Jean-Hubert Martin (Hrsg.):
"Dalí und die Magier der Mehrdeutigkeit. Das endlose Rätsel"

Das Überblickswerk zur Geschichte der Doppelbilder vom 11. Jahrhundert bis heute

Anlässlich der von 22. 2. bis 9. 6. 2003 stattfindenden die Ausstellung " 'Das endlose Rätsel' - Dalí und die Magier der Mehrdeutigkeit" im Düsseldorfer "museum kunst palast" erschienen, vereinigt das prächtige Buch zu diesem Thema die Bilder dieser Ausstellung mit detailreichen Besprechungen der erstaunlichen Thematik.


Der Reiz eines Bildes liegt darin, wie sich der Beobachter in ihm spiegeln kann. Und zwar nicht als unbeteiligter "Zaungast", der das Kunstwerk zu interpretieren sucht, sondern als Teil der innewohnenden Magie, die manche Bilder ausstrahlen. Es gibt wunderbare Filme, in denen Menschen in die betrachteten Werke eintreten, wodurch zeitliche Abstände buchstäblich aufgelöst werden. Am bekanntesten wohl die Szene in "Yume" des genialen Regisseurs Akira Kurosawa, wo ein Mann direkt in ein Bild von Vincent van Gogh einsteigt und durch eine prächtige Sonnenblumenlandschaft wandert. In literarischer Hinsicht will ich nur auf "Die unendliche Geschichte" von Michael Ende hinweisen, die den Leser Bastian direkt in die Geschehnisse des Buches einschweißt.

Die Symbolwirkung spricht für sich. Der Künstler schafft ein Werk nicht bloß, um sich selbst einen Gefallen zu tun. Der kunstinteressierte Mensch muss Kunst nicht "analysieren", um daraus irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Zwar braucht es die Kunsthistoriker, weil Hintergründe beleuchtet und vertieft werden sollten; doch ist der grundsätzliche Wert der Kunst immer die Zeitlosigkeit, durch die der Betrachter eine Brücke zwischen dem Kunstobjekt und sich schlägt. Nirgends ist diese Kraft stärker als bei mehrdeutigen Kunstwerken. Wenn in der Literatur mehrere Erzählstränge ineinander übergehen und somit die Gesamtwirkung an keiner vorgegebenen Linie "produziert" werden kann, sind den interpretatorischen Kräften des Lesers keine Grenzen gesetzt. Es ist keineswegs unbedeutend, dass das Chaos eine Hauptinstanz ist, durch die ein Buch an Kraft gewinnen kann. Ein gutes Beispiel dafür mag der New Yorker Autor Paul Auster ein. Die "New York Trilogie" etwa spielt mit diversen Ebenen der Betrachtung, und der Leser ist aufgefordert, die verschachtelten, vom Zufall durcheinandergewirbelten Perspektiven in einen Zusammenhang zu bringen.

Bei Bildern ist die Angelegenheit noch komplexer. Salvador Dalí war ein Meister der Ineinanderverschiebungen von Ebenen, wodurch Eindrücke entstehen, die je nach Betrachtungsweise differenter nicht sein können. Die "eindeutige Zuordnung" eines Bildkonzeptes scheitert kläglich, und selbsternannte Kunstexperten, wie sie etwa von Woody Allen immer wieder auf die Schaufel genommen werden, müssen sich den systemimmanenten Mehrdeutigkeiten beugen. Das Erstaunliche an den mehrdeutigen Bildern, die verschiedene Ausprägungen haben (also etwa Anamorphose, Drehbild, Harfenbild oder Vexierbild), ist, dass sie in allen Kulturen auftauchen und nicht auf einen bestimmten Kontinent beschränkt sind. So gibt es uralte afrikanische Figuren, die je nach Sichtweise ein Tier oder einen Gegenstand oder auch einen Phallus darstellen. Indische Komposit-Elefanten (in denen sich alle möglichen anderen Tiere spiegeln) sind aus dem 16. und 17. Jahrhundert überliefert. Arcimbaldo mit seinen kulinarischen Bildern ist wohl neben Dalí der bekannteste Vertreter mehrdeutiger Bildkunst. Die "Rorschach"-Bilder werden Menschen vorgelegt, sodass diese Interpretationen des Gezeigten liefern. Nicht nur in der Psychiatrie, sondern ebenso in der Kinderpsychologie eine gute Möglichkeit, die Fantasie der Menschen "abzuprüfen" und daraus eventuelle Schlüsse in Bezug auf psychologische Störung bzw. innere Blockaden und traumatische Erlebnisse zu ziehen.

Während Dalí als Hauptvertreter der Mehrdeutigkeit sehr viel Platz gegeben wird, gibt es nur wenig Raum für M. C. Escher, einen wahren Meister seines Fachs. Wer "Gödel, Escher, Bach" gelesen hat bzw. zumindest den Versuch startete, weiß, wie genial diese "Endlosschleifen" sind, die für Escher ein Grundthema waren. Der sich ausbreitende Raum spiegelt eine Erweiterung der Dreidimensionalität vor, und die Übergänge der Perspektiven bilden eine Vorstellung der Unendlichkeit, wie sie ansonsten nur Mathematiker definieren wollen. Auch heute gibt es einige Künstler, die sich mehrdeutiger Bildern annehmen und dabei erstaunliche Kraftakte setzen. Besonders hervorzuheben ist der New Yorker Künstler Robert Silvers (1968 geboren), der mit dem Medium des Fotomosaiks arbeitet. Aus einer nahezu unendlichen Anzahl von Fotos setzt er Motive, die häufig berühmte Werke der Kunstgeschichte oder Persönlichkeiten aus Politik und Film abbilden, zusammen. Er bedient sich einer selbst entwickelten Software, sodass man seine Arbeiten als eine Art Hightech-Pointillismus bezeichnen kann. Nick Hornby schreibt in seiner Geschichte "Nipple Jesus" gekonnt von diesem Phänomen: Aus "unendlich" vielen Brüsten wird ein Bild zusammengesetzt, das als Ergebnis den gekreuzigten Jesus zeigt. Nur ganz aus der Nähe besehen sind die Brüste erkennbar, woraus auch das Geheimnis des Bildes abgeleitet ist.
Freilich wird dieses Bild zum Skandal, obzwar es als religiöses Motiv keineswegs eine Verspottung demonstriert. Die Frage, wie weit Kunst gehen kann, stellt sich bei Betrachtung des vorliegenden Bildbandes immer wieder. Der Kunst sind keine Grenzen gesetzt, und die "Freiheit der Kunst" ist unendlich. Für den Rezensenten besonders gelungen sind jene Bilder von Dalí, wo der Meister Liebe und Tod auf eine beeindruckende Weise miteinander verbindet. Die Darstellung eines Totenkopfes, in dem sich ein Liebespaar spiegelt - und umgekehrt - trägt in sich eine Magie, die unmöglich bestritten werden kann. Die Zeitlosigkeit weitet sich mächtig aus und gesellt sich zu den räumlichen Unendlichkeitsverschiebungen eines M. C. Escher.

Schon ein "gewöhnliches" Bild vermag unglaublich viele innere Eindrücke zu suggerieren. Doch mehrdeutige Bilder potenzieren mögliche Eindrücke ganz gewaltig. Die Welt ist farbenprächtig, und der Mensch sich selbst nur schwer verständlich. Das Unterbewusstsein verarbeitet mehr, als das Bewusstsein je ans Licht bringen kann. Als Kontrast zur ungehemmten Informationsflut, die den Schädel leicht zum Bersten bringen kann, setzt die Rätselhaftigkeit mehrdeutiger Bilder auf die Fantasie und Lebendigkeit des Betrachters. Er ist kein bloßes Organ mehr, das sich leicht beeinflussen lassen kann. Vielmehr wird der Betrachter zum erweiterten Pinsel des Künstlers, um Raum und Zeit zu verlassen und seine eigene Metaphorik in Herz und Kopf auszubilden.

 (Jürgen Heimlich; 04/2003)


"Das endlose Rätsel. Dalí und die Magier der Mehrdeutigkeit"
Mit Texten von Dawn Ades, Stephan Andreae, Elisabeth Bronfen, 
Claudia Dichter, Jean-Hubert Martin, Karin Rührdanz.

Hatje Cantz, 2003. 284 Seiten, 235 Abbildungen, mit einem Glossar zu den Fachbegriffen. 
ISBN 3-
7757-1282-8.
ca. EUR 49,80.
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