Jean-Paul Didierlaurent: "Die Sehnsucht des Vorlesers"
Manche
Bücher scheinen in Windeseile weltweit "einzuschlagen". Wie
dies passieren kann, ist nicht immer leicht nachvollziehbar,
insbesondere im Fall von Belletristik niedrigsten Niveaus. Freilich
helfen oft die Vermarktungsmaschine und auch der Bekanntheitsgrad des
Autors. Es bleibt Gegenstand der Spekulation, worauf der Siegeszug des
zu besprechenden Werkes basiert.
Der Autor war vor der Veröffentlichung seines ersten Romans,
um den es hier geht, so gut wie unbekannt. Zwar erzielte er mit
prämierten Kurzgeschichten kleine Erfolge, doch ansonsten mag
er in seinem Brotberuf seine Kreise gezogen haben. Jetzt, da sein Roman
in 26 Sprachen übersetzt ist und auch die Filmrechte gesichert
wurden, denkt er vielleicht darüber nach, sich
ausschließlich seiner Autorenkarriere zu widmen.
Möglicherweise ist sein neuestes Werk schon längst in
Arbeit, und wir, die Leser, glauben nur, sein Leben verliefe nach wie
vor in denselben Bahnen.
Und da sind wir mitten drin im Roman. Der Hauptprotagonist namens
Guylain Vignolles lebt in festen Strukturen irgendwo in Paris.
Er arbeitet in einer Fabrik, wo er dafür verantwortlich ist,
dass Bücher zu Papierbrei zermatscht werden, sodass diese
später wiederverwertet werden können, im besten Fall
entstehen dann wiederum Bücher. Er hasst diese
Tätigkeit, weil er Bücher liebt. Und er nutzt an
jedem Arbeitstag die letzte Kontrolle der Maschine, um einige irgendwo
festgeklebte und also nicht zu Brei verwertete Buchseiten zu retten.
Seine Form der Rebellion vollzieht sich dann an jedem Werktag ab 6 Uhr
27. Auf seinem Weg zur Arbeit liest er im Zug den reisenden Pendlern
zwanzig Minuten lang Auszüge aus den Werken vor, die er vor
der gefräßigen Maschine bewahrt hat. So weit, so
gut. Die Beziehung zu seinem Goldfisch hält er seit Jahren
aufrecht, indem er sich einbildet, dass dieser über Jahre
einsam seine Runden zieht. Dabei kauft er von Zeit zu Zeit freilich ein
neues Exemplar Goldfisch. Seine aus seiner Sicht grauenhafte Arbeit hat
ihm immerhin zwei Freunde beschert, einen Reimeschmied und einen von
der Maschine verstümmelten, seiner Oberschenkel beraubten
Frühpensionisten.
Zwei elementare Ereignisse ändern das - scheinbar -
beschauliche Leben Guylains nachdrücklich. Er wird von zwei
älteren Damen angesprochen, die von seinen Vorlesungen im Zug
begeistert sind und ihn zu sich nach Hause einladen. Dieses Zuhause erweist
sich als Seniorenheim, wo er die Bewohnerinnen und Bewohner
bald zu Begeisterungsstürmen und lebhaften Diskussionen
animiert. Doch die Krönung ist die Auffindung eines USB-Sticks,
der ihm eines frühen Morgens im Zug in die Hände
fällt. Er schiebt diesen gleich nach der Rückkehr in
seine Wohnung in die Anschlussstelle seines Laptops
und stellt fest, dass sich darauf 72 Dateien befinden. Auf den Urheber
dieser Dateien gibt es zunächst keinen Hinweis. Guylain liest
abends die erste Datei, und er ist so fasziniert, dass er
sämtliche Dateien ausdruckt und zu seiner
Abendlektüre erklärt. Am nächsten Morgen ist
er derart durcheinander, dass das Goldfischglas auf seinem
Nachtkästchen durch eine ungeschickte Bewegung zu Bruch geht
und er seinen Goldfisch nur mit Mühe, indem er ihn in eine mit
Wasser befüllte Müslischale eintauchen
lässt, rettet. Alles ist anders! Es scheint so, als habe sich
die Welt von einem Moment auf den anderen verändert, die
Menschen seien freundlicher, die Sonne strahle heller, und sogar die
Arbeit ist nicht ganz so grauenhaft wie sonst.
Ja, Guylain muss sich eingestehen, dass er die Autorin der Texte
unbedingt kennenlernen will! Sie arbeitet als Klofrau in einem
Einkaufszentrum und heißt Julie, mehr ist aus den Texten
nicht herauszulesen. Während die erste Hälfte des
Romans Guylains altes Leben in den Fokus setzt, beschäftigt
sich die zweite Hälfte mit seinem neuen Leben. Und dieses
besteht darin, dass er die ausgedruckten Texte sowohl im Zug, wo er
darauf hofft, dass vielleicht die Urheberin zuhört, als auch
im Altersheim vorliest. Ein Freund, jener, der von der Maschine, die
eigenartigerweise "STAR" heißt, fast getötet worden
wäre, ist bemüht, Guylain bei der Suche nach Julie zu
helfen. Nachdem Guylain ihn schon viele Jahre besucht, bei einem
äußerst ungewöhnlichen Hobby
unterstützt und überhaupt nicht nachlässt,
ihm ein Stück weit positive Gedanken mitzugeben, sieht
Guiseppe es wohl als seine Pflicht an, nun seinerseits etwas
für seinen Freund zu tun.
Die Geschichte ist geprägt von einem magischen Moment, der
alles verändert. Man muss während der
Lektüre und danach immer wieder an Patrick Süskind
denken. Der Stil, wenngleich es sich beim vorliegenden Buch um eine
Übersetzung aus dem Französischen handelt, ist
ähnlich. Und wie der Protagonist in "Die Taube" von
Süskind ist auch die Hauptfigur bei Didierlaurent,
also Guylain, eine Art Antiheld, der schließlich mehr oder
weniger zu einem "Helden" wird, weil er seine üblichen
Lebensvorstellungen sprengt.
Es ist zu hoffen, dass der mit einem Mal in vielen Ländern
dieser Welt bekannte Autor auf dem Boden der Tatsachen bleibt und
weitere Romane schreibt, die Herzen und Seelen der Leser
berühren. Bemerkenswert ist, dass "Die Sehnsucht des
Vorlesers" verschiedene Lesarten heraufzubeschwören vermag.
Die verhasste Erwerbsarbeit Guylains kann auch als leise Kritik an der
immer schneller werdenden Erwerbsarbeitswelt verstanden werden. Die
Maschine ist verfressen und darf keine Sekunde stillstehen, wenn sie
einmal in Betrieb ist. Und wehe, der Maschinenführer und
weitere für die Maschine verantwortliche Mitarbeiter lassen
das Ding auch nur einen Moment aus den Augen! Eine andere Lesart ist
die poetische Dimension, wieder eine andere die Welt der Fantasie, die
im Kopf jedes Menschen entstehen kann, wenn er dies zulässt.
Es ist auszuschließen, dass die Leser dieses Romans
unbeeindruckt davon bleiben. Kein Mensch ist eine einsame Insel, und
die Sehnsucht
nach einer schöneren Welt wird kaum jemand
bestreiten. So sei dieser Roman ausdrücklich empfohlen!
(Jürgen Heimlich; 09/2015)
Jean-Paul
Didierlaurent: "Die Sehnsucht des Vorlesers"
(Originaltitel "Le liseur du 6h27")
Aus
dem Französischen von Sonja Finck.
dtv premium, 2015. 224 Seiten.
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Jean-Paul Didierlaurent, 1962 in La Bresse/Elsass geboren, lebt nach einigen Jahren in Paris nun wieder in seinem Heimatort und arbeitet im Kundenzentrum eines Telekommunikationsunternehmens. Im Jahr 1997 hat er zum ersten Mal zwei Erzählungen bei einem Schreibwettbewerb eingereicht - und beide haben gewonnen. Seither hat er etliche preisgekrönte Kurzgeschichten geschrieben.