Andrej Kurkow: "Pinguine frieren nicht"
Säße
man auch beim Lesen dieses Buches wie zu Beginn desselben der Held in der Antarktis
fest, es würde einen trotzdem nicht frieren, denn wie alle Bücher von
Andrej Kurkow hat auch dieses etwas ungemein Erwärmendes. Wer
schon den ersten Teil (deutscher Titel: "Picknick
auf dem Eis") der Pinguin-Trilogie in spe mit Wohlgefallen gelesen hat,
dem sei gleich versichert, dass der zweite Teil ein nicht minder großes
und diesmal immerhin mehr als 500 Seiten langes Lesevergnügen bietet.
In der Zwischenzeit ist Viktor, der Nachrufe verfassende Held, Deckname "Pinguin",
dem mafiösen Versuch, ihn selbstzumorden, glücklich auf die ukrainische
Polarstation entkommen. Nachdem die Luft wieder rein scheint und er sich von einem
ebenfalls in den kalten Süden geflüchteten Schicksalsgenossen, einem
Moskauer Bankier, eine persönliche Botschaft an dessen Gattin hat aufschwatzen
lassen, fliegt er heim nach Kiew, um feststellen zu müssen, dass in seiner
alten Wohnung jetzt ein fremder Onkel mit Sonja und Nina (seine Pflegetochter
und deren Kindermädchen) zusammen lebt. Weit mehr stört ihn allerdings,
dass sein herzleidendes Haustier, der Pinguin Mischa, nach seiner Genesung aus
dem Spital von einigen Herren vom sportlich-geschäftsmäßigen Typ
abgeholt wurde und nun möglicherweise in Moskau Sklavendienste verrichten
muss. Viktor ist freilich nicht der Mann, der sich durch Entfernungen oder Lebensgefahr
abschrecken ließe, erst recht nicht, wo er seit seiner Rückkehr mehr volens als nolens für einen Geschäftsmann arbeitet, der gerade die nächste
Stufe in der Karriereleiter, einen Abgeordnetensessel im ukrainischen Parlament,
erklimmen will, also zusätzlich zu seiner allgemeinen Menschenkenntnis mittlerweilen
tiefere Einblicke in die postsowjetischen Machtstrukturen getan hat. Sowie der
Wahlkampf vorbei ist, stürzt Viktor sich halsüberkopf in das nächste
Abenteuer: es gilt den Pinguin zu finden, ihn zunächst nach Kiew und schließlich
in die Antarktis, wo Königspinguine üblicherweise anzutreffen sind,
zu bringen.
Soweit der äußere
Rahmen für eine typische Geschichte à la Kurkow voller seltsamer
Abenteuer, unerwarteter Wendungen und wechselnder Schauplätze (Kiew, Moskau,
Tschetschenien, Split).
Dass beim Erzählen trotz der zum Teil doch sehr fantastischen Geschehnisse
gleichzeitig ein Gefühl der inneren Ruhe und eines natürlichen Ablaufs
entsteht, liegt in erster Linie an dem Helden des Buches, Viktor, der im Grunde
auch in der ersten Person erzählen könnte, zumal Kurkow wirklich manchmal,
an unwesentlichen Stellen, Persönliches einfließen lässt. Was
die Atmosfäre des Buches weitgehend prägt, ist die ungezwungene Emotionalität,
die Viktor mit einer Art naiver Trance instinktsicher durchs Leben schreiten
lässt und tendenziell das Beste in den Menschen, mit denen er in Berührung
kommt, zum Vorschein bringt. Sind diese Menschen inklusive Viktor selbst auch
in alle möglichen Gaunereien verstrickt, frönen sie kleineren und
größeren Lastern, hören sie trotzdem nicht auf, als Menschen
zu fühlen, auf allgemein Menschliches mitfühlend zu reagieren. Mit
der materialistischen, zynischen und speziell im Geheimdienstmilieu überaus
harten Alltagswirklichkeit verträgt sich diese Grundeinstellung natürlich
nicht immer gut, und die vielen Befreiung suchenden Seufzer (tatsächlich
kenne ich kein anderes Buch, in dem so häufig geseufzt wird wie in dem
vorliegenden), die sich dabei entringen, dienen als basishumanistische Erkennungsmerkmale.
Für humanitäre Fragen ist Viktor in der Mannschaft seines Parlamentariers
zuständig, Kurkow, könnte man ergänzen, übt auf eine subtile
Weise dieselbe Funktion für die russischsprachige Literatur aus.
(fritz; 09/2003)
Andrej Kurkow: "Pinguine frieren nicht"
(Originaltitel: "Zakon Ulitki")
Aus dem Russischen von Sabine Grebing.
Diogenes. 537 Seiten.
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Rund zehn Jahre nach der Orangen Revolution blickt die Welt wieder gebannt auf
die Ereignisse in der
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Krim durch Russland,
die drohende Spaltung des Landes - aber wie ist es dazu gekommen? Und wie wird
es weitergehen?
Andrej Kurkow lebt wenige Gehminuten vom Majdan-Platz entfernt und hat das
Geschehen Tag für Tag hautnah miterlebt. In diesem hochaktuellen Buch liefert er
eine sehr persönliche Chronik der Ereignisse in seiner Heimat und schildert die
Tage des Umbruchs jenseits gängiger Klischees. Zudem beleuchtet er
schlaglichtartig die wechselvolle Geschichte der Ukraine und porträtiert die
handelnden Personen - Majdan!, wie es wirklich war. (Haymon)
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