PARANOIA

Drei Stationen und drei typische Krankheitsbilder

 

von Rihno Rhinozeros

 

Eine mögliche Definition:

Selbstverständlich tritt die Paranoia in vielerlei Erscheinungsformen auf, doch eine jede entwickelt sich völlig zusammenhängend von einem Ausgangspunkt her. Im paranoischen Wahnsystem treten Halluzinationen auf, werden Erscheinungen der Wirklichkeit wahnhaft missdeutet. Der Paranoiker erfreut sich leiblich einer normalen Gesundheit, kennt keinerlei organische Störungen, geistig und seelisch jedoch lebt und handelt er in einer fremdartigen Welt. Statt sich der vorgefundenen Welt zu fügen, wie das zumeist die 'normalen' Leute tun, beherrscht er sie autokratisch, gestaltet sie nach seiner Kaprice

 

 

EINE STATION

Herrn Polyfems Sohn Nemo lustwandelte mit drei akdemischen Freunden - allesamt angesehene und ehrwürdige Figuren der Stadt B. - in einer noblen Gegend derselben.
Angeregt diskutierten sie anläßlich Nemos bevorstehender Vaterschaft über die Vorzüge der Jungfernschaft.
So gingen sie allesamt hübsch parfümiert durch die Straßen, als ihnen plötzlich eine ungeheuerlich neue Art des Clochards entgegenkam. Mehr oder weniger sauber, aber doch geschmacklos, - irgendwie.
Aber was war denn das? Der Chlochard schien jemandem aus der Runde zuzuwinken. Das ging doch wirklich nicht. Und jetzt machte der Clochard noch Anstalten festen Schrittes auf die jungen Honoratoren und Hoffnungsträger der Stadt zuzuschreiten.
Allesamt waren sie starr vor Schreck. Aber am meisten von ihnen Nemo, der den Clochard nur all zu gut kannte - war er doch sein Vater. Aber dies konnte er wohl doch nicht seinen Freunden antun. Sah er denn nicht, wie ihre rosernen Backen nach und nach erblassten, wie ihnen unpässlich wurde? Doch zu spät! Polyfem war schon über ihnen:
" Hast du dich nun endlich mit dem Teichmann in Verbindung gesetzt - oder wie ist das jetzt?", richtete er diese grobe Frage leider unübersehbar an seinen Sohn Nemo.
Nemo war verzweifelt - das war das Ende.- Seine akademischen Freunde wohl dahin!- Und erst der gute Ruf!
Nemo sah keine andere Möglichkeit als die Flucht nach vorne. Er machte sich verzweifelt von seinem Vater los und fuhr selbigen an.
" Was wollen Sie von mir. Ich will nichts geben! Sie sind ja volltrunken!", und ging eilenden Schrittes von dannen.
Die anderen hatten sich, es muss gesagt werden, erst nach einer deutlich längeren Zeit von ihrem Schrecken erholt und gingen über diese vorangegangene Peinlichkeit gut bürgerlich hinweg.
Einer aber konnte sich dann doch nicht halten und fragte leise:
" Diesen Mann habe ich doch schon mit dir zusammen gesehen!"
"Nein, Blödsinn!", gab Nemo entrüstet von sich.
"Und wie war das mit diesem Teichmann? Du hat doch schon öfter mal von einem Teichmann erzählt, oder?"
"Was redest du da?", leugnete Nemo erneut empört.
"Der wird doch kein entfernter Verwandter von dir gewesen sein? Das wäre doch - entsetzlich!"
"Nein, nein !", gab Nemo vor Verzweiflung bebend von sich und gleich darauf krähte ein Hahn!

 

1.BILD

Eine mondäne, aber doch heruntergekommene Villa. Das Heim Polyfems. Polyfem in einem olivgrünen zerschlissenen Morgenmantel. Polyfem am Zenit seiner Macht. Selbstherrlich, despotisch, schön.
Ein markanter Jüngling tritt auf, der junge Sokrates.

Es läutet (Sokrates an der Tür)
Polyfem (jovial): Sokrates!! (will ihn brüderlich umarmen)
Sokrates (zurückhaltend): Sokrates sagten Sie? - Das ist doch viel zu konkret. Da hätten wir zumindest noch den Weisheitslehrer und Tantragelehrten Bo-yin-Ra - letztlich wusste der aber auch nicht mehr als, dass er nichts wusste. - Wie auch immer, egal!
(Sokrates geht nervös auf und ab. Polyfem wird unruhig)
Polyfem (unruhig): Was gehst du denn so nervös auf und ab? Du machst mich ja ganz verrückt. Deine Unruhe erinnert mich an....
Sokrates (fällt ihm ins Wort): Einen Planeten?- Ja, Planet!- Zunächst kam Stern , -ja, Stern kam in den Sinn --und wurde verworfen!
(Sokrates von metafysischer Unruhe geplagt, beginnt zu der Musik von Cypress Hill zu tanzen. Polyfem betrachtet ihn ungläubig. Plötzlich - wie aus einer anderen Welt zurückgekehrt besinnt er sich darauf, dass sein Verhalten seinen Gastgeber stört.)
Sokrates: Ach so!
(Und setzt sich nieder!)

 

EINE ANDERE STATION

Anlässlich der bevorstehenden Vaterschaft Polyfems Sohnes, Nemo, überkam Polyfem ein intensives Jucken in der Aftergegend, dessen er nicht Herr werden konnte oder wollte.
Er vergewaltigte Ärzte mit kreuzverhörartigen Fragen um seine Krankheit. Die Ärzte rätselten, verschrieben dies oder jenes, aber nichts wollte den Wolf im Arsch Polyfems zur Besinnung bringen.
Glücklicherweise aber wusste Polyfem , der ja selbst jahrzehntelang in der Heilmittelbranche tätig Gewesene, nach einiger Zeit des Rätsels Lösung.
In seinem Haus hatten sich ganz offensichtlich Milben eingenistet. Überall wähnte er das Ungeziefer und fühlte sich von ihm bedroht - in der Tat. Dies führte dazu, dass seine Frau noch mehr Frondienste leisten musste: Wäsche hatte zweimal gekocht und anschließend gewaschen zu werden - und das mehrmals am Tag. Stundenlang sperrte sich Polyfem in seinem Zimmer ein, wuchtete die Matratzen hoch und spähte ängstlich-bereit nach dem Ungeziefer.
Natürlich kämpfte der Feind nicht mit offenem Visier, sondern kneifte. Ein Überraschungsangriff würde einen entscheidenden Vorteil bringen, dachte er. Deswegen klopfte er oft bis zu zwei und halb Stunden Matratzen und Bettzeug aus. Endlich hatte er nach fast 25-jähriger perfekt erfolgloser Ehe einen Grund gefunden, die ohnehin nur mehr zufällig gemeinsame Bettstatt mit seiner Frau zu verlassen.
In seinem Schlafzimmer durften die Fenster nicht eher geschlossen werden, als bis sich die ersten kräftigen Eiszapfen gebildet hatten - Milben vertragen nämlich keine Kälte. In seinem zerfallenden Haus ließ er sich aus Angst vor den Milben sicherheitshalber nirgendswo mehr nieder. Zu guterletzt warf er seine Frau aus ihrem Rollstuhl - und nahm selbst darin Platz,- weil, wie er meinte, dies der einzige Ort sei, der wirklich milbenfrei sei!
Seinem Sohn Nemo versicherte er in einer sehr schwachen Stunde, er habe Angst vor seiner Matratze - eine verdammt panische Angst!

 

2.BILD

Die Villa Polyfems, nur jetzt bereits noch verfallener. Polyfem im zerschlissenen Schlafrock, Pantoffel an den Füßen, vor sich hin brütend. Es scheint, er erwarte etwas ganz schreckliches.
Plötzlich läutet es an der Tür.

Polyfem, nun da der Moment gekommen ist, reißt sich zusammen und brüllt martialisch.
Polyfem: Ich hab´s gewusst! Ja!
(Sokrates erscheint, eine Zigarette im Mundwinkel. Polyfem geht sofort zum Angriff über. Er reißt zwei Degen von der Wand, einen schmeißt er Sokrates zu, den anderen greift er sich.)
Sokrates (nimmt fröhlich die Waffe auf): Ha, das konnt´ich doch schon ganz gut bei Aigospotamoi. Das wäre doch gelacht!

Die beiden kämpfen verbissen. Vor allem Polyfem, der sich voll ins Zeug legt, um einen schnellen Sieg davon zu tragen. Die Klingen kreuzen sich oftmals vor dem Gesicht.
Dabei Polyfem (pressend): Was rauchst du denn so viel? Wenn du so weitermachst, kommst du noch in die Lungenheilanstalt!
Sokrates (gelassen): Na, vielleicht gar nicht so schlecht - im Zuge der Leib-Seele-Einheit. Gereinigt von der körperlichen Pein, insbesondere von hyperaktiven Stresshormonen, -Sie verstehen-, erfreut sich der Geist nunmehr neuer Freude und guten Mutes.

In diesem Moment ist Polyfem unachtsam. Mit einer geschmeidigen Bewegung schmettert Sokrates Polyfem den Degen aus der Hand. Polyfem kippt hinten über. Mit einer schnellen Bewegung schlitzt Sokrates Polyfem das Nachthemd auf. Polyfem blickt Sokrates entsetzt an.
Polyfem (schwer atmend): Dir blickt ja der Wahnsinn aus den Augen!
(Sokrates blickt ihn höchst erstaunt an und bekommt hernach einen Lachanfall!)

 

EINE DRITTE STATION

Das Unvorstellbare - Gott behüt´uns davor- geschah dann doch.
Die Matratze platzte eines Tages auf und heraus krochen genau drei Milben.

Polyfem fasste sich sehr schnell und knurrte nur: " Da sind sie!"
Die drei Milben ließen sich davon nicht beirren, sondern ignorierten Polyfem einfach. Nach einer Weile des gegenseitigen Abschätzens sagte eine der Milben, eine besonders schwarze:
" Könnte man das Fenster schließen! Da erfriert man ja!"
Polyfem, der vom Anblick derselbigen angeekelt zurückgewichen war, flüsterte plötzlich ungemein ängstlich: " Es kommen noch Arbeiter, die das Bett umbauen!"
Die Milbe darauf "Ach so. Ich verstehe. Sie meinen also, dass sich ihre Körper bei der Arbeit erwärmen würden!"
Polyfem starrte die Milbe verständnislos an und sagte nur: " Das meine ich nicht! Aber wenn Sie es wünschen, dann können wir es ja schließen!"
Die Milbe darauf, höchst höflich: " Danke sehr!"
Dann ließen sich die Milben vor Polyfem im Halbkreis nieder.
" Nun also", meinte eine andere Milbe. "Eigentlich sind wir ja nicht Ihretwegen hergekommen. Sondern wir sind von weit her gekommen - nämlich aus Ihren Tiefen - um dem frisch gebackenen Vater, der Mutter und dem Kind zu huldigen. Und wir haben auch einige Gaben mitgebracht. Sie, als Vater unseres Freundes, sind natürlich herzlichst eingeladen, von den Geschenken mitzunaschen. In diesem Moment zog die dritte Milbe - die Älteste - ein dunkelbraunes, wohlriechendes Stück Weihrauch hervor, welches ganz offensichtlich nicht unseren Breiten entstammte, und bot es Polyfem dar.
Dieser aber lehnte dankend ab.

 

3.BILD

Polyfem allein in einem völlig weißen Raum. Er hört Stimmen und tut dabei so, als verscheuche er Ungeziefer. Das Publikum sieht ihn nur gestikulierend.
Dann aber leise, später immer lauter werdend, hört auch das Publikum die Stimmen.
Drei völlig weiß gekleidete, mit Narrenkappe versehene Narren verkörpern die Stimmen.

1. Stimme: Ich habe in meinem Leben niemals onaniert.
2. Stimme: Ich war stets großzügigst!
3. Stimme: Ich war praktizierender Katholik!

Die drei Narren laufen auf Zehenspitzen im Kreis, einer den anderen verfolgend. Dabei wiederholen sie - immer lauter werdend - dreimal jeder seinen Vers! Das ganze entwickelt sich zur Burleske. Polyfem liegt alle Viere von sich gestreckt völlig apathisch am Boden.

Plötzlich erscheint der Teufel (schwarzes Fell, rote Hörner, Kohleaugen, Bocksfuß, ansonsten aber mit den Zügen Thomas Bernhards - als Arzt erkennbar. Er bleibt jäh stehen und richtet das Wort an die drei Stimmen.

Teufel: Aber geht´s, hearst doch auf, Kinder! Seid´s net deppert! Schauts dass wieder in euren warmen Unterschlupf kummts!

Die drei Stimmen nähern sich bedrohlich nahe dem am Boden liegenden Polyfem. Dieser springt auf und brüllt völlig überschnappend:

Polyfem: Hilfe!

-ENDE -

 

Wien, am 19.November 1995.

«