Paulo Coelho: "Die Schriften von Accra"


Auf dieses Buch von Paulo Coelho war ich sehr gespannt, denn seine vorigen Romane haben mich nicht immer vollständig überzeugt.
Doch mit "Die Schriften von Accra", das sei gleich zu Anfang bemerkt, ist er wieder zu seinen eigenen Quellen zurückgekehrt, die ihn seit dem Buch "Der Alchimist" so berühmt gemacht haben und die Millionen von Lesern nicht nur ein unvergessliches Leseerlebnis gegeben, sondern vielen davon auch wertvolle Schätze spiritueller Kraft für sich selbst geschenkt haben.
Viele Menschen sind durch die spirituellen Texte Coelhos zu einem anderen Selbstverständnis und Weltverständnis gelangt, haben die Kraft der Religion bzw. der philosophia perennis für ihr Leben entdeckt und leben es seitdem bewusster, mit mehr Liebe und mit mehr Verständnis für die göttliche Liebe, die in allem ist, was uns umgibt.

Grundlage des gegenständlich besprochenen Buches sind Schriften, die der englische Archäologe Sir Walter Wilkinson anno 1974 in der Nähe von Nag Hammadi entdeckt hat. Er erfuhr, dass es mehr als 150 gleichlautende Abschriften dieses Dokuments gebe, dass man sein Entstehungsdatum auf 1307 nach Christus festlege und als seinen Herkunftsort die Stadt Accra im Norden des heutigen Israels vermute.
Paulo Coelho erzählt in seinem Geleitwort zu diesem Buch, dass er nach jahrelanger Bekanntschaft mit Wilkinsons Sohn am 30. November 2011 plötzlich und überraschend eine Kopie des Originaltextes von diesem erhielt.

Coelho hat es bearbeitet und lässt einen einundzwanzigjährigen Christen von einem denkwürdigen Abend am 14. Juli 1099 erzählen. Die Belagerung Jerusalems durch die Kreuzritter geht ihrem siegreichen Ende entgegen. Am kommenden Morgen werden sie die Stadt stürmen und einer Jahrhunderte langen friedlichen Einheit der drei abrahamitischen Religionen ein grausames Ende bereiten.

In jenem Hof, in dem tausend Jahre zuvor Pontius Pilatus Jesus der Menge übergeben hatte, versammeln sich Männer und Frauen jeden Alters, unter ihnen auch die Oberhäupter der drei Religionen. Sie alle hören einem Mann zu, der vor langer Zeit aus Griechenland gekommen ist, einem weisen Mann, den alle respektvoll den Kopten nennen. Er möchte angesichts der bevorstehenden Zerstörung Jerusalems die Seele der Stadt bewahren. Alle, die seinen Antworten auf ihre Fragen des Alltags zuhören, sollen diese aufschreiben und verbreiten, was sie gehört haben. "Und eines Tages werden wir Jerusalem nicht nur als Stadt aus Stein wiederaufbauen, sondern als einen spirituellen Ort, an dem die Weisheit zusammenfließt und der Frieden wieder regiert."

Der namenlose junge Berichterstatter erzählt nun von etwa zwei Dutzend Fragen, welche die Menschen dem Kopten stellen. Als Erster sagt der Jude Jakob: "Sprich zu uns über die Niederlage."
Schon an dieser Stelle schon erinnert man sich an den "Propheten" Khalil Gibrans, der ähnlich wie Coelhos Kopte mit spirituell-poetischen Texten auf die Alltagsfragen seiner Zuhörer antwortet.

Und mit jeder weiteren Antwort des Kopten wird dieser Eindruck stärker. Doch mehr noch als Gibran, und historisch viel früher als dieser, reflektiert er immer wieder die Weisheit der Religionen. Aus einer Vielzahl von Sätzen, die mir direkt ins Herz gegangen sind, will ich nur einen zitieren:
"Wenn wir der Versuchung widerstehen, andere bestimmen zu lassen, wer wir sind, werden wir nach und nach die Sonne zum Strahlen bringen, die in unserer Seele wohnt."

"Die Schriften von Accra" bergen unzählige solcher "Schätze". Man hat das Buch schnell gelesen, aber man sollte es immer wieder in die Hand nehmen. Vielleicht einen kleinen Auszug mit zehn Sätzen extrahieren, die einen am stärksten angesprochen haben. Und dann versuchen, mit ihnen in den Alltag zu gehen, jeden Tag, jede Stunde.

Manche werden Coelho wieder vorwerfen, dass es ihm nur darum gegangen sei, abermals einen gut verkäuflichen Massentitel zu schreiben. Für die Weisheit, welche dieses Buch birgt, gibt es gar nicht genug Leser.

Eine kleine Kritik möchte ich dennoch anbringen: Ich hätte mir einen genaueren Hinweis auf das Originaldokument gewünscht und eine editorische Bemerkung zu seiner literarischen Bearbeitung durch den Autor selbst.

(Winfried Stanzick; 01/2013)


Paulo Coelho: "Die Schriften von Accra"
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Diogenes, 2013. 192 Seiten.
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