Amin Maalouf: "Das erste Jahrhundert nach Béatrice"

Hoffnung im Spannungsfeld von Nord-Süd-Konflikt und wissenschaftlicher Hybris


Der Entomologe

Namenlos bleibt er - der 83-jährige Erzähler in Amin Maaloufs Roman "Das erste Jahrhundert nach Béatrice". Er sitzt in der Abgeschiedenheit der Savoyer Alpen, der Resignation trotzend. Früher einmal ging der Mann in einem Pariser Museumslabor seiner Leidenschaft nach, die zugleich Beruf war: dem Sammeln und Analysieren von Insekten. Selbst beschreibt sich der Entomologe als Mensch, "den die kleinen Tiere faszinieren und dem die großen Tiere von Grund auf gleichgültig sind". Gesichter von Mitmenschen merkt er sich nur durch Analogien zur Anatomie von Ameise, Käfer und Co. Voller Hochachtung spricht er über "diese bemerkenswerten Liliputaner, die Eleganz, Geschicklichkeit und uralte Weisheit in sich vereinen". Seiner Meinung nach "berechtigt nichts zur Annahme, dass der Mensch siegreich hervorgeht aus dem unerbittlichen Kampf gegen die Kleinlebewesen." Fast visionär merkt er an: "Insekten waren schon lange vor uns auf dieser Erde und werden noch lange nach uns da sein (...)."

Das Geheimnis des Skarabäus

44 Jahre zuvor folgte der Insektenkundler einer Einladung nach Kairo, um vor einer illustren Runde von Ägyptologen eine Rede über den Skarabäus zu halten. Skarabäen - im Okzident abschätzig Mistkäfer genannt - galten seit frühester Pharaonenzeit als heilig. Diese arbeitsamen Insekten sammeln Dung und formen ihn zu kleinen Kügelchen, die dann bergauf gerollt werden. Dann lässt der Skarabäus los, und die Dungsphäre rollt zielsicher in ein zuvor ausgehobenes Sandloch. Ein für ein Insekt seltsam anmutendes Sisyphos-Gehabe, das niemand genau zu erklären vermag. Sobald die Dungkugel im Loch ruht, legt der Skarabäus seine Larven in die nährstoffreiche Mistmatrix. Diese schlüpfen und verwandeln sich zu einer neuen Generation von Käfern. In der Vorstellung der alten Ägypter stand der Skarabäus für die Wiedergeburt, das rollende Kügelchen für den Lauf der Sonne am Firmament. Wie der Rezensent im Nilland selbst in Erfahrung bringen konnte, wurde selbst Hauptgott Amun-Ra einige Male mit dem Kopf eines Skarabäus abgebildet. Sein Avatar hieß dann einfach Kepher.

In Kairo stößt der Entomologe auf eine gar seltsame Geschichte. Am Midan et-Tahrir, dem größten Platz der Stadt, werden so genannte "Skarabäusbohnen" angeboten: flache Kapseln, die ein Pulver enthalten, das die Potenz des Mannes erhöhen und ihm zur Zeugung vieler Söhne verhelfen soll. Ein althergebrachter Aberglaube in neuer Verpackung, wie dem Pariser Forscher scheint.

Clarence, die rasende Reporterin

Wieder zurück in Frankreich, lernt der Entomologe die 29-jährige Clarence kennen, eine dynamische Journalistin, die einer von der Kollegenschaft belächelten Geschichte auf der Spur ist: Sie möchte herausfinden, was es mit den boy beans auf sich hat, einem im indischen Bombay angebotenen Aphrodisiakum, das ebenfalls viele Söhne verheißt. Das Präparat gleicht den "Skarabäusbohnen", nur dass anstelle eines Käfers ein erigierter Kobrahals samt Kopf auf der Verpackung prangt.

Der Insektenforscher verliebt sich in die investigative Reporterin, wenngleich er das Wort "Liebe" nicht verwendet, da es seiner Einstellung nach genauso unwissenschaftlich wie der Sammelbegriff "Heuschrecken" ist. "Ohne zu eilen noch zu zögern" - welch schöne sprachliche Formulierung - werden die beiden ein Paar, schelmisch und glücklich; einfach "erwachsene Schwarzfahrer in einem Kinderparadies". Wenngleich Clarence der Wunsch nach Nachkommenschaft nicht so ein Anliegen ist wie ihrem Gefährten. Aber aus Liebe zu ihm wird sie schwanger. In der letzten Augustnacht kommt Töchterchen Béatrice zur Welt - ein Kind, das der Entomologe über alles liebt (den Buchumschlag ziert dementsprechend auch Botticellis "Die Geburt der Venus"). Béatrice ist so etwas wie der symbolische Kontrapunkt zum nun hereinbrechenden Chaos mit seinem aus Männlichkeitswahn resultierenden "kollektiven Selbstmord"; mit ihr bricht ein neues Zeitalter an, wie aus den weiteren Seiten des Romans allmählich klar wird.

"Die Substanz"

Immer mehr kommt ans Licht, dass es sich bei den seltsamen Bohnen in Ägypten und Indien nicht um harmlosen Aberglauben, sondern um hochwirksame Designerpräparate handelt. Clarence findet heraus, dass es einem Forscherteam rund um den skrupellosen Dr. Foulbot gelungen war, im Tierversuch bei Rindern eine Substanz zu entwickeln, die das Entstehen männlicher Nachkommen exzessiv fördert. Nachdem Foulbot seine Experimente in Frankreich beenden musste, wich er ans Rote Meer aus, wo er eine Fabrik zur Herstellung von "Skarabäusbohnen" aufkaufte und anstelle der Placebo-Kügelchen seine hoch effektive "Substanz" unters Volk brachte. Ein gigantischer Etikettenschwindel samt Menschenversuch. Tatsächlich steigt alsdann in Kairo die Geburtszahl von Söhnen zu Lasten von Töchtern drastisch an - und nicht nur dort: Athen, Istanbul, Neapel verzeichnen alle starke Geschlechterverschiebungen. Kamen zuvor auf hundert Mädchen hundertfünf Jungen zur Welt, verändert sich die Relation bald auf 100 zu 119. Foulbots Geschäft wächst zu einem Konzern, der vor allem in den Entwicklungsländern Fuß fasst. Ab nun ist es möglich, Frauen mit "gedopten" Männer generierenden Spermien gegen die Geburt von Mädchen zu immunisieren. Das Drama nimmt - nahezu zeitgleich mit Béatrices Geburt - seinen Lauf.

Wider die Hybris der Wissenschaft

Der Entomologe - selbst ein Mann der Wissenschaft - kritisiert die Kluft zwischen technischem und moralischem Fortschritt: "(...) beide Entwicklungen bedingen sich gegenseitig, allerdings verlaufen sie nicht immer im gleichen Tempo." Über die "Substanz" sagt er: "Damit stünde wieder mal ein modernes Instrument im Dienste einer verstaubten Sache" - in diesem Fall im Dienste einer archaischen Stammhaltertradition. Der Leser wird an Einsteins berühmt gewordenen Ausspruch erinnert, der nach Erfindung der Nuklearwaffen die Menschheit mit Neandertalern vergleicht, die anstelle von Keulen Atombomben in Händen halten. Dabei - so sinniert der Insektenforscher metaphernreich - müsste die Wissenschaft gar nicht ihr Fahrzeug wechseln, sondern nur die Fahrweise ändern. Amin Maalouf öffnet wie Schriftstellerkollegin Margaret Atwood in "Oryx und Crake" eine medizinische Büchse der Pandora, deren entflohenes Übel kaum mehr einzufangen scheint.

"Horizontalgraben" im Nord-Süd-Konflikt

Vier Jahre nach Béatrices Geburt sind alle Erdteile - wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß - von Dr. Foulbots Erfindung betroffen. Während in den reichen Staaten der Nordhalbkugel die "Substanz" bald verboten und die Geschlechterverzerrung gerade noch eingedämmt werden kann, bricht in den südlichen "Entwicklungsländern" das Chaos aus. "Es gibt jetzt tatsächlich zwei Menschheiten, und der Graben, der sich zwischen ihnen aufgetan hat, ist mittlerweile unüberwindbar", analysiert der Entomologe. Dieser "Horizontalgraben" sorgt für globale Erschütterungen, denn im Norden gibt es Reichtum, Freiheit und Hoffnung, während im Süden Armut, Gewalt und Stagnation in ein "Labyrinth voller Sackgassen" münden. Unser Planet gleicht einer zweistufigen Rakete, veranschaulicht der Insektenkundler: "Die eine Stufe werde abgestoßen, falle zurück und verglühe; die andere schieße intakt und entlastet in den Weltraum empor." Ein gutes Gleichnis für Industrie- und Entwicklungsländer.

Die Vitsiya-Affäre

In den USA beginnt der TV-Prediger Vitsiya mit dem Projekt "Himmelsarche". Dabei werden aus den Staaten der Dritten Welt weibliche Babys und Kleinkinder an Adoptiveltern im Westen vermittelt. Ein besseres Leben soll ihnen ermöglicht werden, heißt es. Der fundamentalistische Pastor geht dabei brachial vor: nur vitale, gesunde Kinder werden im Zuge einer Reality Show angeboten; es gibt sogar Rabatte, um das Projekt zu forcieren. In Westeuropa bricht daraufhin eine Welle der Gewalt los. Vertreter islamischer Minderheiten sorgen für Krawalle und Straßenschlachten. Nach dem Abflauen der Aggression - im 14. Lebensjahr Béatrices - kommt es in New York City zu einem "Weltgeburtengipfel", bei dem Emanuel Liev eine mehrere Seiten starke faszinierende Rede der Versöhnung hält - vor all den Mächtigen aus Nord und Süd. Liev ist Vorsitzender im "Netzwerk der Weisen", einem von Clarence und Gespons initiierten Verein gegen die Verbreitung der "Substanz" und gegen den Kinderhandel.

Das "Naiputo-Syndrom"

Alles scheint kalmiert, als ein Jahr danach in einem (fiktiven) afrikanischen Staat ein Sturm auf alles Westliche einsetzt, dem kurze Zeit später auch Clarence Tribut zollen muss - brutal zusammengeschlagen, bleibt sie ab nun an den Rollstuhl gefesselt. Die Regierung hat in der Hauptstadt Naiputo jegliche Kontrolle verloren, Stammeskonflikte brechen auf, Europäer und Amerikaner werden als "Sterilisierer" verfolgt und massakriert. Frauen und Mädchen aller Ethnien fallen marodierenden Trupps zum Opfer, um als Fortpflanzungsgarantie weggesperrt zu werden. Ein "Raub der Sabinerinnen" auf Afrikanisch. "Naiputo war nur eine Station eines langen Kreuzweges", resümiert der Entomologe. Gewaltexzesse dieser Art treten fortan auch in anderen Staaten der Südhemisphäre auf. Das Pogrom von Naiputo wird zum Synonym des Hasses gegen den Norden. Die Moral der Geschichte: Konflikte treten nicht spontan auf, sie haben als Quelle eine lange aneinandergereihte Kette von Ursachen; wie eine schwere Krankheit brechen sie hervor, wenn die kritische Masse des Verträglichen überschritten ist. In Maaloufs Buch steht die westliche Erfindung der "Substanz" für den Punkt, an dem es kein Zurück gibt.

Im 20. Jahr nach Béatrices Geburt ereilt es den "frommen General" Abdane von Rimal, einen Günstling der Industriestaaten. Im Bett wird er samt Konkubine ermordet. Abdane war ein Despot der schlimmsten Sorte: zügellos, korrupt, heuchlerisch. Gerne taten nördliche Regierungen seine Tyrannei als "kulturelle Eigenheit" ab. Abdanes Ende ist da, als in Rimal auf zwanzig geborene Jungen nur mehr ein Mädchen kommt - das Volk fürchtet mittelfristig auszusterben.

Im 30. Jahr nach Béatrice herrscht im Norden Misstrauen, Angst und Resignation: Mädchen gehen nicht mehr ohne männliche Bewacher auf die Straße - aus Panik vor Entführungen oder Vergewaltigungen. Alles Dunkelhäutige und Kraushaarige gilt als suspekt, der Rassismus greift um sich. Für die Geburt weiblicher Babys gewährt der Staat erhebliche Steuernachlässe. Béatrice ist inmitten dieses unheilschwangeren Utopia mittlerweile selbst Mutter - eines Sohnes. Der Vater: Ägypter. Abendland und Morgenland friedlich vereint? Ein Modell für die Zukunft?

Über den Autor

Amin Maalouf, 1949 im Libanon geboren, lebt als Schriftsteller und Journalist in Frankreich gewissermaßen selbst zwischen den kulturellen Welten. Er gilt als Spezialist für Fragen der modernen Beziehung Okzident : Orient. Parallelen zum Entomologen, der am Ende des Buches in selbstgewählter innerer wie äußerer Emigration in den Savoyer Alpen weilt, werden offensichtlich. Wie auf seinem Romanerzähler lastet das weltweite "Zusammenwirken von archaischer und moderner Perversion" von Süd und Nord schwer auf Maalouf, dennoch glaubt der Romancier in einfacher wie oft auch wunderschöner Sprachform an "Das erste Jahrhundert nach Béatrice". Er hofft auf eine bessere Menschheit, die wie ein Skarabäus aus der Mistmatrix "wiedergeborenen" wird, eine Menschheit, die ihr Recht auf Fehler zur Weisheit nutzt.

"Probleme treiben uns an, setzen uns zu, bringen uns aus der Fassung und lassen uns aber auch über uns selbst hinauswachsen. Diese Störung unseres Gleichgewichts ist heilsam: Durch Probleme entwickeln die Arten sich weiter, durch Lösungen erstarren sie und sterben aus. Ist es etwa Zufall, dass das schlimmste Verbrechen seit Menschengedenken den Namen 'Endlösung' trug?"

(lostlobo; 07/2004)


Amin Maalouf: "Das erste Jahrhundert nach Béatrice"
Aus dem Französischen von Gerhard Meier.
Suhrkamp, 2004. 210 Seiten.
ISBN 3-518-45619-9.
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