Jost Hermand: "Die Utopie des Fortschritts"

Zwölf Versuche


Durch Ästhetik zur Utopie

Seit wann ist Wünschen verboten? Utopisches Denken steht im Ruch des Unseriösen. Warum eigentlich? Utopie kann Hoffnung bedeuten - die "utopischen Oasen" (Jürgen Habermas) strahlen eine teleologische Faszination aus, wie sie quasi einer säkularen Religion eignet. Im vorliegenden Buch versucht Hermand in zwölf gesammelten Essays das utopische Denken in verschiedenen ideologischen Ausprägungen zu analysieren. Zwar soll der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt gesagt haben: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" - zweifelsohne ist aber das Entwerfen neuer, über den Status quo hinausgehender Gesellschaftskonzepte ein Ausdruck aufgeklärten bürgerlichen Denkens. Eine inspirierende Analyse hatte bereits 1946 Ernst Bloch mit seinem Buch 'Freiheit und Ordnung. Abriss der Sozialutopien' geliefert. Hermand wünscht sich Utopie als "Modell für progressives Denken, das sich in einem politisch qualitativem Sinne sowohl von technologisch orientierten Futurologie-Vorstellungen als auch von romantischen Fluchtreaktionen unterscheidet, indem es eine möglichst ausgewogene Balance zwischen empirischer Gegebenheit und schöpferischer Fantasie anzustreben versucht."

Das utopische Denken setzt eigentlich essenziell ein mit Thomas Morus' 'Utopia' (1516) - im Grunde ging es den klassischen Utopikern wie Bacon, Mercier, Fourier oder Bellamy immer wieder um "das soziale Gleichheitsprinzip, eine naturwissenschaftliche statt theologische Auslegung der Naturgesetze und (den) Sieg der Vernunft über den Glauben." Nach Ernst Bloch ist der Wunsch nach einem besseren Leben eine anthropologische Konstante. Der utopische Gedanke hatte dabei meist schon eine ökonomische, eine ökologische und auch eine moralische Dimension. Im politischen Bereich setzte Friedrich Engels mit seiner Schrift 'Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft' (1880) einen besonderen Akzent. Hermand analysiert gesellschaftliche, ästhetische und historische Prozesse, er setzt sich mit "linken" und "rechten" Denkmodellen auseinander.

Das liest sich alles recht interessant - was allerdings die Kapitel über Operninszenierungen und die "Spektakelkultur des Neoliberalismus" hier zu suchen haben, bleibt schleierhaft. Auch die 'Rolle des Schönen in der Kunst' bzw. 'Brechts Verneinung des Tragischen' lassen keinen direkten Zusammenhang zur Problematik des Utopischen erkennen - und ein Kapitel über Volker Braun schon gar nicht (er möge diese Feststellung verzeihen). Im letzten Kapitel des vorliegenden Bandes geht es dann noch einmal um 'Eine wünschenswerte Zukunft' - hier disputiert Hermand den gesellschaftlichen Stellenwert von Arbeit und Freizeit. Als utopisches Element werden hier Künstler bewertet, welche nach "Kriterien wie ästhetischer Formvollendung und gesamtgesellschaftlicher Verantwortlichkeit" ihre Praxis gestalten. Solche Künstler könnten nach Hermand zu "Vorbildern der Gesamtgesellschaft" werden, indem sie "indem sie ihre schöpferische Lust vornehmlich in den Dienst der Allgemeinheit stellen."

Und nun wird es auf den letzten Seiten noch einmal richtig interessant - und sowohl Marx als auch Beuys hätten ihre wahre Freude an den Schlussgedanken Hermands, der meint, alle Menschen könnten "Könner und damit Künstler auf ihrem Gebiet" werden. Überdies würden die Lust am Ästhetischen und die Neigung zum gesamtgesellschaftlichen Nützlichen auch die "Zweiteilung in Job und Freizeit" aufheben und einen Solidaritätseffekt auslösen. Und das klingt nun wahrhaft utopisch oder gar utopistisch - oder nicht?! Das ergäbe eine Gesellschaftsordnung, die "keine Trennung von Genuss und Leistung" mehr kennt. Es gäbe keinen egoistischen Konsum mehr, keine entfremdete Freizeit, die Produkte würden mit größerer ästhetischer Sensibilität behandelt. Freude am Produzieren, Nachdenken über die Verbesserung der Produktionsbedingungen im solidarischen Sinn sowie eine gerechte Verteilung von Arbeit und Produktionsergebnissen ergänzen sich schließlich zu einer Gesellschaftsform, in der Ersatzbefriedigungen obsolet werden. Verantwortung und Genuss können zusammn wirken - planende Vernunft ist eine Grundvoraussetzung für eine solche Gesellschaftsform, aus der heraus der "Staat das größte Kunstwerk der Zukunft" werden könnte. Obwohl Hermand zwischendurch etwas den Faden zu verlieren scheint, ist dieses Buch in der Summe ein sehr interessanter Denkanstoß für Idealisten, die Utopie auch im materiellen Sinne für machbar und notwendig halten.

(KS; 09/2007)


Jost Hermand: "Die Utopie des Fortschritts. Zwölf Versuche"
Böhlau Verlag Köln, 2007. 242 Seiten.
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