Roger Van de Velde: "Knisternde Schädel"

Erzählungen


"Anfangs hatte ich die Absicht, diese Seiten den sonderbaren Gesellen zu widmen, die ich, mal amüsiert und dann auch wieder erschreckt, diese ganze Zeit beobachtet habe, ähnlich wie ein Kind in sprachlosem Staunen dem ungenierten Herumtoben und den sinnlosen Zankereien der Paviane im Zoo zusieht. Doch was hätten sie mit ihren knisternden Schädeln von einer solchen Zueignung? Die meisten würden sich aus den Druckbögen Papierhüte basteln, und kein Zweifel, manch einer würde sie mit Appetit verdrücken. Was eigentlich gar nicht so unsinnig ist. Die seltsamsten und wahrscheinlich besten Geschichten stehen nicht in diesem Buch, denn irgendwo liegt eine Grenze, wo das Unbegreifliche auch unaussprechlich wird. Immer wenn ich diese Grenze überschreiten wollte, erlebte ich, dass die Worte in ihrer Kraftlosigkeit ihren Inhalt verloren." (Roger Van de Velde, unveröffentlichtes Vorwort zu "De knetterende schedels")

Roger Van de Velde, geboren am 13. Februar 1925 im belgischen Boon, war Journalist und Schriftsteller. Nach mehreren Magenoperationen wurde ihm anno 1958 das damals neue, stark abhängig machende Medikament "Palfium" verschrieben. Seine Medikamentensucht bescherte ihm aufgrund von Rezeptfälschungen ab 1961 mehrmals lange Aufenthalte in Gefängnissen und geschlossenen Anstalten. Damals existierten nämlich noch keine entsprechenden medizinischen Einrichtungen bzw. Therapieangebote, sodass er jahrelang entweder unter Verbrechern oder Geisteskranken leben musste, übrigens nur sehr selten in einer Einzelzelle.
"Knisternde Schädel" verfasste der vorübergehend sogar mit Publikationsverbot belegte Van de Velde heimlich im Jahr 1969, die Texte wurden von seinen ihn besuchenden Verwandten aus der Psychiatrie in die "normale" Welt hinausgeschmuggelt und dort veröffentlicht. Auf Deutsch erstaunlicherweise erst im Jahr 2024 - Wahnsinn ist offenkundig zeitlos.
Der Autor starb am 30. Mai 1970 vor einem Antwerpener Café an einer Überdosis "Palfium", einige Zeit nachdem er den Literaturpreis "Arkprijs van het Vrije Woord" erhalten hatte, übrigens wenige Tage vor Antritt einer Entziehungskur.

"Knisternde Schädel" beinhaltet zwanzig vitale Erzählungen, die den Anstaltsalltag anschaulich wiedergeben, indem Gespräche sowie Vorfälle und Erlebnisse mit anderen Insassen, Aufsehern und Ärzten beschrieben werden, laufend stimmig garniert mit Van de Veldes Schriftstellergedanken. Der Autor beherzigte freilich stets den im Jahr 1943 von Willem Elsschot erhaltenen, im Nachwort abgedruckten guten Rat, nüchtern und ausschließlich über Menschen und Dinge zu schreiben, die er kannte.
Wie viele hoffnungslos unterbelichtete Neuerscheinungen blieben uns erspart, hielten sich die Heerscharen heutiger selbsternannter Kreativschreiblustiger wenigstens an diese einfache Regel ...

"Ganze fünf Jahre lang hatte sich ein halbes Dutzend selbstbewusster Psychiater erfolglos bemüht, mir zu helfen - falls sie dabei Hilfe bezweckten, denn gegenüber psychiatrischer Nächstenliebe bin ich äußerst misstrauisch. Wenn es darauf ankommt, die Beweggründe der menschlichen Psyche auszuloten, traue ich Dichtern wesentlich mehr zu als Ärzten. Erstere kennen sich natürlich auch nicht in der Materie aus, aber wenigstens gelingt es ihnen hin und wieder, ihr blindes Tasten und Suchen nach dem Wesen der Dinge in eine klingende, bewegende Sprache zu übertragen." (S. 96)

Die von Roger Van de Velde festgehaltenen, schauplatzbedingt überwiegend verstörenden Szenen und Charaktere gestatten es dem Leser, einen literarisch verfeinerten, also bisweilen auch ironischen Blick hinter die Kulissen der Menschenverwahrungseinrichtungen seiner Zeit zu werfen. Naturgemäß herrschten in der Psychiatrie rohere Sitten und bedrohlichere Zustände als in der angestammten Außenwelt. Wobei allem Anschein nach meistens relativ sichere Strukturen und Routinen etabliert waren, die dem Autor genaue Beobachtungen sowie aufschlussreiche Gespräche ermöglichten.
"Weiß war der Kater" handelt von jähzorniger Vergeltung, "Gefrorenes Wasser" von Korrespondenz mit dem taubstummen Leidensgefährten Séraphin, "Der entzauberte Fetisch" von einer denkwürdigen Rasur durch den keineswegs grundlos feindseligen Evarist, "Schreiberamt" von der undankbaren Aufgabe, Briefe für Irre zu Papier zu bringen, "Nackt" von einem Anfall eines "Haut-und-Knochen" genannten Schicksalsgenossen.
In "Die Anweisungen des Prometheus" schildert der Erzähler Daniels Rauchrituale und Anfall samt Krise und Verlegung in eine andere Anstalt, "Homilie" mehr oder weniger religiös angehauchte Gedanken, nachdem ein Mitinsasse gestorben ist. In "Antwort auf eine Frage" muss sich der Erzähler gegenüber einem Griechen zu einer frei erfundenen Antwort auf die Frage nach dem "Wie lange?" durchringen.
Den schnorrenden Marquis de la Motte, der bedenkenlos Schuldscheine verteilt und absurde Fluchtpläne wälzt, sowie sein tatsächlich anrüchiges Geschenk behandelt die neunte Erzählung ("Heringe im Glas"). Die zehnte den langwierigen Versuch, den Auftrag eines Aufsehers auszuführen, "Mosche Scheronim" möge seine unzulässige Aufmachung ablegen.
Tödlich endet "Monsieur Delcourt und die Würmer" für einen belesenen Anstaltsinsassen, in "Brief an den König" diktiert der 66-jährige Kriegsveteran Jeroom Corthals dem Erzähler sein uneinsichtiges Aufbegehren sowie Aspekte seines Falls.
Eine schwer verdauliche "Lektion in Philosophie" erteilt der seit 32 Jahren internierte Bulgare Casimir, quasi ein auskunftsfreudiges wandelndes Lexikon mit Mordfantasien, dem Erzähler über das Glück.
Die für den Erzähler um ein Haar verhängnisvolle Schachpartie mit einem unberechenbaren Neuankömmling schildert "Die Regeln des Spiels", in "Kniender Herkules" gerät der unbeteiligte Erzähler mitten in einen Zweikampf, und eine spezielle Kappe kehrt zu ihrem Besitzer zurück. Über die Bedeutung der Tätowierung "Margaritas ante porcos" auf dem rechten Arm des Neulings Benedikt Schmitt rätselt und unterhält sich der Erzähler in der längsten Geschichte, zudem schimpft er über Mediziner und ihre Methoden, zu denen keinesfalls Yoga und Zitronensaft zählen ...
"Der Kunstmaler" Gerard Brasseur landet nach ruinösen Umtrieben und einem Mord in der Anstalt, wo er sich gelegentlich mit dem Erzähler unterhält, allerdings beschleunigt die angewandte Therapie den Verfall.
Die Tochter und der Schwiegersohn des 83-jährigen Livinus wollen mit Kuchen am Spitalsbett "Abschied von Livinus" nehmen, dieser verlangt beharrlich nach Wacholderschnaps, was zu Komplikationen führt. In der vorletzten Erzählung entlockt Honoré der aufgrund eines Missverständnisses vom Arzt zur Entspannung verordneten "Trompete" tagelang pflichtschuldigst grässliche Laute, bis ein Aufseher zumindest dem akustischen Schrecken ein Ende bereitet. "Die verbotenen Gegenstände" bekommt ein aus langjähriger Haft zu Entlassender von einem Aufseher ausgehändigt, doch liegt aller Wahrscheinlichkeit nach ein baldiges Wiedersehen in der Luft.

Das von der 1961 geborenen Übersetzerin stammende Nachwort trumpft mit der einen oder anderen zeitgeisthörigen Sprachwehtat auf, liefert jedoch immerhin einige Einblicke in das tragische Leben und bleibende Werk des Autors.

(Felix; 02/2024)


Roger Van de Velde: "Knisternde Schädel. Erzählungen"
(Originaltitel "De knetterende schedels")
Aus dem belgischen Niederländisch und mit einem Nachwort von Annette Wunschel.
Bibliothek Suhrkamp, 2024. 143 Seiten.
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Ergänzender Buchtipp:

Ellen van Pelt: "Deze wereld is geen ergernis waard. Biografie Roger Van de Velde"

In de woelige jaren zestig trok Roger Van de Veldes tragische levensloop de aandacht. Hij werd opgesloten vanwege het vervalsen van doktersvoorschriften voor een medicijn dat hem voor zijn maag was voorgeschreven. Acht jaar bracht hij door achter tralies. Ten onrechte werd zijn literaire werk overschaduwd door zijn leven. Vijftig jaar later beklijven zijn teksten nog altijd. Zijn verhaal, zijn leven en werk hebben recht op antwoord. Hij was meer dan een verslaafde achter tralies. Hij was een vader, een echtgenoot, een getalenteerd journalist en bovenal een bijzonder goed schrijver. (Uitgeverij Vrijdag)
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