Süße Fäulnis
(Eine Reise nach Venedig)

von Rihno Rhinozeros 

Das war Venedig, die schmeichlerische und verdächtige Schöne, diese Stadt, halb Märchen, halb Fremdenfalle, in deren fauliger Luft die Kunst einst schwelgerisch aufwucherte. (...)
(Aus Thomas Manns "Tod in Venedig")


Diese Geschichte ist nicht von mir. Ich vernahm sie von meinem guten alten Freund André Metz. Inwiefern all das von ihm Erzählte der "Wahrheit" entspricht, sei dahingestellt, aber derartiges hat mich eigentlich niemals sonderlich interessiert. Wie oft denn hat uns ein Abend voller "Wahrheiten" angeödet, während Erzählungen, die - mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit - erdichtet beziehungsweise vollständig erlogen, mir (vielleicht gerade deshalb!?) die vergnüglichsten Stunden zu bereiten imstande waren.

Nun, seine letzte Reise, im November des vorigen Jahres, führte ihn in die berühmte Lagunenstadt Venedig. Seine Worte sind mir noch in lebhafter Erinnerung, und ich werde mich bemühen, sie an dieser Stelle so wortgetreu als möglich, also ganz nach seiner Art wiederzugeben.

Schon oft habe ich ihn angehalten, seine Reiseerzählungen schriftlich festzuhalten; er aber winkt dann immer ab und meint, das würde der Spontanität Abbruch leisten. Ich könne ja, wenn ich ihm aufmerksam genug lauschen würde, aus der Erinnerung später aufzeichnen, was ich gehört habe.

Als ich Anstalten machte, mir das eine oder andere während seiner Erzählung zu notieren, reagierte André ziemlich unwirsch und meinte, dass das Erzählte dem Erlebten immer noch näher stünde als das Niedergeschriebene. Außerdem fragte er mich, ob ich denn nicht jenen Satz von Platon kenne, der da lautet, dass ein ernsthafter Mann, der sich mit ernsthaften Dingen beschäftigen wolle, nichts mit dem Schreiben zu tun haben dürfe. Ich entgegnete ihm, dass mir dieser Satz gänzlich unbekannt sei, ich aber gleichzeitig auch kein ernsthafter Mann sein wolle - er lachte laut und zeigte sich versöhnlich; immerhin erlaubte er mir diese Niederschrift. Bei der Erlaubnis für Notizen während seiner Erzählung war er aber auch weiterhin unnachgiebig.

Wie auch immer - ich glaube doch sagen zu dürfen, dass seine Worte mich so sehr fesselten, dass ich sie recht gut wiederzugeben imstande bin:

 

Von Österreich mit der Bahn kommend, kann man sich - angesichts der Landschaft, die man befährt - nur schwer vorstellen, dass man in einigen Stunden am Meer ist. Und selbst noch eine Viertelstunde vor der Ankunft auf dem Bahnhof Santa Lucia fragt einen, immer lauter werdend, es nicht mehr erwarten könnend, das Herz: "Meer - Meer, wo bleibt nur das Meer?"
Und dann endlich fährt der Zug von Mestre, einem Vorort Venedigs, über eine schon in die Lagune eingelassene Trasse, und zur Linken, wie auch zur Rechten sieht man das, was schon zuvor, was eigentlich immer schon eine Heerschar von Künstlern, Vornehmen (denn Venedig war und wird zu keiner Zeit billig sein!), Geschäftsleuten und anderen Halunken zu Gesicht bekommen hat: aus dem novemberlichen Nebel taucht die "Serenissima", die durchlauchtigste Stadt Venedig - wie sie die Venezier in ihrer "Bescheidenheit" zu nennen pflegen, auf. Bei der Ankunft auf dem Bahnhof ist es bereits Nacht und durch das Portal wird einem ein erster, gleich umwerfender Anblick geboten: Der Canal Grande mit seinen herrschaftlichen Palazzi, aufgefädelt wie die Perlen auf einer Kette und dazwischen grüne Wellen, schwarze Gondeln und spärlich beleuchtete Boote, die auf dem Wasser flitzen - wahrlich eine märchenhafte Welt tut sich auf, und wir beschleunigen unsere Schritte, um das alles aus der Nähe zu betrachten.

Ich bin - ganz untypisch für mich - schweigend dieser Schönheit und Pracht ergeben, aber Antigone, meine Gattin, führt mich - selbst auch aufgeregt - zur Anlegestelle, um den "Bus" (also das Schiff!), der uns zum Anleger "San Marco" bringen wird, zu besteigen. Da, eine Brücke nach der anderen, ein herrschaftlicher Palazzo neben dem anderen, ab und zu kann man vom Bus aus einen Blick in vornehme Salons werfen, und man fragt sich nach dem Lebensgefühl dieser Menschen, die sich wohl fast den Fischen verwandter fühlen müssen als den Affen. Ich muss lächeln, wenn ich mir vorstelle, wie es wäre, hier zu leben und auf die Schnelle mal den einen oder anderen Freund zu besuchen:
Schwupp, nicht ins Auto oder in die Straßenbahn, sondern ins Boot gesprungen, durch diese oder jene "Wasserstraße" - Vorsicht Einbahn, Gegenverkehr etc. - und vor dem Haus oder vielmehr Palast - denn diese Herrschaftshäuser lassen einfach darauf schließen, dass diese Stadt zu keiner Zeit etwas für den sogenannten "einfachen" Mann von der Straße" (welch ein Hohn! -in diesem Fall hätte man ja sagen müssen, ... "einfachen Mann vom Canal " - was ja wohl zu lächerlich wäre!?) gewesen sein kann.

Wir machen also am Anleger San Marco fest und begeben uns zu unserer Pension, die zwar ein billiges Quartier sein soll, aber schließlich mit Hotelpreisen aufwartet. Das Zimmer selbst ist, wie wir es gerne haben: schäbig aber sauber. Man braucht also vor Kakerlaken keine Angst zu haben, aber die Schäbigkeit an sich wirkt inspirierend und wohltuend - wer da schon aller übernachtet haben muss, und wie!

Am nächsten Tag präsentiert sich die Lagunenstadt von ihrer schönsten Seite. Wärmende Sonnenstrahlen lassen uns vergessen, dass es Ende November ist. Nach einem Capuccino und der dazugehörigen Brioche machen wir uns auf, die sogenannten Sehenswürdigkeiten zu erkunden. In unserer unmittelbaren Nähe liegt der immer überlaufene Markusplatz mit dem berühmten Dogenpalast.
Immer überlaufen deshalb, weil dort, wo sich heute Touristen aus aller Welt mit freudigem Gesichtsausdruck dabei ablichten lassen, wie ihnen ganze Geschwader von Tauben auf den Kopf oder sonst wo hinscheißen, rollten auf dem kleineren, auf dem "Vorplatz" zum Markusplatz, auf der sogenannten "Piazzetta" in früheren Zeiten schon mal Köpfe.
Auf diesem Platz, nämlich genau zwischen den beiden Säulen, fanden früher nämlich Hinrichtungen statt, was auf manchen abergläubigen Zeitgenossen immer noch einen so übermäßig beängstigenden Eindruck macht, dass er zwischen den beiden Säulen lieber nicht durchgehen mag.
Antigone und ich meiden ohnehin lieber dieses Knäuel aus Menschen- und Taubenmassen, und da wir sowieso in der Nähe dieses Platzes wohnen, beschließen wir, später noch einmal zu kommen, in der Hoffnung, dass zu diesem Zeitpunkt - also nächtens - das ohnehin recht schläfrige Gethier uns dann nicht mehr allzu sehr belästigen mag.

Beim Verlassen der Piazetta flattert uns dann doch noch ein schräger Vogel in die Quere. Wir sehen eine Menschentraube, diesmal nicht umgeben vom Taubenvieh, hören Lachen und spitze, freudig erregte Schreie, die anscheinend von einem Paradiesvogel stammen müssen: Ein farbiger Transvestit in aufreizender Kleidung herzt und turtelt mit jedem, der vor ihm nicht Reißaus nimmt, lässt sich auf- und wohl auch davon angeregt - mit jedem, der es wünscht oder auch nicht, fotografieren. Die Venezianer selbstverständlich haben da wieder etwas gefunden, das ihnen Freude machen kann, doch der Transvestit scheint es - zu meinem Schrecken - irgendwie auf mich abgesehen zu haben.
Ich kann mich gerade noch vor ihm retten, indem ich ihm meine Frau "vorwerfe", in der Hoffnung, das würde den Tolldreisten ein wenig von mir ablenken. Glücklicherweise begnügt er sich mit einem gemeinsamen Foto, und da es ja genug Venezianer gibt, deren Bewunderung er offenbar würdig ist, lässt er von uns ab und verschwindet in der Menge, zwischen Tauben- und Menschenmassen. Seine hohen, wollüstig-vergnügten Aufschreie sind noch unten am Anleger San Zaccharia zu hören, werden aber mehr und mehr vom Möwengesang überdeckt.
"Welch ein Unterschied!"sttoße ich aus: Hier die Tauben, die den ganzen Dreck machen und da die braven Möwen, die ihn fressen - ungleich sympathischere Tiere, - diese Möwen!

Ich selbst bin ja - wie zumeist - völlig orientierungslos, und hätte ich da nicht mein treu-liebend Weib, wer weiß, was alles hätte passieren können: Letztlich wäre ich wohl doch wieder beim Transvestiten auf dem Markusplatz gelandet ...
So aber kamen wir - wie mir zumindest - schien , ohne allzu große Umwege auf der berühmten Rialtobrücke an, was ich allerdings nur Antigone, nicht aber den fast schon in hinterhältiger Weise angebrachten Orientierungspfeilen und -tafeln, verdanke: "Rialtobrücke" steht auf einem Pfeil, der nach rechts zeigt, unweit davon einer, der nach halbrechts weist, und bald darauf wieder einer, der unverschämterweise sogar ganz nach links zeigt - und da soll sich jemand wie ich orientieren.
Aber wie gesagt, da ist ja noch meine Gefährtin, die mir sicher den Weg weist.
Auf der Rialtobrücke wird man von Kitsch und Kommerz geradezu erschlagen. Ein italienischer Maskenverkäufer verstört mich, indem er zu mir sagt, ich möge doch eine andere Maske aufsetzen. Ich komme nicht dazu, weiter darüber zu sinnieren, was er damit wohl meint, denn schon hat er mir eine grauenhafte Karnevalsmaske aufgesetzt und brummt sichtlich zufrieden von dieser Verkleidung: "Il putaniaro italiano!" Ich gebe vor, noch ein wenig weiter unter diesen wunderbaren Masken auswählen zu wollen, und als er sich neuen Opfern zuwendet, machen wir uns rechtzeitig aus dem Staub (!?).
Lange stehen wir noch auf der Rialtobrücke, sehen der öffentlichen "Schiffsbuslinie" Nr. 1 nach, die den Canal Grande abklappert und die sich wunderbar zu einer Art Lagunenrundfahrt eignet. Ich betrachte diese prächtigen Bauten, die die Venezianer im Laufe der Jahrhunderte geschaffen haben und komme zu dem Schluss, dass in dieser Stadt die "Künstlichkeit" zur Kunstform erhoben wurde; was wohl nicht weiter Wunder nimmt, wenn man an die Anfänge dieser Stadt zurück denkt:
Auf der Flucht vor kriegerischen Überfällen, darunter auch die der nicht gerade als zimperlich bekannten
Hunnen, baute man sich in diesem ehemals unwirtlichen Schlamm- und Sumpfgebiet eine Art Ersatzsiedlung, in die man in Kriegs- und Krisenzeiten flüchten konnte. Nach und nach entschloss man sich dann - wohl des andauernden Übersiedelns leid - überhaupt dort zu bleiben, und somit war der Grundstein - pardon - der Grundpfahl für das Venedig, wie wir es heute kennen, gesetzt.

Irgendwo in einem Nebenkanal, fernab des touristischen Wahnsinns, belästigt uns ein Gondoliere solange, bis wir schließlich in eine Gondelfahrt einwilligen. Kreuz und quer geht es durch die Kanäle, wobei wir jetzt verstehen, warum eine kontinentaleuropäische Führerscheinprüfung nichts gegen die Ausbildung zum Gondelschiffer ist: Geschickt manövriert er uns durch teilweise haarsträubend enge "Gassen", dabei gewandt den einen oder anderen Fuß als zusätzliches "Ruder" verwendend, wenn er sich an Häuserecken abstößt, um dem Boot eine andere Richtung zu geben, oder um diese engen Kurven überhaupt zu bewältigen. Als wir uns - zum Ambiente passend - einen Kuss geben, stimmt der Gondoliere, (zu dieser Ausbildung muss wohl auch Gesangsunterricht zählen!), irgend ein romantisches Lied an.
Mir gefiel es ganz gut, Antigone offenbar doch nicht so recht, denn sie bat mich, ihn anhalten zu lassen, weil ihr nämlich von alldem ein wenig übel sei, und sie fürchtete, sich zu den Klängen einer Opernarie in den Canale übergeben zu müssen, was dem Ganzen wohl eine doch zu absurde Note verliehen hätte.

Gerade noch schaffen wir es, das Unglück abzuwenden - alle sind am Schluss zufrieden. Der Gondoliere, der nicht - zumindest für eine Weile - weiter zu singen braucht, meine Gattin, die nicht zu kotzen braucht, und letztlich auch ich - der nur für dieses kurze Vergnügen zu zahlen braucht - und ich darf mit Fug und Recht sagen, nicht allzu wenig. Also es genügt, die Gondeln zu betrachten, man sieht sie ja ununterbrochen aus der Nähe wie auch aus der Ferne, und will man eine "Stadtrundfahrt" unternehmen, so bediene man sich der "Busschiffe" der öffentlichen Gesellschaft ACTV, die bringen einen auch überall hin und sind nicht nur um einiges geselliger, sondern auch deutlich kostengünstiger.

Nach einigen Kilometern über Brücken hinauf und Brücken hinab - und es verwundert wohl nicht weiter, dass die Venezier bis ins hohe Alter gut zu Fuß sind - gut zu Fuß sein müssen - zumal es ja sonst an alternativen Fortbewegungsmitteln - ausgenommen vielleicht die schon erwähnten "Busschiffe" - mangelt, meldet sich der Appetit ziemlich nachdrücklich. Ich weiß nicht, wie es mit den privaten Booten und Motorschiffen steht, ob das schon Dimensionen wie bei uns das Automobil angenommen hat: Ich fahre ein Motorboot mit 60 PS, Spitze so und so viel Knoten etc. Ich habe mich mit ein paar Jugendlichen unterhalten - also bei denen hatte das eigene Motorboot durchaus den Status eines Mopeds bei uns. Da wird auch kräftig am Motor frisiert, und wenn das geschehen ist, dann jagt man tollkühn um die Wette durch die Kanäle - man muss sich aber vorsehen, denn die Polizei fährt natürlich schnelle Boote und die Strafen sollen recht saftig sein.

An allzu touristisch aussehenden Lokalen gehe man rasch vorbei - die sind meistens höchstens mies, um nicht zu sagen: eine Frechheit: Bestenfalls durchschnittliche Küche, aber fürstliche Preise (und man bedenke, selbst das billigste ist in Venedig zum Teil schon ungeheuer teuer!). Wie gesagt, am besten hält man nach einem eher kleineren, familiär wirkenden und oft auch als solches geführten Ristorante Ausschau, welches man am ehesten abseits der touristischen Haupttrampelpfade finden mag. In solchen Fällen - und im speziellen in Venedig - lasse man sich doch einfach ein wenig auf Magie ein. Man folge einfach dem Gefühl, bzw. seinem Magen und stelle sich die einzelnen Köstlichkeiten vor - und wenn man sich etwas Mühe gibt, wird vielleicht irgendwo unterhalb einer kleinen Brücke ein solches Restaurant auftauchen - nämlich genau so eines, wie man es sich zuvor vorgestellt hat. Dort kehre man dann ein und nehme sich natürlich ausgiebig Zeit - es wäre ja wohl wahnwitzig im Urlaub zu sein, und dann auch noch Zeitdruck zu verspüren. Was soll denn schließlich pressieren? Die Sehenswürdigkeiten, die es noch zu sehen gilt?! Ich kann dir versichern, selbst wenn du nicht alles, was in deinem Reiseführer aufgezählt steht, siehst, dafür aber deine Augen offen hältst, gewinnst du weit mehr! Lass dich doch einfach treiben, aber halte - wie gesagt - deine Augen offen. Beobachte die Einheimischen und vielleicht kommst du mit ihnen ins Gespräch - und wirst plötzlich mehr erfahren, als all die Sehenswürdigkeiten, die ja zumeist mit ausländischen Touristen gerammelt voll sind, dir je zu sagen imstande sind.
Beobachte einmal, wie jede Nacht um Mitternacht - gleich einem Geist - jener alte Venezianer seinen Abendsparziergang über den nunmehr wesentlich sympathischeren Markusplatz (die Tauben liegen zusammengekauert auf dem Boden und man könnte hoffen, sie seien wirklich krepiert - was sie natürlich nicht sind!) macht, um dann allnächtlich auf der selben Bank Platz zu nehmen und dann, genüsslich und selbstverständlich ohne jeglichen Zeitdruck, seine Zigarre raucht. Lass dich nur in seiner Nähe nieder und beobachte ihn, und du wirst selbst ein wenig genussfreudiger, ein wenig langsamer - und damit auch menschlicher.

Aber zurück zum Lokal: Selbstverständlich speisten wir nach der Art der Venezianer, was bedeutet: Zunächst einmal nimmt man sich viel Zeit. Dann bestellt man eine Vorspeise, darauf den sogenannten "ersten Teller" (primo piatto) und dann erst die Hauptspeise - in unserem Fall ein fegato alla veneziana, also eine in Mehl gewendete, leicht mit Zwiebeln angeschwitzte und mit Weißwein abgelöschte, geschnetzelte Kalbsleber. Dazu eine - oder noch eine Flasche vino della casa, einen Hauswein, und danach ist Venedig noch schöner.
Nachdem Antigone und ich, was die Dauer - und wohl auch Ausgiebigkeit des Mahles betrifft - locker mit den Venezianern mithalten konnten, beschlossen wir, dass es Zeit wäre, kurz in unsere Pension zurückzukehren, um uns ein wenig auszuruhen, um dann Venedig bei Nacht zu erkunden.

Wir zogen uns also auf unser schäbiges aber alles in allem reinliches Zimmer zurück. Nach dem üblichen Besichtungsprogramm tagsüber beschlossen wir, das Flair dieser Stadt bei Nacht auf uns wirken zu lassen. Um die Eindrücke zu verstärken beziehungsweise um sie in einem noch magischeren Licht erscheinen zu lassen, pflege ich auf meinen Reisen stets ein wenig Haschisch mit mir zu führen, welches ich nun zum Rauchen vorbereitete.
Nach vollendeter Tat verließen wir das Hotel, hatten aber zuvor noch eine Begegnung der seltsamen Art mit dem jungen Hotelportier. Während am Vorabend ein älterer Venezianer, mit dem wir einige Worte über das Wasser der Lagune, den Tourismus im Winter und dergleichen wechselten - und ich spreche eigentlich kein Italienisch, aber dafür umso mehr mit Händen und Füßen, diesen Posten bekleidete, war es jetzt dieser junge, etwas wirr wirkende Mann, der uns beim Verlassen der Pension aufforderte, ihn beim Zurückkommen nicht zu wecken, sondern uns selbst den Schlüssel zu nehmen. Ich hielt dies - in Anbetracht meines Vorhabens zu rauchen - ohnehin für die günstigste Variante, da ich doch wieder einmal ein Unwohlsein bei dem Gedanken dieser Art verspürt hatte, nach der Konsumation des Krautes mit diesem offensichtlich seltsamen Kauz eine längere Konversation betreiben zu müssen - vor allem zwischen Portierloge und unserem Zimmer.

Zunächst ließen wir uns einfach treiben, wohin uns unsere Füße trugen. Wir hatten uns nur mit einem kleinen Stadtplan ausgerüstet, um für alle Fälle gewappnet zu sein, beschlossen aber, selbigen nur bei äußerster Verwirrung zu Rate zu ziehen. Tatsächlich: das Venedig der Nacht war ein ganz anderes. Noch am Tage hatte ich über den hypersensiblen, etwas hypochondrisch wirkenden deutschen Großbürger Thomas Mann gewitzelt, der anscheinend überall in Venedig den Tod auszumachen schien. Jetzt aber, auf unserem nächtlichen Spaziergang, konnte man schon ein wenig frösteln, und dies nicht nur der feuchten Kälte wegen, die sich durch unsere Bekleidung bis auf die Knochen durchzufressen versuchte. Irgendwo über eine Brücke gehend, gelangten wir ins Stadtviertel namens Castello.

Ich habe, was das Rauchen eines Joints betrifft, meine eigenen Ansichten. Ich denke, dass die heutige Situation im (vereinigten) Europa dergestalt ist, dass, wenn man sich nicht allzu auffällig gibt, beziehungsweise einen alles in allem kultivierten Eindruck macht, sich kaum jemand daran stößt, wenn man irgendwo in einer Stadt, an einem ruhigen Ort, in kontemplativer Stille und Gelassenheit etwas Haschisch raucht. Aus diesen Gründen sehe ich mir immer die Gegend genauer an, ehe ich mich irgendwo zum Genuss niederlasse.
Nun gut, bisweilen nimmt diese Suche auch groteske Züge an und kann auch übertrieben werden: ein stiller Ort, aber auch wiederum nicht zu abgelegen, mit einem inspirierenden Ambiente etc. Dies sollte sich doch in Venedig finden lassen. Meine übertriebene Vorsicht sollte jedoch bestraft werden: Nach einer doch eher getriebenen Suche - wobei mir der eine Platz zu windig, der andere zu hell, ein weiterer zu dunkel usw. erschien, fanden wir endlich einen angemessenen Rauchplatz auf einer kleinen, kaum begangenen Brücke. Antigone und ich rauchten nun das Zigarettchen an. Völlig hingegeben dieser magischen Atmosfäre Venedigs bei Nacht rauchten wir bedächtig zu Ende. Wir verweilten ein wenig auf der Brücke und palaverten trägen Blickes aber wachen Geistes über dies und jenes und beschlossen endlich, uns auf die Socken zu machen. Aber oh Schreck - was musste ich sehen! Mein ach so sicheres Örtchen war keineswegs ein solcher idealer Ort, wie ich zuvor gedacht hatte. Mitnichten! Als wir nämlich von der Brücke gingen, erkannte ich, dass ich offensichtlich soviel Italienisch beherrschte, um zu bemerken, dass wir - schlichtweg gesagt - keine hundert Meter von einem Polizei-Hauptkommissariat - diese verbotene Droge zu uns genommen hatten. Ich begann zu klagen und mich immer öfter umzudrehen. Nun setzte aber nicht nur die Wirkung des Hanfes ein, sondern auch Venedig schien mit mir, der ich am Tage noch allzu vollmundig gewesen war, mit seinen Eigenheiten ein böses Spiel treiben zu wollen. Plötzlich hallten hinter uns Schritte, die man - in dieser stillen Stadt - noch lauter vernehmen kann, und die mich in Aufruhr versetzten: Gottlob, nur ein alter Mann, der seinen Hund ausführt; aber ist der auch wirklich alt? Bei diesem eigenartigen Dunst, bei diesem gelblichen Dunst, wohl durch die Feuchtigkeit und die Straßenlaternen bedingt und verstärkt, konnte man ja auch nicht wirklich erkennen, ob es sich um einen alten Mann handelte, oder ob uns schon ein Carabiniere auf den Fersen war; und warum geht der uns solange nach? Zum Glück hatte Antigone ihre Sinne offenbar mehr beieinander, als ich. Sie vermochte mich, der ich schon mit der Abreise am nächsten Tag spekulierte (so man uns noch ließ, wie ich mir einbildete!?), zu beruhigen und lenkte meine Aufmerksamkeit auf wesentlichere Dinge als alte Männer, die ihren Hund Gassi führten.

Plötzlich stand da vor uns der schiefe Turm von San Giorgio dei Greci, einer griechisch-orthodoxen Kirche. Und der Turm ist tatsächlich völlig windschief - es war also keine Einbildung. Nach einem kurzen Besuch im verwunschen wirkenden Innenhof der Kirche gingen wir weiter. Plötzlich erinnerte ich mich gelesen zu haben, dass der österreichische Schriftsteller Fritz von Herzmanovsky-Orlando behauptet habe, selbst Eingeborene der Lagunenstadt wehklagend vor Madonnenbildern gefunden zu haben, weil sie sich verirrt hatten, aber falsche Scham ihnen verbot, Auskünfte über den Weg einzuholen.

Nun, auch wir kamen bei solch einer kleinen Nische mit einem Mutter-Gottes-Bild vorbei, doch in meinem Falle keineswegs klagend, sondern bestens gelaunt, und ich sah in dieser Herzmanovsky´schen Episode bzw. in der expliziten Erwähnung selbiger nur einen weiteren Beweis für die Denkart dieses - zwar alles in allem irgendwie auch hier nach Venedig passenden, weil dekadenten österreichischen Schriftstellers, dem ich aber immerhin dankbar war, weil er mir in seiner Verschrobenheit zum Amusement diente. Uns kam die Orientierung nicht wirklich schwer vor. Denn ganz offensichtlich war die Stadt und ihre Gassen einer gewissen Logik - wie uns schien - zufolge angelegt: über Brücken zu gehen kann nie schaden, und halte dich immer entlang größerer Kanäle, und du kannst dich eigentlich nicht wirklich verlaufen - und wir sind eigentlich immer dort hingekommen, wo wir hinwollten, und dies selbst dann, wenn wir von verschiedenen Ausgangspunkten losgegangen sind. Immer gelangten wir letztlich am Markusplatz an - in diesem speziellen Fall war es gerade Mitternacht, schlag Zwölf, und die Glocke des Campanile läutete den neuen Tag ein. Wir sahen und hörten wie viele Venezianer - und es sind tatsächlich nicht wenige und nicht nur junge, die die Stadt um diese Zeit noch bevölkern - mit freudigem Jauchzen den neuen Tag begrüßen, eigentlich leidenschaftlicher als hierzulande den Jahreswechsel.
Auf dem Platz vor der berühmten Basilika, die ihren Namen in einer gewissen Art und Weise auch dem Schweinefleisch verdankt, (die Venezianer wollten doch nicht eine mächtige Basilika erbauen, ohne die Gebeine des künftigen Namensgebers in Händen zu halten; so begab es sich, dass sie listig die sterblichen Überreste aus dem muslimischen Alexandria herholten. Wie nun einmal Zöllner so sind, wollen sie alles immer gerne genau wissen und sahen in den Korb - igitt, eine Sau, nur keinen allzu engen Kontakt mit dem "Schmutzigen" - "los verschwindet damit!" Und so kamen die Knochen des heiligen Markus nach Venedig und die Kirche würdig zu ihrem Namen!), sangen einige junge Venezianer schöne Lieder. Und es waren dies nicht Gesänge der Art, die irgendwelche Halbstarke in betrunkenem Zustand vor sich hergrölen, sondern Lieder, die auch die Basilika und die Gebeine des Markus in keinster Weise beleidigten - ganz im Gegenteil. Welch ein Lebensgefühl und welch ein Unterschied.
Ich dachte immer (und rechtfertigte auch irgendwie auch immer!), dass die Temperaturen an dem bisweilen doch unterkühlten österreichischen Lebensgefühl schuld sein könnten - hier wurde ich offenbar eines besseren belehrt, denn Venezianer und Venezianerinnen aller Altersklassen saßen in Mäntel gehüllt - was ihrer guten Laune um halb ein Uhr morgens in keiner Weise Abbruch tun konnte - vor dem Café Chioggia. Dieses Café war dermaßen grandios kitschig, dass wir etwa eine Viertelstunde lang mitten auf der Piazetta stehen blieben, um dem Treiben vor und im Café unsere Aufmerksamkeit zu schenken: Ein Pianist, der Michael Jackson mit großem Eifer und Feuer zum Besten gab, was sich in dieser Version sogar durchaus erträglich, zumindest aber zum Ambiente passend, anhörte, hätte uns fast dazu animiert, knapp vor ein Uhr den Markusplatz zur Tanzfläche umzufunktionieren, und ich bin mir dessen ziemlich sicher: niemand hätte sich daran gestoßen, vielleicht wären auch einige unserem Beispiel gefolgt. Wie auch immer, gute Laune herrschte im Café Chioggia, wo livrierte Kellner eben zu besagter Michael Jackson-Klaviermusik einem Publikum zwischen 50 und 64 Jahren Kaffee in Kännchen kredenzte. Sehr eigenartig!

Als der Campanile ein Uhr schlug, überkam uns die wohlbekannte Lust nach Süßigkeiten, aber außer dem Chioggia - welches in letzter Konsequenz nicht wirklich zur Diskussion stand, gab es da nur noch ein Lokal, eine Art Bar mit dem bedrohlichen Namen "Americana". Ich entschied mich für Amerika - in Zeiten wie diesen wollte ich den "Yankees" mal wieder auf den Zahn fühlen und wurde in meinen Befürchtungen nur bestätigt. Wir kauften zu völlig überhöhten Preisen einige sogenannte venezianische Süßspeisen, die wir dann im Gehen auf dem gigantisch großen Markusplatz zu verspeisen gedachten. Wenn es stimmt - was ich gelesen habe, dass im Haschischrausch selbst wenig feine Speisen als Gipfel der kulinarischen Köstlichkeit empfunden werden, (ich bezweifle diese Aussage aufgrund eigener Erfahrung!), dann kann man wohl ermessen, welch üble Qualität diese Mehlspeisen hatten. Sie wanderten in den Mistkübel, um ja nicht am nächsten Tag den Tauben anheimzufallen oder noch schlimmer von der Bar Americana aufgelesen zu werden und an andere Hungrige am nächsten Abend weiter verkauft zu werden - gut, ganz so schlimm war es, man muss es doch zugeben, nicht - aber fast!

Ich stand auf der Ponte della Paglia und blickte in den Canal. Man starrt auf das Wasser und fragt sich dann doch: Ist das jetzt ein Fluss oder das Meer? Beobachtet man allerdings das Spiel der Wellen, des Wassers Bewegung, so erkennt man letztlich, dass das die Bewegung des Meeres ist - ein flussartiges Gewässer "bewegt" sich völlig anders. Als ich diesen Gedanken zu Ende gedacht habe, fährt unter mir ein "Rotkreuz-Boot" mit eingeschaltetem Blaulicht vorbei, drinnen ist eindeutig ein Patient zu sehen, der eine Maske trägt - allerdings eine Sauerstoffmaske. Da ist es wieder einmal, das Gefühl der Vergänglichkeit. Ich versuche diesem Gefühl nicht weiter nach zu hängen und blicke auf die gegenüberliegende, berühmte Seufzerbrücke: Sie verbindet den Dogenpalast mit den früheren Gefängnissen, in denen auch einer der berühmtesten Söhne der Stadt, vielleicht sogar der berühmteste - Girolamo - Giacomo Casanova - im Jahre 1755 eine fünfjährige Haftstrafe in den berüchtigten Bleikammern absitzen sollte. Nun, es wäre nicht Casanova gewesen, wenn er nicht nach seinem Ermessen, schon früher vom Gefängnis die Nase voll gehabt hätte. Nur ein Jahr nach seiner Verurteilung wegen Freimaurerei, Gotteslästerung, Magie und Unzucht, machte sich der Venezianer auf abenteuerlichem Weg aus dem Staube - er selbst beschreibt dies so trefflich in einer seiner Erzählungen.

Da stand sie, die berühmte Seufzerbrücke - völlig aus Stein gehauen, schwer, protzig - irgendwie doch ekelhaft. In diesem Moment dachte ich an den Sutherland-Casanova von Federico Fellini. In diesem Film des Meisters scheint er auf so gelungene Art die zum Teil pervers-abstoßende Facette des Charakters des Venezianers dargestellt zu haben: Die animalische Sexsucht von Casanova, die sich aber gerade in all ihrer Widerwertigkeit doch auf eine gewisse Art zum Kunstwerk verfeinert.
Meine Stimmung hatte sich schlagartig verändert. Wo ich noch Augenblicke zuvor in eine venezianische Depression zu verfallen drohte, vermochte mich dieser Fellini-Casanova sogar zu einem befreiendem Lachen zu animieren. Ein Lachen, das sogar dieses unheimliche Knarren der vor Anker liegenden schwarzen Gondeln am Anleger San Zaccharia übertönte, sogar nahezu weg zu retouchieren imstande war.

Wir machten uns zu unserer Pension auf und hatten ganz darauf vergessen, dass wir ja wohl noch eine Begegnung mit diesem "Wirrkopf" von Rezeptionisten vor uns hatten. Spätestens allerdings, als wir an der Tür ein Schild mit der Aufschrift "Komplett ausgebucht" sahen, fiel er uns wieder ein, zumal das Hotel außer uns und vielleicht noch drei anderen Gästen um diese Jahreszeit niemanden sonst beherbergte. Also von "ausgebucht" konnte keine Rede sein. Vielmehr hatte der Verrückte dieses Schild angebracht, um nicht in seiner Ruhe gestört zu werden. Das sollte uns nur Recht sein. Zwar war der Haschischrausch schon einigermaßen abgeklungen, doch man konnte ja nie wissen.

Als ich mit größter Vorsicht die Türe öffnete, um durch die Rezeption zu unserem Zimmer zu gelangen, da schreckte der verrückte Rezeptionist gleich einem wilden Tier aus seinem Schlafe auf. Nein, vielmehr müsste man sagen, dass er den Anschein erweckte, als hätte er gar nicht geschlafen, sondern sehnlichst unsere Rückkehr erwartet. In Unterhosen, die Haare in alle Richtungen vom Kopf stehend, mit vom - ja doch - Irrsinn geweiteten Augen sprang er von der Liege auf und sagte zu mir auf Englisch: " Do you have something to smoke?"
Ich blieb wie versteinert stehen und fühlte dabei, dass ich den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. Offenbar rettete mich diese Verduztheit, denn nachdem er noch zweimal die Frage an mich gerichtet hatte und sein Blick immer süchtiger, immer verwirrter ward, ich ihm aber überhaupt nicht antworten konnte, ließ er uns dann zuguterletzt doch ziehen, indem er uns zu beruhigen suchte. Zuerst sein Auftritt - so als hätte er unsere Rückkehr gar nicht erwarten können, doch dann beruhigte er uns mit englisch-italienischen Brocken und warf sich erschöpft auf sein Lager.

Noch schwer angeschlagen wankte ich auf unser Zimmer. Dort erörterte ich mit Antigone diese Begegnung der unheimlichen Art in allen Einzelheiten - prüfte für und wider, spekulierte neuerlich mit Abreise und fast - hätte mich meine Frau nicht zur Besinnung bringen können - wollte ich mich schon ans Werk machen, die Stube auf geheime Kameras zu durchsuchen: Wie konnte er nur wissen ..., und überhaupt: dem Verrückten war doch offenbar alles zuzutrauen. Ich riss in manischer Unruhe trotz der niedrigen Temperaturen das Fenster auf und stierte hinaus. Dieser eigenartige, unheimliche Nebel (wohl aufgrund der Feuchtigkeit!), der die ganze Stadt nächtens überzog, das Hallen der Schritte, das sich bald aber wieder irgendwo verlor - all das zusammen ließen mich jetzt endlich verstehen, dass Thomas Mann und Konsorten nicht nur hypochondrisch-überspannte Großbürger waren, die ihre eigenen Todesfantasien auf diese Stadt projizierten. Oder aber - was noch schlimmer wäre - ich war selbst hypochondrisch-überspannt. So dachte ich plötzlich an die Ponte di Ferali, die wir vor einigen Stunden überquert hatten: Eine Art Sack-Canal mit hohen Bauten ins Schwarz der völligen Dunkelheit getaucht - mir rann ein (wohliger) Schauer über den Rücken. Als ich aus dem Fenster blickte, las ich nun erstmals bewussten Auges das Straßenschild unserer Gasse: Calle delle morte. Dann erinnerte ich mich plötzlich, dass wir auch durch eine Calle del Diavolo sowie wohl auch über die eine oder andere Ponte del Diavolo gegangen waren . Nach soviel Tod und Teufel hatte ich - fast - schon das Bedürfnis ein griechisch-orthodoxes Kreuz zu schlagen. Stattdessen ließ ich meinen Blick auf den nächtlich beleuchteten Campanile schweifen, und von dort ist´s ja bekanntlich nicht weit zum berühmten Markusdom. Ich hatte gelesen, dass in Venedig - zumindest in früheren Zeiten - jede Stunde in der Stadt eine Messe gelesen worden sei. Kein Wunder also, dass jemand wie Casanova - natürlich mit katholischer Konsequenz - als eine Art Gegengewicht, von hier aus sein Unwesen zu treiben begann.

Casanova hatte mich erneut auf andere Gedanken gebracht, und ich begann Antigone Szenen vom Film zu erzählen. Ich erzählte jene Szene, als Casanova eine hässliche Alte nimmt und dabei - um seine Erregung auf brauchbarem Niveau zu halten - von der jungen hübschen Tochter verlangt, sie möge dazu mit ihrem nackten Arsch wackeln. Also dergestalt delektiert, konnte der Sutherland-Casanova auch die Alte erfreuen. Ich schilderte die ganze Szene in allen Einzelheiten, mit allen Details - und mit größtem Genuss. Recht bald konnte jemand, der mir zuhörte - nur nicht ich selbst, bewusst - erkennen, dass ich gerne in der Rolle des Casanova gewesen wäre. Antigone bemerkte dies sofort - ich erst jetzt, nachdem ich meine Erzählung beendet hatte.
Etwas Schweres lag da in der Luft. Ich kannte ja bisweilen die Eifersucht Antigones - vor allem wenn ich ins Detail ging, - war dann doch erleichtert, als kein Eifersuchtsanfall folgte. Ich wähnte mich schon in Sicherheit und konnte deshalb frohen Herzens auf ihre Frage, ob sie denn große Warzenhöfe hatte, mit einem wohlgelaunten "Ja" antworten, meinen Frieden dann in einem verzweifelten Rettungsversuch suchend, indem ich Antigone kleinlaut fragte, ob sie die Alte oder die Junge mit ihrer Frage meinte. Erst jetzt wurde mir bewusst, was ich angerichtet hatte. Obgleich es doch verrückt war: Da hatte strenggenommen eigentlich ich es getrieben, und es kam keine Missstimmung auf, doch dann bei dieser Frage brach alles zusammen und eine bleierne, bedrückende Stille erfüllte plötzlich dieses schäbige Zimmer.
Es peinigte mich der Gedanke, mich entweder von irgendeiner dieser zahlreichen Tod- oder Teufelsbrücken stürzen zu wollen, oder aber mich in die Arme des Transvestiten von San Marco zu werfen - aber da hätte ich erneut an diesem wahnsinnigen Portier vorbei müssen. Einmal abgesehen davon, hatte ich keine Lust auf den Transvestiten - nicht genug, dass er Amerikaner war, hatte er sich auch noch wasserstoffblond gefärbt!

Jetzt - endlich - hatte mich Venedig depressiv gemacht. Ich verfluchte den Sutherland-Casanova und mit ihm gleich den ganzen Fellini mit - waren sie doch - zumindest - teilschuldig an dieser meiner Misere.

Irgendwie schafften wir beide es dann, von der eher unangenehmeren theoretischen Beschäftigung mit Antigones Warzenhöfen das Thema doch noch auch in allen praktischen Aspekten durchzunehmen .......

Am nächsten Tag schien wieder die Sonne. Nach einem guten und ausgiebigen Frühstück, welches uns alleine schon durch die Tatsache, im November im Freien frühstücken zu können, noch um einiges schmackhafter wurde, beschlossen wir, den großen Söhnen dieser Stadt unsere Referenz zu erweisen. Da hatten wir einmal den berühmten Komödienschreiber Carlo Goldoni. Ich habe zwar nichts von ihm gelesen, dachte aber, dass es nicht schaden könnte, sich jedenfalls vor seinem Denkmal fotografieren zu lassen. Ich nahm also eine Pose ein, und just als Antigone den Auslöser betätigen wollte, liefen ein paar halbwüchsige Gören ins Bild. Plötzlich meinte Antigone nur, dass es schade wäre, dass sie nicht - trotz der Mädels - fotografiert hätte, wo doch genau in diesem Augenblick eine besonders fette venezianische Taube auf das erlesene Haupt des Künstlers schiss. Wirklich schade um dieses Bild - ich musste ihr zustimmen.
Unverrichteter Dinge gingen wir weiter und suchten das Haus des Marco Polo - jenes doppelten Genießers: Einerseits unternahm er Reisen und andererseits hatte er auch noch nachher den Genuss, als er darüber schrieb (der hat ganz sicher noch einiges dazu gedichtet!). Wir suchten und suchten, aber nichts zu finden. Dann endlich, um etliche Ecken und wieder zurück, fanden wir das angebliche Geburtshaus dieses großen Venezianers. Aber nichts erinnerte an ihn - ach ja, doch eine kleine, wirklich schäbige Gedenktafel. Nach diesen Besichtigungen kam mir wohl die Erkenntnis, dass in diesen eher südländischen Breit
en die mitteleuropäische Denkmalsucht bei weitem nicht so ausgeprägt sein dürfte. Zwar waren diese Zeitgenossen wahrscheinlich um nichts weniger eitel, doch trug man weit bessres Verlangen, als sich in Bronze gießen zu lassen. Viel lieber sah man sich von Künstlern in Bildern verewigt - als Quell der Inspiration sozusagen - was für ein herrlicher gepflegter Größenwahn.

Weit weniger amüsant war dann unser abschließender Besuch im jüdischen Ghetto, im Stadtteil Cannaregio. Von hier aus nahm der unselige Ausdruck "geto" seinen Anfang. Im Venezianischen bedeutet "geto" Metallgießereien - eben weil sich in Cannaregio früher Metallgießereien befanden. Den weiteren Verlauf dieses Wortes kennt man ja aus der Geschichte. Die Atmosfäre in jenem Viertel konfrontierte uns wieder mit diesem fauligen Todeshauch, und rasch traten wir die Flucht an. Ich konnte Cannaregio gar nicht schnell genug hinter mir lassen - so als wollte ich diese drückende Schwere abschütteln. Aber so recht wollte es mir nicht gelingen und - fast - spekulierte ich mit einem befreienden Sprung in den Canal. Ich ließ diesen Gedanken aber sehr rasch wieder fallen, da ich ja bei mir dachte, dass, wenn also dieser Canal direkt mit dem Meer verbunden ist, es auch - zumindest theoretisch möglich wäre - dass sich in den Canal doch - Haie - verirren hätten können. Wenn also die Lagune aus Meerwasser besteht und auch nur ein einziger Haifisch, der aber genau zum Zeitpunkt meines Sprunges an genau eben jenem Ort .....- ist doch geradezu absurd, diese meine "Carcharofobie", und ich musste lauthals auflachen und konnte mir auf diese Weise also auch den Sprung in den Canal schenken

Am Abend spazierten wir durch die Stadt, und heute hatte ich das Gefühl in einen Hollywoodfilm geraten zu sein: Hübsche, schneidige Marinekadetten, alle in schmucken Ausgehuniformen, bevölkerten das abendliche Venedig, entweder an der Seite ihrer wohlgeformten Freundinnen, oder sogar neben ihren stolzen Eltern. Das Ganze erinnerte mich irgendwie an Tom Cruise in strahlend weißer Uniform.
- Ah, ich erfuhr, dass hier auch die Marineakademie ansässig sei, und dass dies wohl der Grund für das massierte Auftreten von stolz geschwellten militärischen Brüsten sein dürfte. Für mich aber waren diese Kadetten ein anderes Symbol: nämlich eines, welches gemahnte, selbst in See zu stechen. Ich blickte hinüber zu der Kirche San Giorgio Maggiore. Der Canal zwischen dem Anleger San Marco und San Giorgio hat wirklich ein beeindruckendes Ausmaß - zumindest erinnert der Anblick an einen sehr großen See, ich aber sah ihn als eine kleine Bucht.

Am nächsten Tag packten wir unsere Sachen und fuhren mit dem Busschiff diesmal durch den größeren "meerartigen" Canale della Guidecca zurück zum Bahnhof Santa Lucia. Dabei kommt man auch bei der großen Hafenanlage vorbei, die für Kreuzfahrt- und Fährschiffe angelegt worden ist. Wir sahen, dass dort irgendetwas geschehen war, denn es gab ziemliche Aufregung. Später hörten wir, dass eine kretische Fähre leicht auf Grund gelaufen war, aber zum Glück kam niemand zu Schaden - keine Selbstverständlichkeit, was griechische Fährschiffe betrifft. Dann dachte ich, dass ja ohnehin gestern abends keine Champions League-Fussballspiele ausgetragen wurden. Denn solche Veranstaltungen machen die griechische Seefahrt mitunter um einiges riskanter. Wenn solche sportlichen Topevents auf dem Programm stehen , womöglich noch mit griechischer Beteiligung, dann kann schon mal das bekannte Wort, dass "Sport Mord ist" zur blutigen Wahrheit werden. Denn die Liebe griechischer Schiffskapitäne zu Olympiakos oder Panathinaikos etc. kann - wie in der Vergangenheit schon passiert - mitunter auch Menschenopfer fordern. In diesem Falle jedoch lief alles relativ glimpflich ab - von einigen griechisch-italienischen Schimpf- und Schreiduellen abgesehen, war alles zivilisiert, ja sogar geradezu harmlos verlaufen.

Mit einem letzten Blick auf die Lagunenstadt, auf eine magische, oftmals auch zeitlos wirkende Stadt bestiegen wir unseren Zug zurück nach Wien. Dieses Venedig - so heißt es - wird irgendwann wieder vom Meer verschluckt werden - irgendwann. Bis es soweit ist aber wird es noch weiterhin seine Besucher in den Bann ziehen, mit seiner Extravaganz, mit seiner Künstlichkeit, mit seiner Vergangenheit und seinem zukünftigen Ende - und mit seinem fauligen Atem: Oh süßes Venedig!