Holger Kalweit: "Das Totenbuch der Germanen

Die Edda - Die Wurzeln eines wilden Volkes"


Was Holger Kalweit da als Totenbuch der Germanen präsentiert, ist nichts anderes als jene berühmte Sammlung germanischer Helden- und Götterlieder, welche als die Ältere Edda oder Lieder-Edda in die Literaturgeschichte Einzug gehalten hat, eine Namensgebung, die dazu diente, sie von der Jüngeren oder Prosa-Edda oder Snorri-Edda zu unterscheiden. Bei zweiterer handelt es sich um das 1220 niedergeschriebene Werk des Isländers Snorri Sturluson, bestehend aus einer nordischen Poetik und einer Sammlung von heidnischen Mythen, die Snorri mit eigenen Worten nacherzählt (auch wohl ein wenig verändert; zum einen war er selber Dichter, zum anderen war die christliche Zensur in dieser Zeit bereits gut entwickelt) und sie solcherart vor dem Vergessen bewahrt hat.

Die Lieder-Edda gilt - obwohl erst Jahrzehnte nach Snorri niedergeschrieben - deshalb als die ältere, weil der Ursprung der Lieder insgesamt gesehen ein älterer ist (bei ansonsten häufigen Überlagerungen des Stoffes), aus dem ersten Lied der Sammlung zum Beispiel, der Völuspá, dem Mythos vom Entstehen und Untergang der Welt, zitiert Snorri selbst, flicht überhaupt immer wieder Strofen aus diesem und anderen älteren Liedern in seine Mythensammlung ein. Älter ist vor allem auch die Sprache, nämlich das Altnordische bzw. (nach der Eroberung Islands) Altisländische des 9. Jahrhunderts, in welchem die Lieder vor ihrer Niederschrift möglicherweise jahrhundertelang mündlich überliefert wurden. Und auch im Stil wirkt die Lieder-Edda viel archaischer als Snorris einfache, knappe Erzählprosa. Der Leser bekommt es mit einer dunklen, bruchstückhaften Lyrik zu tun, die mit ständigem Stabreim, einer stark ausgeprägten Zahlen- und noch stärken Ortssymbolik arbeitet, Ereignisse, welche eigene, aber eben nicht auf uns gekommene, Mythen gewesen sein dürften, oft nur in zwei Worten andeutet um nicht mehr darauf zurückzukommen, überreich an Synonymen ist, vollständig erhaltene und rudimentäre Zaubersprüche birgt, kurz, für heutige Menschen einen geheimnisvollen, kaum zu entschlüsselnden Charakter besitzt. Überdies wurde von Dichtern verschiedener Epochen an den Liedern gearbeitet, Quellen aus der Wikingerzeit, aus der Völkerwanderung und wahrscheinlich noch ältere lassen sich ausmachen und haben unter den Filologen schon für zahlreiche Dispute gesorgt, etwa darüber, ob sich aus den Texten eine germanische Urreligion ableiten lasse, was in den letzten beiden Jahrhunderten oft weniger eine wissenschaftliche als eine ideologische Angelegenheit war.

Kalweit geht bei seiner Neuübertragung und ausführlichen Interpretation der Texte davon aus, dass früher einmal eine vollständige Weltlehre der Germanenvölker existiert hat, und schon die Edda-Lieder nur mehr einen letzten, zur Dichtung herabgesunkenen Nachklang des bereits weitgehend verlorenen Wissens darstellen. Klar fassbar aus den alten Texten und mit Sicherheit einer ihrer ältesten Bestandteile ist das zyklische Weltmodell von der Entstehung der Welt und ihrem Untergang, der Götterdämmerung (wie Richard Wagner übersetzt) oder auf altnordisch "ragnarök" genannt, welches nicht nur mit altvedischen Überlieferungen, sondern auch mit den Ansichten der modernen Fysik (Theorie vom zyklischen Ausdehnen und Zusammenziehen des Weltalls) mancherlei Ähnlichkeit aufweist. Leicht möglich also, dass die alten Germanen - nicht alle natürlich, argumentiert Kalweit, sondern die fähigsten ihrer Zauberer und Priester - auch in andere Bereiche des Seins, die Seele, den Tod usw. genaue Einblicke hatten und diese auch in eine systematische Sprache fassten. Die Ortssymbolik der Edda-Lieder scheint Kalweit dabei recht zu geben. Die Welt der Edda ist dreigeteilt (was allerdings eine gewisse Vereinfachung darstellt, denn es gibt zahlreiche Übergänge, und die drei Welten sind ihrerseits wieder in Regionen unterteilt): in Asgard, die Welt der Götter, damals Asen genannt; Midgard, den mittleren Garten und Wohnsitz der Menschen; und schließlich Hel, die Welt der Riesen, Zwerge und Seelen der Verstorbenen. Daher rührt denn auch der Totenbuch-Titel des Buches; Kalweit lässt nämlich die Heldenlieder der Edda beiseite und konzentriert sich allein auf die Götterlieder, die fast durchwegs im Zwischenreich Hel, in dessen Genuss zu gegebener Zeit auch die entkörperten Seelen kommen werden, spielen. Kalweits Ansatz ist es nun, dass diese mythologische Geografie den Dimensionen des Seins überhaupt entspricht, der Welt der Götter somit die Welt der reinen geistigen Prinzipien, der Welt der Menschen jene der Materie (also jene Welt, die Gegenstand der modernen Fysik ist) und dem Zwischenreich Hel die Welt des Denkens, Fühlens und des Seelischen entspreche. Und so wie sich das Weltall im Prozess des sich Zusammenziehens schließlich auf einen Punkt extremer Dichte konzentriere, um schließlich in einem Urknall ein neues sich entfaltendes Universum zu schaffen, so ziehe sich beim Ragnarök erst die materielle in die seelische Welt, und diese dann in die des reinen Geistes zurück, um dann ebenso aus den wenigen Überlebenden (der gespeicherten Information sozusagen) einen neuen Kreislauf zu beginnen.

In den Mythen, Geschichten und Liedern wurde dieser kosmische Prozess von den alten Germanen allerdings gar nicht abstrakt, dafür aber umso blutiger dargestellt, nämlich als Eindringen der Riesen in Asgard mit anschließender Entscheidungsschlacht gegen die Götter, welche die ganze Welt, außer wie gesagt ganz wenigen Überlebenden in einem kleinen Bereich, mit in den Abgrund reißt. Doch auch abgesehen von diesem finalen Gemetzel kommt den Themen Kampf und Tod in der Edda überragende Bedeutung zu, was bei Germanen allerdings ohnehin die Regel war. Im Kampf, mit der Waffe in der Hand und ohne Furcht galt als die beste Art des Sterbens (wie schon die Kimbern 101 v. Chr. eindrucksvoll bewiesen), welche einen besseren Platz im Totenreich (und möglicherweise auch eine bessere Wiedergeburt) sicherte, eine Vorstellung, die gar nicht abwegig erscheint, zumal man ihr auch bei anderen Völkern (z.B. manchen Indianerstämmen und Japanern der Samurai-Zeit) begegnet, und der letzte Augenblick vor dem Tod in allen großen Religionen als äußerst wichtig angesehen wird, indem er die Basis für das Leben danach, den Reinheitszustand der Seele im Jenseits legt. Geht man nun also davon aus, dass es einst eine Klassifikation verschiedener Todesarten und ihrer Folgen gab, sind die Texte auch diesbezüglich sehr interessant zu lesen. Bei Thor zum Beispiel, dem Gott mit dem berühmten Bumerang-Hammer und der Hauptleidenschaft, so viele Riesen wie möglich zu töten, was zunächst einmal befremdlich bis abstoßend wirken mag, erhalten diese Riesenvertilgungsaktionen eine andere Bedeutung, wenn man bedenkt, dass bei diesen Kämpfen zwei grundverschiedene Dimensionen aufeinanderprallen. Identifiziert man nämlich Thor mit der Welt des reinen Geistes und die zu Jähzorn neigenden Riesen mit Emotion, dann kann man die regelmäßigen und fast immer tödlichen Niederlagen der Riesen gegen Thor als ein Überwinden unreifer Emotionalität durch den Geist deuten. Deutlicher noch als bei Thor, der selbst nicht frei von Riesenblut und Jähzorn ist, wird ein solcher Zusammenprall der Dimensionen bei dem Obersten und Weisesten der Götter. Auch Odin tötet des öfteren Riesen im Zweikampf, nachdem er sich mit ihnen hammerlos, auf eine rein geistige Art in Form eines Wissenswettstreits duelliert hat. Dies ist gleichzeitig einer der berühmtesten Archetypen, auf die man in der Edda stößt: Odin in Verkleidung, wie er andere, sich auf ihre Weisheit viel zugute haltende Personen, zumeist solche, die ihn als Gott gelästert haben oder als Fremden schlecht behandeln, zu einem Wissensstreit herausfordert. Das folgende Frage-Antwort-Duell ist zunächst ein willkommener Anlass für den jeweiligen Dichter, den Leser oder Hörer des Lieds an möglichst viel dieses Wissens teilhaftig werden zu lassen, eines Wissens, das zunächst Wissen über die verschiedenen Welten und ihre Einwohner bedeutet, und in seiner höchsten Form das Wissen über die letzten Dinge der Zukunft, nach Kalweit also die Grundlage der einstigen Kosmologie, betrifft. Wenn der Duellant, ehe er die letzte gestellte Frage Odins nicht mehr beantworten kann, schließlich erkennt, dass er sich mit dem obersten Asen selbst gemessen hat, wird er - hat man den Eindruck - durch eine solche Niederlage, selbst wenn er damit seinen Kopf verlieren sollte, geadelt, spirituell erhöht. Aber so interessant diese Sichtweise auch ist, bleibt sie doch im Bereich der Spekulation. Es gibt in der Edda eben vielerlei Riesen und vielerlei Götter, jede Situation ist verschieden, vieles bleibt, auch wenn das Lied vollständig erhalten sein sollte (was die meisten Lieder sind), allein schon durch die vielen kryptischen Andeutungen offen, und es wird überdies, seitens von Holger Kalweith, von einer systematischen Weltenlehre, die im Laufe der Zeit von verschiedenen Mythen überlagert wurde, ausgegangen.

Kalweits Interpretation der Edda ist also sicherlich etwas einseitig, indem sie sich auf bestimmte Aspekte konzentriert, hat aber den immensen Vorteil, dass sie - im Gegensatz zu den üblichen rein mythologisch-filologischen Lesarten - davon ausgeht, dass die alten Texte auch für den heutigen Leser Bedeutung bergen, als Einübung auf die nach dem Tod zu erwartenden Visionen (hierbei eine starke Parallele zu Schriften wie dem Tibetischen Totenbuch; dass der heutige Leser dabei etwas abstrahieren muss, versteht sich), in erster Linie aber als Sammlung von Situationen des Zusammentreffens der kosmischen Grundkräfte, was die Edda in die Nähe von Orakelbüchern (wie zum Beispiel des chinesischen "I Ching") rückt.

Zur Älteren Edda selbst soll noch so viel gesagt werden, dass die vielen Kämpfe häufig mit List ausgetragen werden, sich hierin Loki, eine unvergleichliche, zwitterhafte Variation des Luzifer, besonders auszeichnet, auch die Liebe nicht zu kurz kommt, sich aber mehr durch Ursprünglichkeit und Derbheit auszeichnet (von hoher Minne sowie - es muss gesagt werden - von Christentum keine Spur in der Älteren Edda!), und abschließend noch, dass es sich nicht nur um ein einzigartiges (literatur)historisches Dokument, sondern bei den meisten ihrer Lieder auch um große Dichtkunst handelt, die gerade in ihrer Mehrschichtigkeit und Bruchstückhaftigkeit eine enorme Quelle der Inspiration sein kann.

(stro; juli 02)


Holger Kalweit: "Das Totenbuch der Germanen. Die Edda - Die Wurzeln eines wilden Volkes"
AT Verlag 2001
392 Seiten
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