Wenn er ein Gewitter schildert, beginnt es in meinem Gehirn zu blitzen und zu donnern.
Beschreibt er das Aussehen einer Frau, dann kann ich sie vor meinem geistigen Auge sehen, und von ihrem Anblick berauscht sein. Er wurde am 15. Mai 1911 geboren. Als Architekt konnte er wechselseitig mit seinem Schreiben die Welt neu ordnen und erbauen. Am 4. April 1991 verstarb er in seinem Geburtsort Zürich. Die Rede ist von Max Frisch; dem schreibenden Baumeister.

Technische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts:
Fertigungsprozeße im industriellen Bereich (Robotertechnik), wo der Mensch nur als Handlanger der Maschine agiert. Der Mensch (Techniker) schafft die Prozeße, die auszuführen sind, und überwacht (nicht unbedingt in der Funktion eines Technikers) schließlich den reibungslosen Ablauf dieser Prozeße. Die Leistungsfähigkeit der Maschine, die die Prozeße durchzuführen hat, hängt von der Feinabstimmung der miteinander korrespondierenden Teile ab, die die Maschine einerseits als eine Ganzheit erscheinen läßt, und andererseits überhaupt erst eine Funktionsfähigkeit der Maschine ermöglicht.
Ähnlich beim Roman: Umso besser einzelne Sequenzen eines Romans aufeinander abgestimmt sind, desto ganzheitlicher ist die Wirkung, die sich auf den Leser überträgt. Die perfekte Ineinanderschiebung der einzelnen Sequenzen, die sich mehrdimensional in die Tiefe des Romans erstrecken können, so wie eine einzelne Schraube einer Maschine aufgrund ihrer Funktion den Fertigungsprozeß nachhaltig beeinflußt, vermag zusammen mit der Schreibtechnik des Autors dessen künstlerische Leistung anzuzeigen.
Max Frisch hat mit "Stiller" diese technische Feinabstimmung im Sinne des Romans nahezu perfekt umgesetzt, was in Verbindung mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit des gelernten Schweizer Architekten eine literarische Höchstleistung ergibt.

Ich wollte, als ich gerade achtzehn Jahre alt geworden war, endlich eine Freundin für mich beanspruchen. Die erste Tanzstunde nahm ich zum Anlaß, einem Mädchen als Kavalier zu begegnen, und mit ihr die ersten ungelenken Schritte auf dem Parkett zu wagen. Stolz teilte ich ihr mein Geheimnis mit, das darin bestand, den Schweizer Schriftsteller Max Frisch zum Vorbild zu haben.
"Kenne ich nicht!", sagte sie. Und ich fing an, über ihn zu sprechen; seine besonderen Qualitäten herauszustreichen. Als ich ihr nach der Tanzschule anbot, sie nach Hause zu bringen, wurde sie ein wenig bockig. "Du erzählst mir dauernd von diesem Frisch. Aber von dir hast du noch überhaupt nichts erzählt." Sie sah mich an wie einen Außerirdischen, dessen Eigenheiten sie noch nicht genügend durchschaut hatte. Ich entschuldigte mich selbstverständlich sofort für meine Schrulligkeit, gab meine Identität preis, und fügte hinzu, daß dies der Wahrheit entspreche. Im Hinterkopf hatte ich noch die erste Zeile des Romans Stiller, die da lautet: "Ich bin nicht Stiller." Nun ja; ich bin, der ich bin, und daran läßt sich aufbauen. Sogleich teilte sie mir entgegenkommend ihren Namen mit. Als sie etwas über meine beruflichen Ziele wissen wollte, gab ich nur ungern zu, daß ich in Kürze an der Höheren Technischen Lehranstalt für Informatik maturieren sollte. "Weißt du; es besteht da so ein Zwiespalt. Auf der einen Seite macht es mir Spaß, mit Computern umzugehen, oder Schaltpläne zu zeichnen; auf der anderen Seite stört mich dieser vor dem Zufall sichere Rationalismus. Alles ist bereits vorausgerechnet, und ich fühle mich bloß in der Rolle eines Menschen, der nachzuvollziehen versucht, warum etwas so ist, wie es bereits bewiesen werden konnte." Ich hätte schon zugeben können, daß ich als Gegenstück dazu schrieb, aber dafür hatte ich später immer noch Zeit. Stattdessen begnügte ich mich damit, sie über belanglose Dinge sprechend nach Hause zu bringen. Immerhin wurde mir ein Abschiedskuß zugestanden.

In den nächsten Wochen tanzten wir jeden Freitag und Samstag miteinander. Meine Knie schlotterten nicht mehr, und ich brachte soviel Selbstbewußtsein auf, um sie zu fragen, ob sie bereits einen Freund habe. Sie zeigte sich über diese Frage verwundert, teilte mir aber mit, daß sie mit R. befreundet sei. Ich hätte gern nachgehakt, und von ihr wissen wollen, wie eng sie mit ihm befreundet ist, aber stattdessen zog ich sie während eines langsamen Walzers nah an mich heran, sodaß ich ihre kleinen prallen Brüste spüren konnte. Sie lächelte mich an, und versetzte mich in Schrecken, weil sie vorschlug, mir R. vorzustellen. Er sei ein Schulkollege, und ein Jahr jünger als ich. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte, aber vielleicht würde die Wahrheit ans Licht kommen. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, und starrte lange Zeit an die Decke meines Zimmers. Schließlich las ich ein wenig in den Tagebüchern von Max Frisch, was dazu führte, daß jegliche Müdigkeit, die in mir sein hätte können, vertrieben wurde.

Der technischen Existenz wird zuviel Kompetenz zugestanden. Väter kaufen ihren Söhnen und auch Töchtern Computer, Handys, Fernseher oder zumindest NINTENDO 64. Der Lebensraum wird zu einem engmaschigen Netz von vorgegaukelter Vielgestaltigkeit. Die Einsamkeit des Technokraten, wie sie Max Frisch in Homo faber schildert, erweitert sich auf Menschen, die der Zeit nicht nachhinken wollen, und somit in einer simulierten Welt ohne reale Kommunikationsbasis leben. Die Welt wird in eine kommunikationsbedürftige Informationseinheit verwandelt, in der ursprüngliche menschliche Begegnungen keinen Platz mehr haben. Das eigentliche Leben verbirgt sich hinter dem simulierten. Homo faber gerät in Konflikt mit der außertechnischen Welt, und wird aus dem Strudel der Eindeutigkeiten geschleudert.

Die mathematische Sprache ist eindeutig.
Das Leben ist Zufälligkeiten unterworfen.

Es ist nicht zu übersehen, daß sich der schlichte Durchschnittsbürger immer mehr von der Technik beherrschen läßt, anstatt sie als Lebensbereicherung zu akzeptieren, und sich ihr als hilfreicher Freundin anzuvertrauen. Nicht die Technik suggeriert einen lieblosen Fortschritt, sondern der Mensch, der sich ihr ausliefert, als habe es nie so etwas wie selbständiges Denken oder Individualitätserkenntnis gegeben. Max Frisch hat diese Entwicklung in die falsche Richtung, so scheint´s, vorausgesehen; heute am Ende des 20. Jahrhunderts ist es gar nicht mehr notwendig, technisch rationalisiert zu sein, um nicht mehr an Wunder glauben zu können. Es reicht schon, die Technik nicht als Hilfsinstrumentarium für Lebensqualität zu verstehen, sondern als bequemen Ersatzgott über sich herrschen zu lassen.

Knapp zwei Wochen später folgte der Tag der Wahrheit. R. stellte sich als ein mittelmäßiger, schmächtiger Bursche heraus, der zum Unterschied zu mir nur geringgradiges literarisches Interesse aufbrachte. Die einzige Gemeinsamkeit, die wir zu haben schienen, lag darin, daß wir beide einen Computer besaßen. Das Mädchen trug einen Minirock, und ein T-Shirt mit der Aufschrift
Morgen könnte es zu spät sein! Sie hatte Wimperntusche aufgetragen, und wippte fast unter bruchslos mit ihren modernen Sportschuhen auf und ab. Wir saßen im Schweizerhaus, und tranken fast geräuschlos Almdudler und Cola. Ich sah immer wieder zu den Füßen des Mädchens hinunter, und bemerkte, daß sie ihre Schuhe ausgezogen hatte. R. erzählte gerade davon, daß es in Zukunft überhaupt keine Bücher mehr geben werde, da alle Texte im Internet eingespeist, und jederzeit abrufbar wären, als ich bemerkte, daß M. mit ihren Zehen auf meinem linken Schuh tanzte. Ich erwiderte R., daß ich nicht an die große Allmacht des Internet glaubte, und es immer Bücher geben werde. Schließlich sei es ja eine Pionierarbeit gewesen, die Johannes Gutenberg geleistet hätte.

Als R. kurz austrat, um die Toilette aufzusuchen, sah ich M. verliebt in die Augen, und streichelte ihre Hand.
"Liebst du Richard?", fragte ich sie.
"Er war mein Typ, aber du hast mich überzeugt, daß das ein Fehler war."
"Warum hast du uns einander vorgestellt?"
"Ich wollte wissen, woran ich bin. Komm´ her."
Sie küsste mich, und erlaubte es mir, daß ich meine Zunge in ihren Mund steckte. Als wir voneinander abließen, stand R. vor uns, und starrte uns vollkommen entgeistert an.
"Aha, so läuft also der Hase. Du hast dir diesen intellektuellen Kerl angelacht, und glaubst, daß du mich demütigen kannst. Aber ohne mich. Ich weiß immerhin, was dieser Herr für Vorlieben hat. Er liest ja sooo gerne Frisch. Nicht wahr. Aber ich bin auch nicht auf den Mund gefallen. Immerhin habe ich seinen dritten Roman gelesen: Mein Name sei Gantenbein.
Gantenbein spielt den Blinden, und liefert sich damit der Willkür seiner Umgebung aus. Er inszeniert ein Leben, das sich so für ihn nicht hätte abspielen können. Aus dieser Rolle, die er verkörpert, wird bitterer Ernst. Er spielt sie gekonnt, und bald ist es so, als sei ihm dieses Leben in die Seele eingegeben. Frisch erhebt das Rollenverhalten auf einen Podest, den Gantenbein nicht verlassen will. Wir alle können eine Identität vorgeben, die uns nicht entspricht. Und tun wir das alle nicht auf diese oder jene Weise? Technik im ursprünglichen Sinn des Wortes ist ja nicht mehr als eine Strategie, dem Leben positive Aspekte zu verleihen. Indem der Mensch sich sozusagen andere Kleider anzieht, wird er zu einem Objekt, das keine Scham mehr kennt. Als Blinder ist Gantenbein seiner eigentlichen Identität enthoben. Und somit kann er in jedem Falle einen Sieg davontragen..."
Der wilde Zungenkuß hatte mir viel Selbstvertrauen gegeben, und so legte ich all meine geistige Kraft in eine Antwort, die sich hören lassen sollte. Ich wollte mit diesem Mädchen Hand in Hand das Schweizerhaus verlassen, und mir nicht von einem Möchte-Gern-Philosophen die Show stehlen lassen.
"Eine gute Überlegung", sagte ich, und begann wieder, M.´s Hand zu streicheln.
"Aber eines vergißt du dabei: Die Rolle als Lustfaktor der menschlichen Begrenztheit dient dazu, ihn jeglicher Freiheit, zu sich selbst zu stehen, zu berauben. Ich weiß schon, was du einwenden könntest. Der Mensch kann sich selbst nicht gut genug kennen, um seine Motivationen, ein Anderer sein zu wollen, in die Waagschale seiner Existenz werfen zu können. Aber eben die sehr mangelhafte Rolle ist es, die den Menschen der technisierten Welt heute kennzeichnet. Er hat jeglichen Kontakt zur Natur verloren; Traditionen und Rituale sind ihm verlorengegangen. Also muß er sich Ersatzstücke suchen, um nicht vollkommen in seiner eigenen Borniertheit zu versinken. Und was ist da befriedigender als eine Rolle, die gespielt wird? Alles ist als Möglichkeit relevant, und es geht nur darum, sich an der eigenen Verstellung zu berauschen. Es gibt Ersatzexistenzen, in die man schlüpft, um oft nie wieder aus ihnen auszubrechen. Wenn du die Sache weiterspielst, erkennst du, daß für viele Menschen der Computer eine Ersatzwelt ist, in der er sich nicht verloren sieht. Gantenbein ist kein Künstler der Verstellung; er spielt seine Rolle nur sehr gut. Identität entfaltet sich in der Begegnung mit anderen Menschen. Die technische Existenz ist, wenn du mich fragst, nicht mehr als eine dieser Rollen, die dem Menschen anhaften können. Nur Rationalismus ohne Empfinden ist wie künstliche Intelligenz auf dem heutigen Stand der Technik. Computer haben keine Gefühle. Warum also sollte sich der Mensch der Technik ausliefern; seine ganze Existenz an ihr aufrichten? Gantenbein ist ein Sieger, weil er in seiner Rolle noch empfinden kann."

R. schüttelte den Kopf, und wollte M. gewaltsam von mir trennen. Er hatte sich nicht wieder hin gesetzt, und seine Wut schien immer größer zu werden. Voller Haß starrte er mich an, und brüllte mich wie ein verwundeter Löwe an.
"Wofür hältst du dich eigentlich, du Idiot? Für etwas Besseres? Du kannst dir deine ganze Philosophie in den Arsch schieben. Michaela wird mit mir mitkommen. Und wenn du es unbedingt wissen willst. Sie hat mir schon einmal einen geblasen."
Ich ließ M.´s Hand nicht los, und ließ mich in meinem gewonnenen Mut nicht unterkriegen. "Selbst, wenn es so wäre; hat das irgendeine Bedeutung? Du spielst eine farblose Rolle in unserem Beziehungsgeflecht. Willst dich damit verteidigen, daß du uns verletzt. Wir müssen dieses Spiel aber nicht mitspielen. Du sollst dir kein Bildnis machen. Kennst du diesen Satz nicht? Frisch verwendet ihn in Stiller viele Male als Grundantwort auf die Identitätsproblematik. Und es wäre an der Zeit, daß du dir nicht allzu sehr ein Bild von dir selber machst, das dir nicht entsprechen kann. Du solltest bei dir selbst bleiben. Dann könnten wir weiterreden. Ganz zu schweigen davon, daß du mich in einen Rahmen einsperren willst, über den ich nur lachen kann. Du solltest versuchen, diese Umgrenzung zu sprengen, die dich vor deiner Umwelt, und der Selbstannahme trennt."
R. stampfte wütend mit den Füßen auf. Er griff jedoch weder M. noch noch mich an. Mit hochrotem Kopf verließ er das Schweizerhaus, und wurde seitdem von mir nie wieder gesehen.
Ich ging nach dieser Szene mit M. in den Prater, und wir fuhren Hochschaubahn, warfen Dosen, und ich küßte sie leidenschaftlich in einem Waggon des Riesenrads. Danach verabredeten wir uns für nächste Woche, und ich durfte sie, so wie Gott sie geschaffen hatte, in den Arm nehmen und liebkosen. R. hatte uns wie Computer gesehen, die nicht auf die Befehle reagierten, die er eingab. Er scheiterte daran, allzu rational zu denken, und die Liebe als kopfgesteuerte, physische Energie zu definieren. M. und ich erlebten gemeinsam wunderbare Zeiten, bis sich unsere Wege wieder trennten.

Es gibt Menschen, die der Technik gegenüber sehr kritisch eingestellt sind. Sie glauben, daß dem Menschen alles über den Kopf wächst, und er schlußendlich von ihr vernichtet wird. Immerhin gibt es ja nach wie vor todbringende Bomben, die zu Tausenden produziert werden. Es braucht nur einer auf den Knopf zu drücken und... Das militärische Denken ist tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt, und die technischen Möglichkeiten haben dazu beigetragen, den Menschen in Angst vor der atomaren Apokalypse zu versetzen. Es darf aber nicht vergessen werden, daß der Technik diesbezüglich keine Schuld zugewiesen werden kann: Ideen wurden geboren, und im Laufe der Jahrhunderte in Horrorszenarien verwandelt. Der kriegerische Instinkt scheint dem Mann angeboren zu sein; darüber sollten wir nachdenken; und nicht darüber, warum Technik so zerstörerische Auswirkungen haben kann.

Es ist leicht, aus einem Werkzeug eine Waffe zu machen.
Noch leichter ist es, aus einer Waffe eine gefährlichere Waffe zu machen.
Das militärische Denken lebt davon, diese einfachen Grundsätze zu befolgen, und zu vervollkommnen.

Max Frisch zeigt uns mit seinen drei großen Romanen Homo faber, Stiller und Mein Name sei Gantenbein, daß er nicht nur ein schreibender Architekt war, sondern ebenso ein Baumeister, der die Identifikationsmuster des sich in den Spiegel sehenden Menschen entwirft, welcher zwar einerseits nur ein verzerrtes Bild seiner selbst entdeckt; andererseits aber erkennt, daß er sich nur vor seiner eigentlichen Identität und deren tiefsten Ängsten tarnt.
Nur aus diesem Grund heraus kann die Technik als Waffe mißbraucht werden.

«