Anita Nair: "Das Salz der drei Meere"


Seit Hermann Hesses "Siddharta" (1922) und E. M. Forsters "Die Reise nach Indien" (1905) haben Indien-Romane im deutschsprachigen Raum eine starke Anhängerschaft.

In dieser eigenen und mitunter auch eigenartigen Gattung findet man leider oft eine Verklärung und Mystifizierung Indiens bzw. rührselige Unterhaltung ohne Tiefgang, weil manche Autoren auf den fahrenden Zug aufgesprungen sind und von der lang anhaltenden Indien-Welle profitieren möchten.

Wohltuend ragt da Anita Nairs Roman "Das Salz der drei Meere" aus dem großen Angebot heraus; sowohl in literarisch-sprachlicher als auch in inhaltlich-informativer Hinsicht.

Ich kenne keinen Indienroman, der die Stellung der Frau im modernen Indien glaubwürdiger darstellt. Der Autorin gelingt es, der Einseitigkeit und Verallgemeinerung vorzubeugen, indem sie die Lebensgeschichten und äußeren wie inneren Entwicklungen von sechs Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Verhältnissen erzählt oder in Ich-Form von den Romanfiguren erzählen lässt. Die Lebensberichte (für die meisten Frauen kommen sie einer Beichte im geschützten Raum eines für Frauen reservierten Eisenbahnabteils gleich) stehen unverbunden nebeneinander oder besser: sie sind nur locker durch einen Rahmen miteinander verknüpft. Der Rahmen übt aber doch eine wichtige Funktion aus, bringt die Eisenbahnfahrt doch die Frauen dazu, sich einander anzuvertrauen und sich gegenseitig zu bestärken.

Der Rahmen, die lange gemeinsame Eisenbahnfahrt, hat darüber hinaus hohen symbolischen Wert: Die Frauen haben ihre vertraute Umgebung hinter sich gelassen, befinden sich im Aufbruch, verändern sich von Station zu Station und erreichen am Ende ein Ziel.

Zwar wird die "Stadt der drei Meere", Kanyakumari, konkret genannt, doch ist die metaphorische Bedeutung des Titels "Das Salz der drei Meere" unübersehbar.

Die drei Meere, in denen die Frauen Indiens unterzugehen drohen, sind Tradition / Religion, die Großfamilie mit ihren starren Hierarchien und die ungleiche Rollenverteilung von Mann und Frau.

"Akhila mochte Katherine vor allem deshalb, weil sie vielleicht die einzige Person war, die nicht an die vier Eckpfeiler des grihasthashrama dachte: den Ehemann, das Baby, das Haus und die Schwiegermutter." (S. 121)

Nair führt die Verformungen, die diese Abhängigkeiten in der Seele einer Frau hervorrufen können, dem Leser sehr differenziert und eindringlich vor Augen. ".. sie gehören zu der Sorte, die sich ohne einen Mann nicht vollständig fühlen. Tief in ihren Herzen sind sie der Ansicht, dass die Welt keine Verwendung für allein stehende Frauen hat." (S. 131f)

Alle Frauen, einerlei, ob sie sozial abgesichert sind, im Überfluss schwelgen oder entrechtet und ausgebeutet sind, haben eins gemeinsam: Sie sind unzufrieden mit ihrer aktuellen Lebens-, Familien- oder Ehesituation, sie leiden unter der Rolle, die ihnen Konvention, Gesellschaft oder Familie zugewiesen oder aufgezwungen haben. "Hab mich in eine Frau verwandelt, die keiner hört noch sieht. Gewartet und gewartet, bis Asche tupfte mein Haar." (S. 246)

So wird die Reise zu einer Reise ins Innere: zu sich selbst. Sehen und vergleichen lernen; lernen, eigene Gefühle und Ansprüche zu artikulieren, ohne von Gewissensbissen geplagt zu werden; lernen, sich selber als Frau anzunehmen, das ist das Ziel, dem alle mit unterschiedlichem Tempo entgegenreisen. Und alle kommen irgendwie an und sind am Ende der Reise nicht mehr die, die sie vorher waren.

"Denn in mir steckt eine Frau, die ich entdeckt habe." (S. 357)

Das neue Selbstbewusstsein indischer Frauen scheint einer der Gründe für den enormen Erfolg des Romans in Indien zu sein.

Kein feministischer Roman, der die indische Frau dazu animiert, alle Brücken der Tradition und Religion hinter sich abzubrechen, sondern ein Buch, das Frauen Mut macht, ihr bisheriges Leben zu überdenken und aufzubrechen zu neuen Ufern, das aber keine Patentrezepte oder Heilsbotschaften enthält, sondern deutlich macht, wie unterschiedlich die Bedürfnisse der einzelnen Frauen sind.

Aus eigener Kraft schwimmen zu lernen und nicht auf Gedeih und Verderb von anderen moralisch oder wirtschaftlich abhängig zu sein, lautet der Rat auf dem Weg zur Zufriedenheit.

"Ich behaupte nicht, dass Frauen schwach sind. Sie sind stark, Frauen können alles ebenso gut wie Männer. Und mehr noch dazu. Aber eine Frau muss diese Kraft in sich selbst suchen. Sie zeigt sich nicht von allein." (S. 278)

Unabhängig von der Einbettung in indische Gegebenheiten, vertritt die Autorin eine von den Idealen Gerechtigkeit, Selbstbestimmung, Humanität und Selbstvervollkommnung geprägte Einstellung, die auch bei Frauen außerhalb Indiens auf breite Zustimmung stoßen dürfte.

Das Buch schildert Beispiele der Suche, deren Anstrengungen am Ende durch ein höheres Maß an innerem Glück belohnt werden, es ist kein Buch des Scheiterns und der Resignation.

Es bietet tiefe Einblicke in die indische Gegenwart, aber auch in die Psyche von Frauen allgemein; es kommt nie missionarisch daher und es ist nie langweilig. Ein Frauenroman, der viele andere Frauenromane mühelos in die Ecke verbannt.

(Diethelm Kaminski, Köln, den 30.08.2004)


Anita Nair: "Das Salz der drei Meere"
Übersetzt von Angelika Naujokat
dtv 20732, 2004
368 Seiten, ISBN 3-423-20732-9

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Über die Autorin:

Anita Nair Anita Nair lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Bangalore. Geboren und aufgewachsen in Shoranur in der Provinz Kerala, studierte sie englische Sprache und Literatur und lebte danach eine Zeit lang in den USA, bevor sie nach Indien zurückkehrte. Sie arbeitete zunächst als Journalistin, veröffentlichte 1997 ihren ersten Erzählungsband "Satyr of the Subway and eleven other stories" und 2000 ihren ersten Roman, "Ein besserer Mann". 2001 folgte bereits ihr zweiter Roman, "Ladies Coupé", der auf Anhieb in sieben Länder verkauft wurde und im Herbst 2002 beim Hoffmann & Campe Verlag unter dem Titel "Das Salz der drei Meere" erscheinen wird. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet Anita Nair als Werbetexterin

Anita Nair: "Ein besserer Mann"

Ein intensiver und mit sensiblem Humor erzählter Roman aus Indien, der das soziale Gefüge einer Dorfgemeinschaft ebenso präzise seziert wie die Psyche eines Mannes, der erst spät zu sich selbst findet. Und eine Geschichte darüber, wie sehr wir Menschen gefangen sind in den Vorstellungen und Erwartungen, die andere von uns haben.
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