Leseprobe aus "Stumme Schuld" von Mitra Devi



Prolog

Das Wasser war eisig. Erst füllten sich ihre Stiefel, dann kroch die Kälte höher, Knie, Oberschenkel, Hüfte hinauf. Furchtlos ging sie weiter. Irgendwo im Wald krähte ein Eichelhäher, ein letzter milchiger Sonnenstrahl schien zwischen den Bäumen hindurch und traf auf den Weiher. Der Boden war weich. Schlammiges Laub wirbelte auf, bei jedem Schritt, den sie tat. Der Rock wurde schwer, schlappte um ihre Beine. Ihre Hände berührten das modrige Wasser, tauchten ein, ihr Bauch verschwand, dann Brust, Schulternn und Hals. Ihr letzter Blick galt einem blattlosen Baum, der vom Blitz bis zu den Wurzeln hinunter in zwei Teile gespalten war. Seine Äster ragten wie gichtige Finger zum Himmel, reglos und schwarz. Sie atmete aus, versnak, ergab sich dem Sumpf. Das Ende war nah, und es war gut. Ihre schuld wurde getilgt, ihre Tat ertränkt im Schlamm. Sie war ein Monster, und Monster sterben grausam. Das eiskalte Wasser drang ihr in Mund und Nase, füllte Lunge und Magen. Es war ein kurzer Kampf. Wider Willen begann sie zu japsen und zu prusten, schluckte die brackige Brühe, spie und schlug um sich, dann verlangsamten sich ihre Bewegungen. Ihre Arme erschlafften, ihr Atem stand still.

Montag

Normalerweise hat man eine Leiche ohne Mörder. Sie hatten eine Mörderin, geständig, vernünftig, höflich - und keine Leiche.
Es war an einem verregneten, windigen Novembermorgen, ockerbraune Blätter wirbelten durch die Straßen und klatschten wie nasse Lappen gegen die Fensterscheiben, als Jan seinen Kopf In Noras Büro streckte und sagte:
"Da behauptet eine Frau, ihren Mann umgebracht zu haben."
Erst dachte Nora Tabani an einen Scherz ihres Kollegen, doch Jans Gesichtsausdruck, eine Mischung aus Überforderung und Neugierde, ließ sie aufhorchen.
Erst vor einem halben Jahr hatte sie, nach fünf Jahren bei der Polizei, das kleine Detektivbüro Im Zürcher Seefeldquartier eröffnet. Noch immer roch es nach frischer Farbe, noch immer standen zwei ungeöffnete Schachteln im Gang, an die Nora sich bis jetzt noch nicht gewagt hatte, da sie ein unübersichtliches Gewühl elektronischer Kabel darin vermutete, ohne die all ihre Geräte jedoch erstaunlich gut funktionierten. Einen Mord hatten sie noch nie gehabt. Gestohlene Handtaschen, entlaufene Edelpudel, Unterschlagungen und Seitensprünge, einmal sogar einen Kunstraub im großen Stil, der sich allerdings später als raffinierter Versicherungsbetrug herausgestellt hatte - aber noch nie einen Mord.
Jan, noch immer zwischen Tür und Angel, fügte hinzu:
"Und sie ist stumm."
Dann trat er einen Schritt zur Seite und bevor Nora fragen konnte, was er meinte, ließ er die Fremde herein und zog sich mit sichtbarer Erleichterung zurück. (...)


Mitra Devi: "Stumme Schuld"  
Pendragon Verlag, 2008. 229 Seiten
Mitra Devi wurde 1963 in Zürich geboren, schreibt und malt seit ihrer Jugend. Sie lebte zwei Jahre in Israel und ein halbes Jahr in Indien. Nach mehreren Ausstellungen und verschiedenen Jobs wie Gärtnerin, Sozialbegleiterin und Marionettenbauerin gelang ihr 2003 ein Erfolg mit ihrem Erstling "Die Bienenzüchterin". Es folgten vier weitere Bücher. 2007 lebte sie ein halbes Jahr als Krimi-Stadtschreiberin in Leipzig. "Stumme Schuld" ist der erste Nora Tabani-Krimi.
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