schwall lahmer Entschuldigungen zurückkommen. Morgen wird er bis spät abends arbeiten. Wenn ich noch einen einzigen Tag warten könnte. Meine Schläfen beginnen zu pochen. Das Brennen auf der Haut breitet sich über Arme und Beine aus. Die Wut bildet ein Knäuel in meinen Eingeweiden und droht zu explodieren.
Ich muss raus hier - mir bleibt nicht mehr viel Zeit.
Philip rührt sich nicht, als ich aus dem Bett schlüpfe. Unter der Kommode liegt ein Haufen Kleider bereit, damit ich nicht riskieren muss, dass Schubladen und Schranktüren quietschen und knarren. Ich greife nach den Schlüsseln, schließe die Hand fest um sie, damit sie nicht klirren, schiebe vorsichtig die Tür auf und schleiche in den Flur hinaus.
Alles ist ruhig. Die Lichter wirken wie gedämpft, beeindruckt von der Leere. Als ich den Aufzug hole, beschwert er sich mit einem Knarren darüber, zu einer so gottverlassenen Zeit aufgestört zu werden. Im ersten Stock und im Foyer ist es ebenso leer. Leute, die es sich leisten können, so nah am Stadtzentrum von Toronto zu wohnen, liegen um diese Zeit behaglich im Bett.
Inzwischen tun mir die Beine nicht nur weh, sie jucken auch, und ich krümme die Zehen, um herauszufinden, ob das Jucken dann aufhört. Es hört nicht auf. Ich betrachte die Autoschlüssel in meiner Hand. Es ist zu spät, um an einen sicheren Ort zu fahren - das Jucken ist inzwischen zu einem scharfen Brennen geworden. Mit den Schlüsseln in der Tasche gehe ich auf die Straße hinaus und sehe mich nach einem ruhigen Ort für die Wandlung um. Im Gehen achte ich auf die Empfindungen in meinen Beinen und verfolge, wie sie sich über die Arme und den Nacken ausbreiten. Bald. Bald. Als die Kopfhaut zu prickeln beginnt, weiß ich, dass ich jetzt so weit gegangen bin, wie ich kommen werde, und sehe mich nach einer geeigneten Hofeinfahrt um. Die Erste, die ich finde, ist schon von zwei Männern besetzt, die sich zusammen in den zerfetzten Karton eines Breitbildfernsehers gequetscht haben. Die Nächste ist leer. Ich gehe bis ganz ans Ende und ziehe mich hinter einer Barriere von Mülleimern hastig aus, verstecke die Kleider unter einer alten Zeitung. Dann beginne ich mit der Wandlung.
Meine Haut spannt sich. Das Gefühl wird stärker, und ich versuche den Schmerz aus meinen Gedanken auszusperren. Schmerz. Was für ein nichts sagendes Wort - Qual trifft es besser. Man bezeichnet das Gefühl, bei lebendigem Leib gehäutet zu werden, nicht als "schmerzhaft". Ich atme tief ein und konzentriere mich auf die Wandlung, lasse mich auf den Boden fallen, bevor es mich zusammenkrümmt und hinunterzwingt. Leicht ist es nie - vielleicht bin ich immer noch zu sehr Mensch. Während ich darum kämpfe, weiter klar zu denken, versuche ich für jede Phase gerüstet zu sein und meinen Körper rechtzeitig in die richtige Position zu bringen - den Kopf nach unten, auf alle viere, Arme und Beine gestreckt, Hände und Füße gekrümmt, den Rücken gebogen. Die Beinmuskeln verknoten und verspannen sich. Ich keuche und mühe mich darum, mich zu entspannen. Schweiß bricht aus allen Poren und strömt über mich hin, aber die Muskeln geben endlich nach und entfalten sich. Als Nächstes kommen zehn Sekunden Hölle - es gab eine Zeit, da hatte ich mir geschworen, ich würde lieber sterben, als das noch einmal zu ertragen. Dann ist es vorüber.
Verwandelt.
Ich strecke mich und blinzele. Wenn ich mich jetzt umsehe, hat die Welt eine Farbpalette angenommen, die das menschliche Auge nicht kennt, Schwarz- und Braun- und Grautöne mit feinen Abstufungen, die mein Gehirn immer noch in Blaus und Grüns und Rots übersetzt. Ich hebe die Schnauze und atme ein. Mit der Wandlung haben sich meine ohnehin wachen Sinne noch mehr geschärft. Ich fange die Gerüche von frischem Asphalt und faulenden Tomaten und Chrysanthementöpfen auf Fensterbrettern und tagealtem Schweiß und tausend anderen Dingen auf; sie mischen sich zu einem so überwältigenden Brodem, dass ich huste und den Kopf schüttele. Beim Umdrehen erhasche ich verzerrte Fragmente meines Spiegelbilds in einem verbeulten Mülleimer. Meine Augen starren mir ins Gesicht. Ich ziehe die Lippen zurück und fauche mich selbst an. Weiße Reißzähne blitzen auf dem Metall.
Ich bin ein Wolf, ein hundertdreißig Pfund schwerer Wolf mit hellblondem Pelz. Das Einzige, was mir an Menschlichem noch geblieben ist, sind die Augen; sie glitzern vor kalter Intelligenz und einer schwelenden Wildheit, die niemand jemals einem Tier zuordnen würde.
Ich sehe mich um, atme die Gerüche der Stadt ein. Ich bin nervös hier. Es ist zu eng, zu beengt; der Menschengeruch ist überall. Ich muss vorsichtig sein. Wenn jemand mich jetzt sieht, wird er mich für einen Hund halten, einen großen Mischling, eine Kreuzung aus Husky und Labrador vielleicht. Aber selbst ein Hund kann die Leute erschrecken, wenn er meine Größe hat und frei herumläuft. Ich mache mich auf zum Ende der Gasse und suche mir meinen Weg durch die Eingeweide der Stadt.