Der Regen wird dich nähren

von Klaus Krottmayer

Wie heißt mein Kind? Einem Kind musst du einen Namen überwerfen wie ein Netz. Eine Stirnlampe für das Leben geben. Sprich ihn aus. Buchstabier ihn. Du wirst sehen, diesem Menschen kannst du keinen Namen geben. Und wenn, dann einen, den es noch nie gab. Einen, den es nie mehr geben wird. Du musst einen Namen erfinden. Buchstaben durcheinanderwirbeln und sie liebevoll zueinanderpassen. Sie aussäen. Auch wenn sie auf rissige, spröde Erde fallen. Zu verdorren drohen.

Dieses Kind ist mein Fleisch. Aus meinem Fleisch herausgerissen. Mein Herz. Mein Blut. Ich muss dieses Kind mit mir verwechseln. Es ist ich und ich bin es. Warum schreist du mein Kleines? Mein Kleines. Schau, ich bin ruhig. Ganz ruhig. Meine Hand zittert überhaupt nicht. Auf einen Berg müsste man gehen und deinen Namen über die Ebene rufen. Auf dass ihn alle hören mögen. Und ihn verstehen. In seiner ganzen Bedeutung. In seiner ganzen Pracht. In seiner ganzen Schönheit. Und Klarheit.

Ich habe es getragen, mein Kind. Ihr sagt, ich sei noch zu jung. Ich habe dich stolz in mir herumgetragen, mein Kind. Mein Herzblut.

Nein, so kannst du mein Kind nicht nennen. So nicht. Dieser Name lässt sich nicht aussprechen, sperrt sich im Hals, wickelt sich um die Stimmbänder, kratzt die Stimmritzen. Ich muss doch den Namen meines Kindes aussprechen können. Mir muss er doch leicht von der Zunge fließen. Fließen wie warmer Honig. Ich darf doch nicht stocken. Beim Namen meines Kindes. Dieser Name drückt wie ein Dorn in mein Fleisch. Verwundet mich. Probiere ihn aufzuschreiben. Ein Name muss sich schreiben lassen. Zügig. In einem Fluss. Ohne abzusetzen. Mit jedem Stift. Nein, nicht nur mit Tinte. Nein es geht nicht. Lasst mich. Lasst mich allein. Ihr alle tut mir weh. Warum benennt ihr mein Kind mit einem falschen Namen? So heißt es nicht. Das wisst ihr ganz genau. Ich als seine Mutter werde es wohl wissen. Was maßt ihr euch an? Weg mit euch. Fort von meinem Kind. Ich allein werde entscheiden.

Ach du dünnhäutiges Wesen. Ich muss dich doch erst kennenlernen, um dir eine Richtung, ein Zeichen auf die Stirn malen zu können. Ich gebe dir Kosenamen so viele du willst. Aber doch keinen endgültigen Namen, der wie ein Brandmal einzieht in deine Haut. Dich tätowiert mit schwarzer Tinte. Jeder Name würde zu einem Geschwür führen unter deiner Haut und dich quälen. Dir schlaflose Nächte bereiten. Ja seht ihr denn nicht, welch Wunder so ein Kind ist. Wie vollkommen es ist und einzigartig. Was bedeutet da eine zufällig hingeworfene Ansammlung von Buchstaben schon.

Einhüllen wie ein Mantel soll dich dein Name, wärmen wie ein Schafsfell, nicht würgen wie ein Henkersstrick. Den Kopf vom Leib abtrennen, wie ein Henkersbeil. Mir drücken sie die Luft ab. Hunderte Namen hocken auf meinem Leib und frohlocken und grinsen. Und ihre Finger zeigen auf mich und ihre Blicke stoßen mich weg. Und reißen mich hin und her. Drehen mich im Kreis, bis mir schwindlig wird und ich den Boden unter meinen Füßen wegsinken fühle.

Und lassen mich nicht ruhen. Und lassen mich nicht schlafen. Und ich schreibe, wie ich noch nie geschrieben habe. Wort um Wort. Name und Name. Und bei deinem Namen wird meine Hand tanzen und ich werde die Zeichen zu deuten wissen. Meine Hand wird zu zittern beginnen, wenn ich deinen Namen schreibe. Siderisch wird sie erglänzen. Ich schreibe um mein Leben. Seite um Seite. Und Miriam schlägt auf die Pauke und du Geschenk Gottes und du Herrscher und meine Morgenröte und meine Regenbogenhaut und meine Bewahrerin eines großen Erbes, Gott schütze dich, immer und überall auf der Welt. Gott schütze mich. Gott schütze mich vor allem, was ich tun werde. Auch wenn ich es nicht tun will. Ich tue, weil ich es tun muss. Für dich.

Niemand kann wissen, wohin du dich wendest. Du sollst entscheiden, wenn du vierzehn bist, welchen Namen du tragen willst. Ja mit vierzehn sollst du getauft werden auf deinen Namen. Der wird dir dann zufliegen, wie ein Turmfalke. Zielsicher und klar. Du allein sollst deinen Namen entscheiden. Was ist schon ein Name?

Abraham, ja Abraham sollst du heißen. Wurzeln tief im alten Testament, im gelobten Land und Gott wird dir nahe sein. Dein Name wird Bedeutung sein und Bedeutung haben, weit über die Grenzen der Augen und Ohren hinweg. Tief in den Wäldern auf fernen Inseln und über alle Wüsten hinweg wirst du erkannt werden an deinem Namen. Und ich werde stolz sein. Auf mein Kind.

Ich muss gehen, um zu wissen. Ich kann nicht schlafen, denn im Schlaf kann ich nicht gehen und du brauchst doch einen Namen, mein Kind. Ich habe Durst. Schrecklichen Durst. Mir wird schwindlig. Warum soll ich essen? Wer spricht mit mir? Warum sprecht ihr so fremd zu mir und zu meinem Kind. Ich habe es geboren. Herausgepresst aus meinem Leib mit der ganzen Kraft, zu der ich fähig bin.

Allein.

Mit meinem Schreien und meinem Atem. Mit meinem Becken. Mein Fleisch und Blut. Ich konnte das Kind riechen. Über und über roch es nach Mensch. So muss Menschsein riechen. Nur so kann es riechen. Doch ich roch seinen Namen nicht.

Adele, Aramies, Aram. Ja Aram: der Mensch. Mensch sollst du heißen. Ein für allemal. Aram wird dir ein leuchtender Stern sein und dir den Weg zeigen. Aram wird dir Markierung und Weg zugleich sein. Dieser Name wird dich an der Hand nehmen, wird dich führen wie alle Landkarten dieser Welt. Aram wird dir Sicherheit und Orientierung geben. Und Klarheit in dieser Welt.

Doch warum schwindest du? Wohin fliehst du? Bleib hier bei mir. Geselle dich zu mir. Ach warum bist du mir plötzlich so unvertraut, so fremd. Mein Kopf brennt, meine Zunge brennt, mein Körper brennt, ich verdurste bei lebendigem Leib. Warum gibt mir denn niemand etwas zu trinken? Es zieht mir Hautstück um Hautstück von meinem Rücken, von meiner Brust. Von meinem Gesicht. Mein Bauch zieht sich zurück. Wölbt sich nach innen. Ich bin kein anderer. Ich bin eine andere.

Ein Name muss wie ein Gedicht sein, ein Vermessungspfahl, eine Wurzel, die tief im Erdmittelpunkt gründet und gegen den Himmel strebt. Die Leichtigkeit der Vögel im Fluge erahnt und gleichzeitig die kochende Lava in sich birgt. Ein Name ist wie ein Schatz, der Lebenssekunde für Lebenssekunde gehoben werden will.

Wie heißt mein Kind? Warum sagt es mir denn niemand? Warum kommt denn niemand?

Von draußen rufen sie dich? Rufen sie mich? Aber sie kennen deinen Namen ja noch gar nicht. Sie können ihn nicht wissen. Warum maßen sie sich das an? Ich muss gehen, um zu wissen.

Sie sagen, ich solle Medikamente schlucken, damit ich wieder zu mir finde. Sie sagen, ich sei nicht ganz bei Trost. Ich sei außer mir. Ich sei überlastet. Sie wollen mich in einen Tiefschlaf versetzen. Für mehrere Wochen. Wer soll dich dann nähren, mein Kind? Wer soll dich benennen, mein Kind? Sie sagen, ich darf dir meine Milch nicht mehr geben, weil sie dir schaden könnte. Hast du so etwas vollkommen Lächerliches schon gehört? Hast du natürlich nicht. Siehst du die Trauerweide, wie sie durch die Luft schwebt. Ja? Du siehst ihr nach. Du bekommst ja schon so viel mehr mit, als sie annehmen.

Ich werde dich mitnehmen mein Kind. Mitnehmen dorthin, wo du keinen Namen brauchst. Wo deine Augen sehen, auch wenn sie für immer geschlossen sind. Wo dich niemand anstarrt. Dich nicht und mich nicht. Ich werde dich einwickeln in ein Leintuch, wärmen mit einem Papiersack. Du wirst gar nichts spüren, es wird nicht kalt sein. Es wird nicht wehtun. Wie klein dein Kopf ist. Wie meine Hand zittert. Und mein Leib. Es wird nicht wehtun. Dir nicht. Und mir nicht. Wir springen gemeinsam. Und fliegen. Einfach weg. Sie werden Augen machen. Staunen. Aber sie werden nichts verstehen. Gar nichts. Was für ein Leben wäre das auch schon. Für dich. Für mich. Für uns. Wir werden vereint sein. Und niemand wird wissen. Du gehörst ganz mir. Bist ja aus mir heraus gewachsen. Ich werde dich durch die Lüfte tragen. Der Regen wird deine Muttermilch sein. Der Himmel unser gemeinsames Bett. Wir werden aufgehoben sein und geborgen. Für immer. Wir werden uns nicht schämen. Für nichts. Für dich nicht und nicht für mich. Wir werden uns nicht schämen. Keine Scham, mein Kind. Wir werden frei sein. Wir werden fliegen. Endlich frei sein. Du und ich.

 

«