Vladimir Sorokin: "Die rote Pyramide"

Erzählungen


Ein kurzweiliger Schaffensquerschnitt in Gestalt von extra für den deutschsprachigen Raum, wo das "als ob" auch längst angekommen ist, so kombinierten Texten

Vladimir Sorokin, am 7. August 1955 geboren, ist ein belesener, emsiger Schriftsteller, dessen Vielseitigkeit, Detailfreude und Fantasie auch in kurzen Erzählungen eindrucksvoll zur Geltung kommen.
Die in diesem Band versammelten Texte bieten Stilvolles, Groteskes, Brutales, Derbes, Ordinäres - also sollte für jeden Leser etwas dabei sein. Kräftige, wie Miniaturdramolette wirkende Dialogszenen und ruhige Erzählsequenzen gestalten die Lektüre ebenso abwechslungsreich wie anschaulich. Lediglich einige Traum- und Rauschtextkonstruktionen lahmen lästig aufgrund von allzu penetranten Wortwiederholungskaskaden; derlei eignet sich vielleicht doch besser für Bühnenspiele.

Der kriegsbedingt im Berliner Exil lebende russische Schriftsteller, der als manchmal provokanter Systemkritiker und auch als Kultfigur, geschätzt von den Einen, angefeindet von den Anderen, gilt, war übrigens im Oktober 2022 Ehrengast beim Festival "Literatur im Nebel" im niederösterreichischen Waldviertel.

In der titelgebenden Erzählung (aus dem Jahr 2018) erblickt der herzkranke Journalist Jura Jahrzehnte nach einer sonderbaren Begegnung mit einem offenbar Allwissenden auf einem Provinzbahnhof sterbend endlich doch "Die rote Pyramide" auf dem Roten Platz in Moskau, welche seit Lenins Zeit (unsichtbar) die innere Ordnung der Menschen mit ihrem permanenten roten Rauschen stört. Zwischen beiden Vorfällen rollt Sorokin den kurzflorigen Lebenslaufteppich eines gezähmten Emporkömmlings mit missratenem Sohn aus.

"Das schwarze Pferd mit dem weißen Auge" präsentiert Sorokin als einfühlsamen, traditionsbewussten und gemächlichen Erzähler. Geschildert wird ein Tag der Familie Panin beim Mähen, die Natur in malerischen Szenen eingefangen, wobei die zehnjährige Dascha beim Erdbeerenpflücken immer tiefer in einen finsteren Wald gerät ... Eine Erzählung mit märchenhaften Elementen.

"Wellen" aus dem Jahr 2006 zeigt ein recht durchschnittliches Ehepaar in seiner Datscha: den überarbeiteten Sonderling und die liebestolle Gemahlin. Genüsslich überfrachtete Ganzkörperbeschreibungen, Bettgeflüster und innere Monologe der (unfreiwillig?) erheiternden Art, Traumsequenzen, Erinnerungen - jedenfalls zwei Leben mit berechenbaren Höhepunkten.

"Das rostige Mädchen" (aus dem Jahr 2018) erzählt von einem hübschen, doch armen Mädchen, das sich keinen zwangsmodischen "Blocker" leisten kann und daher beim Gehen erbärmlich quietscht, was Passanten zu unfreundlichen Kommentaren und schiefen Blicken veranlasst. Erschwingliche Rettung findet sich im Kellergeschäft "Zum hinkenden Ali", wo Abdullah mit seinem Schmierkännchen routiniert zur Tat schreitet.

Eine ebenso fulminante wie extrem brutale Geschichte wird in "Der Fingernagel" (ebenfalls aus dem Jahr 2018) geboten: Zuhause bei den Bobrows findet ein opulentes Abendessen mit geladenen Gästen statt, auch edle Getränke werden aufgetischt. Man isst und trinkt tüchtig, plaudert, amüsiert sich, doch entwickelt sich aus hygienischem Anlass, (es gibt kein Klopapier, worauf die Gastgeber auch noch argumentationsreich stolz sind), eine bereits im Keim aggressive Diskussion, die in Mord und Totschlag ausartet, woran ursächlich der Sohn der Gastgeber mit einer allzu unverblümten Aussage Schuld trägt. Dieser Sohn sieht sich nach seiner überstürzten Flucht vom Ort des grausamen Geschehens prompt im Bahnhofswartesaal abermals von jemandem mit einem besonderen Fingernagel bedroht.

Womöglich fragen Sie sich inzwischen, was es mit dem eingangs erwähnten "als ob" auf sich hat? Damit wird auf folgende Passage aus der anno 2017 erstveröffentlichten brillanten mehrschichtigen Erzählung "Lila Schwäne" Bezug genommen: "Ihr wisst, wo wir alle leben, in welchem Land, welchem Staat. Hier ist alles, als ob. Ruhe - als ob, Freiheit - als ob, Gesetze - als ob, Ordnung - als ob, ein König - als ob, Bojaren - als ob, Knechte - als ob, Adel - als ob, Kirche - als ob, Kindergarten - als ob, Schule - als ob, Parlament - als ob, Gerichte - als ob, Krankenhäuser - als ob, Fleisch - als ob, Flugzeuge - als ob, Wodka - als ob, Business - als ob, Autos - als ob, Fabriken - als ob, Straßen - als ob, Friedhöfe - als ob, Rente - als ob, Käse - als ob, Frieden - als ob, Krieg - als ob, Heimat - als ob." (S. 130)
Über Nacht sind alle atomaren Sprengköpfe Russlands zu Zuckerhüten geworden, und nur ein höhlenbewohnender Geistlicher soll helfen können. Daher versammeln sich Militärs, Medienmeuteleute und allerlei Aktivisten mehr oder minder substanzlos palavernd vor dem Felsen, doch der erwiesenermaßen wunderwirkende Vater Pankrati, auch des Gedankenlesens kundig, will allein mit dem aufgeweckten Assistenten Alex sprechen. In luftiger Höhe entspinnt sich ein recht einseitiges, nichtsdestotrotz für den Leser sehr unterhaltsames Gespräch, in dessen Verlauf sich der Starez endgültig einmauert, Alex den besten Tee seit langer Zeit trinkt und den an alle gerichteten Rat bekommt, zu schlafen.
Dornröschen und Schneewittchen treten natürlich nicht in Erscheinung, und überhaupt ist kaum etwas so, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. In Sorokins Texten sind ja immer überraschende Kehrtwendungen möglich. Es gibt sie übrigens offenbar doch auch in der Wachwelt: lila Schwäne!

"Der Tag des Tschekisten" (aus dem Jahr 2018) beginnt mit einem eigenwilligen Rollenspiel und strenger russischer Kost, bevor Mark zu einem Jugenderinnerungsmonolog darüber ausholt, wie einst der verheiratete Pionierleiter Marat die jungfräuliche Gruppenleiterin Sascha zur sexuellen Unterwerfung (die drastisch geschildert wird) gezwungen und ihr dergestalt hautnah das Funktionieren des Netzwerks von Gefälligkeitsdiensten erläutert hat, das Erwachsenen auf ihren Wegen helfen oder sie vernichten kann.

In "Das Tuch" (auch aus dem Jahr 2018) hat sich eine Frau mit Sublimat vergiftet, und ein Mann zeichnet die "Halluzinationen" mit einem Diktiergerät auf. Es geht um Kindheits- und Jugenderinnerungen (seitenlang wird "halshoch gesprungen"), um ein - wie sich viele Jahre später bei einem verschlankten Klassentreffen herausstellt - gar nicht so einzigartiges Nackterlebnis mit der aus reichem Haus stammenden damaligen Klassenkameradin Scharban; "Ich auch" ...

Genaue Mengenangaben bei harten Getränken mögen bisweilen durchaus nützlich sein, so zum Beispiel in der klischeedurchtränkten Erzählung "Hiroshima" (2002 für den Moskauer "Playboy" verfasst).
Ob zwei betrunkene Freunde in einem Restaurant, zwei betrunkene Obdachlose in einem Abbruchhaus, zwei betrunkene, bekokste Nackte in einem Bett - die jeweilige Szenerie wird anschaulich beschrieben: Sie alle "begannen, einander zu würgen"! Zwei alte (allem Anschein nach nicht betrunkene) Frauen in einer Dorfhütte erhängen sich nach Gebeten und einer geteilten Mahlzeit, zwei Mädchen in einem Kindergarten probieren Verhaltensweisen Erwachsener aus - "und begannen, sich zu würgen".
Diese Erzählung endet konsequenterweise mit einer weiteren zumindest irritierenden Szene, in der eine nackte Frau im Mondlicht an Toten, Sterbenden und Ruinen einer verkohlten Stadt vorübergeht und die gerade geborenen Welpen einer todgeweihten Hündin säugt. Ein apokalyptisches Rätselbild? Romulus und Remus einmal ganz anders?

Wie dem auch sei, jenseits von Alkohol, Aggressionen, Alltagskrisen und Atomwaffen gelten selbstverständlich auch heute noch Träume als höchstpersönliche Refugien. Vielleicht träumen Sie demnächst davon, mit welcher Farbe und von welchem Ort aus Ihre Umgebung ideologisch berauscht wird?

(kre; 08/2023)


Vladimir Sorokin: "Die rote Pyramide. Erzählungen"
Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg.
Kiepenheuer & Witsch, 2022. 191 Seiten.
Gebundenes Buch bei amazon.de bestellen

Taschenbuch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen

Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs"

In der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts werden Bücher nicht mehr gelesen, geschweige denn neu gedruckt, sie dienen als Brennmaterial für die Zubereitung exklusiver Speisen. Book'n'Grill heißt der neue Trend, und Chefkoch Geza ist sein Hohepriester.
Stör-Schaschlik über Dostojewskis "Der Idiot" oder Schnitzel über Arthur Schnitzler, mit diesen und anderen Kreationen begeistert er seine zahlungskräftige Klientel. Doch was Erfolg hat, findet auch Nachahmer, und so sieht sich Geza plötzlich vor unerwartete Probleme gestellt.
Ein geniales Romanfeuerwerk voll absurder Einfälle und beißender Gesellschaftskritik. (Kiepenheuer & Witsch)
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen

"Der Tag des Opritschniks"
Russland im Jahr 2027. Das Land hat sich vom Westen abgeschottet, lebt allein vom Gas- und Ölexport, pflegt Handelskontakte nur noch mit China und ist von der Großen Russischen Mauer umgeben. Es wird vom "Gossudar", einem absoluten Alleinherrscher, regiert. Und wie einst Iwan der Schreckliche übt dieser seine Macht mithilfe der Opritschniki, der "Auserwählten", aus: einer Leibgarde ergebenster Gefolgsleute, die vor keiner Bestialität zurückschreckt und der beinahe alles erlaubt ist.
Sorokins Romanvision aus dem Jahr 2006 ist eine schmerzhafte Satire, eine negative Utopie. (Kiepenheuer & Witsch)
Buch bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen