Anna Mitgutsch: "Die Annäherung"


Seit mehr als fünfzig Jahren liest der Rezensent nun schon Romane. Er hat sie nicht gezählt, aber in noch keinem hat er eine Hauptfigur erlebt, die so alt war wie Theo, der Vater der Erzählerin des neuen Romas von Anna Mitgutsch.
Sechsundneunzig Jahre ist er alt, in zweiter Ehe mit Berta verheiratet, als er nach einem Schlaganfall zwar erstaunlich schnell wieder auf die Beine kommt und auch seine sprachlichen Fähigkeiten wiedererlangt, insbesondere aber nach einem Krankenhausaufenthalt seiner Frau eine ständige Betreuungsperson braucht.

Seine Tochter Frieda, mit der er den Kontakt quasi abgebrochen hat, seit er nach dem Tod seiner ersten Frau die jüngere Berta kennengelernt hat, nähert sich ihm wieder an, während Berta in der Klinik ist, und organisiert auch eine Pflegekraft. Die junge Ludmila aus der Ukraine wird dem alten Theo zu einem Menschen, der ihm zuhört, bei dem er sich fallen lassen kann und durch dessen Menschlichkeit sich auch seine Beziehung zu seiner Tochter "annähert".

Über den Zeitraum eines Jahres (die Kapitel sind mit "Winter", "Frühling", "Sommer", "Herbst", "Winter" überschrieben) erzählt Anna Mitgutsch nicht nur die Geschichte einer schwierigen Vater-Tochter-Beziehung, sondern auch die Geschichte eines ganzen Jahrhunderts am Beispiel von Theos Leben.

Frieda, deren Aufzeichnungen sich mit den Notizen eines auktorialen Erzählers abwechseln, ist zum Zeitpunkt der Handlung selbst schon über sechzig Jahre alt, hat ihren einzigen Sohn Fabian bei einem Unfall verloren und lebt allein. Einzig in Edgar hat sie einen Freund, mit dem sie über die Jahre gerne eine Beziehung eingegangen wäre, der aber ihre zögerlichen Angebote nie erwiderte. Dennoch bleibt er in ihrem Leben und auch in der Geschichte, die Anna Mitgutsch erzählt., so etwas wie ein weiser Berater, einer der deuten und  interpretieren kann, und dem es gelingt, eine zwar wackelige, aber immer tragfähigere Brücke für sie zu konstruieren, auf der sie sich über dem Abgrund einer für sie dunklen und schuldbeladenen Vergangenheit ihres Vaters als Soldat im Zweiten Weltkrieg ihm wieder annähern kann.

Irgendwann, als sie sich zusammen im Auftrag des Vaters aufmachen, um Ludmila in der Ukraine zu suchen, nachdem diese nach einem schweren Streit mit Berta fluchtartig nach Hause zurückgekehrt ist, sagt Edgar in einem intensiven Gespräch über die Last der Vergangenheit und auf Friedas Frage, ob sie nicht alle Kinder von Mördern seien, folgende nachdenkliche Sätze, die so etwas wie das Zentrum des Romans bilden:
"Im Lauf meines Lebens bin ich draufgekommen, dass es auf solche Fragen keine einfachen Antworten gibt. Es müsste vielmehr Wörter zwischen schuldig und schuldlos, zwischen Schuld und Unschuld geben. Keiner aus unserer Generation weiß, ob er von einem Mörder gezeugt und großgezogen wurde. Dir ist es wichtig, weil er dein Vater ist, aber schau dich doch um, was haben wir bisher gesehen? Die Leere einer zerstörten Kultur, zerstörte Synagogen, zerbrochene und abgetragene Grabsteine, die jüdische Hälfte der Bevölkerung vernichtet, auch sechzig Jahre später findest du nichts als Leere und die Spuren der Vernichtung, wo immer er und seine Kameraden durchgezogen sind. Das ist der Fußabdruck seiner Generation, das ist von ihr übrig geblieben. Welche Beweise von Schuld braucht es denn noch?"

Es ist diese Schuld, die zwischen Frieda und ihrem Vater steht, seit sie im Alter von zwölf Jahren bei einer Freundin Bilder von getöteten Juden gesehen hat, die der Vater der Freundin aufgenommen und bei sich zu Hause versteckt hatte. Was hat ihr Vater getan? Hat er Menschen getötet? Warum hat er sich nicht gewehrt? Und vor allen Dingen: Hängt diese Schuld wie eine Art Erbe auch an ihr? Kann sie damit leben? Was ist ihre Verantwortung als Kind eines Täters?

Diese Fragen lassen Frieda keine Ruhe. Als junges Mädchen dringt sie in ihn, heftig und ohne Gnade, doch Theo, der schon gerne darüber reden würde, fühlt sich an die Wand gestellt und blockt ab. Sie wird durch die Lektüre von Hunderten von Büchern zu so etwas wie einer Spezialistin aller deutschen Feldzüge und aller Vernichtungsorte, wo die Wehrmacht und die SS ihr unmenschliches und tödliches Unwesen getrieben haben.

Fast besessen davon, kommt sie nicht von ihrem Vater los, obwohl sie sich nicht an eine einzige Umarmung oder Zärtlichkeit von ihm erinnern kann. Und so sucht sie zusammen mit Edgar, als sie Ludmila Theos Botschaft bringen, auch ihre eigene Geschichte zu verstehen.

An einer Stelle, als es mit Theo schon langsam zu Ende geht, beschreibt sie das schwierige Verhältnis zu ihrem Vater  mit folgenden Worten:
"Worüber sollten  wir reden, wenn es so Vieles gab, worüber wir nicht reden konnten? Das meiste hatte in meiner Abwesenheit stattgefunden, am größten Teil seines Lebens hatte ich nicht teilgenommen. Jetzt rächten sich die Jahre erzwungener Entfernung, es gelang uns nicht unsere Zuneigung zu zeigen, und unsere Liebe fiel als stumme Trauer auf uns zurück."

Nicht nur deshalb, weil der Rezensent mit zwölf Jahren durch ähnliche Bilder wie Anna Mitgutschs Erzählerin Frieda mit dem Verbrechen des Holocaust konfrontiert wurde und sich letztlich ein ganzes Leben damit auseinandersetzte bis auf den heutigen Tag, ohne wirklich zu verstehen, ging ihm dieser Roman unter die Haut.

Immer wieder geht es um einen schmalen, letztlich aber unbegehbaren Grat zwischen Nähe und unendlicher Distanz, zwischen Zuneigung, ja Liebe und trennendem Ressentiment und Vorurteil, und um die alles beherrschende Frage von Schuld und Schuldlosigkeit.  Ein ganzes Leben lang versuchen Anna Mitgutschs Figuren, eine Lösung zu finden, vielleicht sogar im metaphysischen Sinn so etwas wie Erlösung, doch es funktioniert nicht.

Eine Autorin, die in der Lage ist, mit einer eindringlichen und kräftigen, an Bildern reichen Sprache, auf solche Weise die Tiefe und die Abgründe ihrer Figuren auszuloten, und doch bei allem Leid und Schmerz mit der Schönheit und der Genauigkeit ihrer Beschreibungen das Leben preist, die kennt alle diese Fragen aus eigenem Erleben und Durchleben. Mit Sicherheit. Und so hat sich der Rezensent an so mancher Stelle gefragt, welchen autobiografischen Anteil Anna Mitgutschs "Die Annäherung" wohl aufweist.
Für seine hervorragende literarische Qualität ist diese offene Frage aber völlig ohne Belang.

(Winfried Stanzick; 03/2016)


Anna Mitgutsch: "Die Annäherung"
Luchterhand, 2016. 448 Seiten.
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