Die Fliege

Es war einmal ein alter Mann, der hatte sich ein Töpfchen frischen Quark (Anm.: d.i. Topfen) gekauft. Wie sich nun eine Fliege darauf setzte und gar nicht mehr von der guten Speise lassen wollte, geriet er in großen Zorn: "Warte nur, dir werd ich's zeigen."
Er lief zum Gericht und trug seinen Fall vor. "Dir soll Gerechtigkeit widerfahren", beschied ihm der weise Richter. "Du sollst die Übeltäterin bestrafen, wo immer du sie antriffst."
In diesem Augenblick hatte sich eine dicke Fliege genau auf der Nase des Richters niedergelassen. Der Alte packte seinen Stock
und tat einen tüchtigen Streich. Da war die Fliege tot und das Nasenbein entzwei. Der Richter heulte vor Schmerz: "Elender, dafür wirst du auf der Galeere schmachten."
"Halten zu Gnaden, hoher Herr", erwiderte der Alte bescheiden. "Habt Ihr nicht selber mir aufgetragen, die Missetäterin zu strafen, wo immer ich sie antreffe?"
Was konnte das hohe Gericht da anderes tun als den Kläger ziehen lassen. Der aber ging munter nach Hause und tat sich an seinem Töpfchen gütlich, bis der Boden zum Vorschein kam.


(Aus "Märchen aus dem alten Venedig",
erschienen im Diogenes Verlag)