Serhij Zhadan: "Hymne der demokratischen Jugend"


Über die glorreichen Tage der Transformationszeit - Perestroika á la Ukraine

Was passiert, wenn siebzig Jahre Sozialismus und Kommunismus durch nichts Greifbares ersetzt werden?
Dann hat man den härtesten Kapitalismus, den man sich vorstellen kann.
Charkiw, die ost-ukrainische Metropole ist eine durchwegs neu-kapitalistische Stadt, in der die täglichen Veränderungen so vehement sind, dass einem sehr bald die Übersicht zu entgleiten droht.

Der 1974 in Starobilsk (Gebiet Luhansk) geborene und auch in seiner Heimat erfolgreiche Autor Serhij Zhadan lebt und schreibt in dieser Stadt. Nach "Depeche Mode", "Anarchy in the UKR" und einem Lyrikband erschien "Hymne der demokratischen Jugend" im Suhrkamp Verlag.

Mustergültig übersetzt, lässt der Autor ein skurriles, dem westlichen Leser wahrscheinlich sehr fremdes Bild einer Gesellschaft entstehen, die versucht, sich in ihrer neuen, scheinbar weder durch Gesetze noch moralische Schranken gebundenen Umgebung zurechtzufinden.

In der ersten von sechs Erzählungen versucht eine Gruppe junger "Unternehmer", den besten Schwulenklub der Stadt zu gründen, nur um festzustellen, dass ihre Ideen mit der Publikumsorientierung in Charkiw nicht kompatibel ist. Sie schlittern von einem Malheur ins nächste; und auch wenn sie immer wieder aufstehen und weitermachen, so ist ihre Aussicht auf Erfolg doch so gering, dass einem die Gruppe junger Männer schon leid tut.

In "Ballade von Bill und Monika" berichtet der Ich-Erzähler von der Liebesbeziehung seines Freundes Kaganowitsch, dessen Leid damit begann, dass seine Freundin der Meinung war: "(...) es sei an der Zeit, ihre Beziehung auf eine feste Grundlage zu stellen, sie waren doch schon drei Monate zusammen, und nichts passierte außer Sex in Suff".

Mit den Worten "Die Brüder Coen - Ethan und Joel - haben mir beigebracht, keine Angst vor Blut zu haben" beginnt die Erzählung "Vierzig Waggons usbekische Drogen", die einen jungen Verwandten der Oschwanz-Brüder, die übrigens auch in anderen Erzählungen dieses Buches ihr Unwesen treiben, durch verschiedene Abenteuer schickt, durch die er wie ein Elefant im Porzellanladen trampelt, mit schlafwandlerischer Sicherheit für inkorrekte und peinliche Wendungen, so, wie seine Rede vor Budapester Bestatter-Publikum auf einer geistlichen Tagung. Der Versuch, ihn zu rehabilitieren, scheitert an den Versuchungen Evas.

In "Besonderheiten des Schmuggels von inneren Organen" ist eine dekadent-schwarze Liebesgeschichte der Auslöser für ein Traktat über illegale Prostitution und die Beschaffung von illegalen Aufenthaltsgenehmigungen für die EU. Morbide, dunkle Szenen gelingen hier, die schon fast berührend schön sind.

"Lass den Priester nur reden, das Lustigste kommt zum Schluss" beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, einen Pornofilm staatlich fördern und diesen dann auch noch in staatlichen Filmstudios drehen zu lassen, während die letzte Erzählung "Metallist nur für Weiße" die Problematik der verschiedenen in der ehemaligen Sowjetunion, konkret hier in der Ukraine, konzentrierten Anzahl von Nationalitäten und der Resultate eines übermäßigen Alkoholkonsums erforscht.

Serhij Zhadan schreibt rasant, manchmal in einem Stil, der mit mitunter sehr witzigen, nur durch Kommata voneinander abgetrennten Dialogen durch die Geschehnisse in Charkiw führt. Alkohol fließt in Strömen, Drogen sind allgegenwärtig, Sex bzw. die Lust auf Sex dominiert das Geschehen, und peinliche Situationen wechseln sich schwungvoll ab.
"Hymne der demokratischen Jugend" ist ein kurzweiliger Lesespaß, ein morbides, von schwarzem Humor und voller unmoralischer Gedanken strotzendes Lesevergnügen, das dem Leser hie und da etwas dick aufgetragen entgegenbrettert, aber auch ein schonungslos interessantes Bild einer Gesellschaft im Umbruch zeichnet. Das Buch lässt auf eine Entwicklung hoffen, die, mit mehr Tiefe und literarischer Kraft gepaart, ganz Großes von diesem Autor erwarten ließe.

(Roland Freisitzer; 10/2009)


Serhij Zhadan: "Hymne der demokratischen Jugend"
Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr.
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2009. 184 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2011.
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Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw.

Weitere Bücher des Autors:

"Die Erfindung des Jazz im Donbass"

Herman, ein junger Werbeunternehmer, wird von einem ominösen Anruf aufgeschreckt: Sein Bruder, der am Rande der Steppe eine Tankstelle betreibt, ist spurlos verschwunden. Am Ort des Geschehens trifft Herman auf die Angestellten seines Bruders, verliebt sich in Olha, die eigenwillige Buchhalterin, und versucht, die Tankstelle vor den Attacken eines einheimischen Oligarchen zu retten. Dabei wird ihm klar, dass weit mehr auf dem Spiel steht: nämlich das Glück und der Sinn des Lebens.
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"Internat" zur Rezension ...

"Depeche Mode"
Charkiw 1993. Sowjetische Kriegsveteranen und neureiche biznesmeny lauschen im Konzertsaal einem us-amerikanischen Erweckungsprediger. In ehemaligen Komsomolbüros residieren Werbeleute. Das Jugendradio der ostukrainischen Metropole bringt in Kooperation mit London einen Beitrag über die irische Volksmusikgruppe "Depeche Mode" und die Rolle der Mundharmonika beim Kampf gegen kapitalistische Unterdrückung. Durch diese hybride Szenerie irren drei Freunde - Dog Pawlow, Wasja Kommunist und der Ich-Erzähler Zhadan, neunzehn Jahre alt und arbeitslos -, um ihren Kumpel Sascha Zündkerze zu finden. Sein Stiefvater hat sich erschossen. Ihre Suche führt sie auf ein verfallendes Fabrikgelände, wo sie eine Molotow-Büste klauen, ins Romaviertel zu einem befreundeten Dealer und schließlich per Nahverkehrszug ins Pionierlager "Chemiker", wo Zündkerze als Betreuer arbeitet. Als Zhadan ihn schließlich trifft, bringt er es nicht übers Herz, ihm die Wahrheit zu sagen. (edition suhrkamp)
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Noch ein Buchtipp:

Taras Prochaska: "Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen"

Ein dramatisches Zeitalter auf wenigen Seiten zu besichtigen, dazu bedarf es der minimalistischen Kunst eines großen Autors. Taras Prochasko verwandelt ein Familienepos, das Hunderte Geschichten birgt, in lauter erzählerische Extrakte, die eine versunkene Welt und ihre Bewohner heraufbeschwören und zum Gegenstand der Meditation machen. Diese Welt heißt Stanislau und liegt im Karpatenvorland, einem Winkel des Habsburger Reichs. Nach zwei Weltkriegen ist dort nichts mehr wie zuvor. Nur der Enkel Taras wohnt noch immer im Haus seines tschechischen Großvaters an der Hauptstraße. Nicht nur ihre verworrenen Lebensläufe ruft er auf, sondern auch die vielen Dinge, die es einmal gab: "Manchmal, wenn ich nichts mache und nichts sage, scheint es mir, dass genau dies das allerrealste Ich ist. Eine Sammlung chaotischer, unnützer Dinge." (Suhrkamp)
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