Willy Vlautin: "Die Freien"


Frei. Oder doch nicht frei?

Der Roman "Die Freien" des 1967 in Reno, Nevada, geborenen Willy Vlautin, der neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch Sänger und Liederschreiber der Folkrockgruppe "Richmond Fontaine" ist, beschäftigt sich wieder einmal mit den Menschen, die im Land der Freien zu den Verlierern des Systems zählen. Denjenigen, die beim Streben danach, den Großen US-Amerikanischen Traum zu leben, gescheitert sind.

Einer der Protagonisten dieses aus lose zusammenhängenden Erzählsträngen bestehenden Romans ist der Kriegsheimkehrer Leroy Kervin. Im Irak schwer verletzt, hat er alles verloren, wofür er vor dem Einsatz gelebt hat. Zu Beginn dieses Romans versucht Leroy in seinem Wohnheim, Suizid zu begehen, wird aber gerettet und verbringt den Rest des Romans im Dämmerzustand in einem Krankenhaus. Sein Erzählstrang besteht aus teilweise abstrusen Traumsequenzen, die gefiltert Einblick in sein Leben und seine nun nicht mehr möglichen Lebensträume geben.
"Erschöpfung übermannte ihn. Er schloss die Augen, lehnte sich an die Wand und wartete. Als er sich wieder hinstellte, schlotterte er, aber er mühte sich die Treppe hinauf. Als er fast oben war, konnte er Freddie McCall, den Nachtdienst, laut schnarchen hören. Er erklomm die letzten Stufen, dann war er im ersten Stock. Auf dem Bürotisch brannte eine Lampe. Er konnte Freddie sehen, wie er in seinen Kleidern auf dem Bauch lag und schlief."

Gerettet wird Leroy von Freddie, der die Nachtschicht im Heim hat, der nach der Nachtschicht Donuts ausliefert und dann noch in einem Betrieb arbeitet, bis zur nächsten Schicht im Heim. Seine Töchter sieht Freddie schon seit Ewigkeiten nicht mehr, telefoniert nur ab und zu mit ihnen, leistet sich selbst nichts und steht trotz fast Rund-um-die-Uhr-Arbeit vor dem finanziellen Ruin, weil die Arztrechnungen für seine jüngere Tochter Ginnie, die mit einer Hüftdysplasie zur Welt gekommen war, nur zu einem kleinen Bruchteil von der Versicherung abgedeckt waren.
"An einem Truckstop zwanzig Meilen vor dem Gefängnis machte er erschöpft Halt. Im Restaurant konnte er beim Essen kaum die Augen offen halten. Er verbrachte die Nacht auf dem Parkplatz, in einem Schlafsack auf der Rückbank. Am Morgen darauf wusch er sich auf der Restauranttoilette, holte sich einen Kaffee zum Mitnehmen und fuhr weiter."

Die Krankenschwester Pauline, die unter Anderem mit der Betreuung Leroys beschäftigt ist, hat wieder andere Probleme, die Willy Vlautin nach und nach in diesem eindringlichen, wenn auch, oberflächlich betrachtet, ereignislosen Roman mit dem Leser teilt.

Zusätzlich gibt es noch einige weitere starke Figuren, wie beispielsweise die junge Jo, die, wie sich später herausstellt, in einem leerstehenden Haus mit einer äußerst unangenehmen Clique lebt, für die Drogen an der Tagesordnung stehen. Pauline entwickelt sehr bald mehr als dienstlich notwendige Fürsorge für Jo.

Vereint werden Willy Vlautins Figuren von ihrer Hoffnungslosigkeit, die ihnen aber auch die Stärke zum Weitermachen gibt, egal wie schlimm und zermürbend ihre jeweilige Situation ist. Und Vlautins wirkliche Leistung besteht darin, diesen Figuren Leben eingehaucht zu haben. Eindringlich beschreibt er ihre Ängste, ihre Sorgen, ihre Bemühungen, aus ihrer Situation das Beste zu machen, sich gegen ihre Niederlage zu wehren. Und aus dieser Situation heraus werden diese Figuren überraschenderweise zu Helden, die empathisch und mit unendlicher Größe alles tun, um Anderen zu helfen. Nicht die Art Helden, wie sie im Land der Freien gerne gezeichnet werden, strahlend und mit Tam-Tam, sondern stille Helden, gezeichnet vom eigenen Leid, doch aufrecht gehend und ohne Applaus. Das ist beklemmend zu lesen, aber unvergesslich.

"Die Freien" ist ein großer Wurf, wenn man bereit ist, sich auf die schnörkellose Sprache und die einfache Erzählweise, die viel mit Dialogen arbeitet, einzulassen, die von Robin Detje auch so gut wie nur möglich ins Deutsche übersetzt worden ist. "So gut wie möglich" aber nur deshalb, weil es gerade bei Willy Vlautins us-amerikanischem Englisch in Wahrheit fast unmöglich ist, eine wirklich adäquate deutsche Übersetzung zu finden, die in ihrer Einfachheit nicht plump oder einfallslos erscheint.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 10/2015)


Willy Vlautin: "Die Freien"
(Originaltitel "The Free")
Übersetzt von Robin Detje.
Berlin Verlag, 2015. 317 Seiten.
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