STREUNENDE KATZEN
ODER DIE RELATIVITÄT DES BLICKWINKELS

von Rihno Rhinozeros

Oft sitze er in der Küche am Fenster und denkt beim Lärm der vorbeifahrenden Zügen, der langsam und sanft verhallt: Wenn der Lärm da schon notwendig ist, dann wäre wohl die Beobachtung eines Zusammenstoßes zweier Züge eine akzeptable Entschädigung dafür.

Eines Abends stand er in der Küche und kochte Kaffee - schließlich hatte sich ja Paul angesagt, da durfte doch der duftende Kaffee nicht fehlen, zumal gegenseitige Besuche in ihrem Fall eine nicht so einfache Sache waren. Unweit von seinem Fenster rauschten wiederum die Züge vorbei. Er blickte auf und sah zwei Züge aufeinander zurasen und erwartete, dass sie aneinander vorbei fahren würden. - Sollte seine stille Hoffnung Wirklichkeit werden? Die zwei gescheckten Stahltiere, gleich zwei gefräßigen Raubkatzen, verringerten ständig den Abstand zu einander. Gespannt hielt er den Atem an! Dann fraß sich die eine in den Schlund der anderen. Das berstende Metall fauchte wild. Ineinander verkeilt purzelten die beiden Katzen in buntem Durcheinander den Bahndamm hinunter und blieben - seiner Meinung nach - nicht weit unter seinem Fenster liegen. Dann war da eine eigentümliche Stille. Er wartete gespannt - erstaunt, was nunmehr passieren würde. Nach einer Weile vernahm er lautes Fluchen - doch sehr gekünstelt dachte er sich. Paul beutelte sein Jackett aus und fragte ihn - "Jetzt bin ich wohl da! Hast du heute wenigstens Kaffee?" Er nickte ob seines tatsächlichen Erscheinens erfreut , als Paul noch hinzufügend meinte: " Warte, der Sphinx ist auch gekommen!" Immer musste der Auftritt des Sphinx ungewöhnlich sein. Der kann´s einfach nicht lassen! "Teufelsbrut, technisch´Zeug! Bin von der Blindheit ihrer Technikgläubigkeit sehend geworden! Denn selig sind die Blinden, sie werden das Himmelreich erspähen - wie mir scheint - und wenn nicht - so bin ich jetzt wenigstens hier!" - gähnte und streckte sich der Sphinx ein wenig. "Das wird eine zweite Tasse Kaffee. Bier haben wir hier leider keines", außerdem trank er ohnehin schon lange nicht mehr. " So und jetzt beeilt euch, der Kaffee wird sonst kalt!"

Paul und der Sphinx wurden hereingelassen und ließen sich auf dem Fußboden nieder. Er servierte ihnen nach allen Regeln der Kellnerkunst Kaffee - ohne nur auch einen einzigen Tropfen zu vergießen! Denn er hatte sich die Kellnerweisheit seiner wohl endgültig letzten Freundin zunutze gemacht, beim Servieren nicht in die Tassen zu blicken - und es gelang. Sie erwähnten mit keinem einzigen Wort das Ereignis. Lediglich schloss Paul die neuen -erst vorige Woche- installierten, schalldichten, und sogar vergitterten Fenster. Diesmal klemmte sie auch nicht. Befriedigt nickte er: " Alles bestens!", gab er von sich, als sein Freund ihn, den technisch völlig Unbegabten mit einer geradezu unglaublichen Sicherheit hantieren sah. "Der Kaffee ist vom Meinl , erstklassig !", entgegnete sein Freund. " Was hast du gesagt?", fragte ihn der Sphinx, da gerade auf einem anderen Nebengeleis wiederum ein Zug vorbeigedonnert war, und er den anderen von einem Augenblick zum anderen nur mehr die Lippen bewegen sah. Geistesgegenwärtig nützte er den Augenblick und mimte den Sprechenden, obgleich er nichts wirklich sagte. Als der Zug vorbeigefahren war, meinte er, dass er soeben nichts gesagt hatte.
" Stupiditas omnia vincit - etiam amorem!", meinte der Sphinx so beiläufig als nur möglich - und damit war es ihm vollkommen ernst, dazu kannte er ihn nur allzu gut.

Paul lächelte verschmitzt, dann breitete er drei südamerikanische Pilze, sowie zwei Zündholzschachteln mit geriebener Muskatnuss vor den anderen aus - alle Achtung, woher er die wiederum hatte, - und verzerrte zum Kaffee mit geschmeidigen Bewegungen zwei Pilze. Dann goss er etwas Muskatnuss in den Kaffee - selbstverständlich nur zu dessen Aromatisierung - natürlich - und reichte ihn wortlos weiter. Der Gastgeber trank und lobte den würzigen Geschmack des Kaffees. Fünf Minuten später übergab er sich mit Getöse.
"Das kommt schon mal vor", meinte Paul. Der Sphinx nickte stumm und irgendwie geistesabwesend. Zusammen verspeisten sie den letzten Pilz.

Nach ungefähr einer halben Stunde blickten sie aus dem Fenster und wunderten sich darüber, dass gerade ein Aufräumkommando damit beschäftigt war, Eisen auseinander zu schweißen.
"Es wächst eben nur zusammen, was zusammengehört", meinte der Sphinx. Der andere ignorierte diesmal seinen eigenartigen Humor und zeigte sich recht erstaunt, einen Leichenwagen der Marke "Moskowitsch-Wolga" zu sehen. Er war wirklich verwundert, ein Fahrzeug dieser Marke in Wien, noch dazu unter seinem Fenster zu sehen. Er erzählte den beiden, wie er einmal ein Flugzeug nach Lissabon versäumt hatte, weil er sich in Budapest geweigert hatte, ein derartiges Fahrzeug zu besteigen, dal er doch nicht in einen Leichenwagen, der noch dazu weiß lackiert war, einsteigen wollte. Sein Freund, Magister Jiri Pospischil, hielt ihn endgültig für völlig übergeschnappt und ermahnte ihn, doch endlich in das Taxi zu steigen. Der andere meinte darauf nur, dass er sich nicht von ihm veräppeln lassen wolle, zumal es Pospischil doch nur um das bisschen verlorene Geld ginge - verschwendet für nichts - wenn sie den Flieger verpassen würden. Ihm jedoch ging es um Hehreres.

Da unten, scheinbar unter seinem Fenster, werkten sie weiter. Wie ihm schien, hatte ihr Müßiggang die Arbeiter angesteckt, denn der eine Feuerwehrmann war gerade dabei sein Jausenbrot auszupacken, wobei er das Wurstpapier in eine bleiche, aus einem verbogenen Wagenrad des Zuges herausragende Hand legte. Der Gastgeber ärgerte sich über diese Umweltverschmutzug - schließlich war er sogar irgendwann einmal Mitglied der Umweltschutzorganisation Global 2000.
Ein anderer Feuerwehrmann, der vor einem Taschenschachspiel saß, tat seinen Unmut über einen Fehlzug kund. Einer der Fahrer des Leichenwagens bot sich an, ihm bei der Lösung des Schachproblems behilflich zu sein. Immerhin gab er sich mit berechtigtem Stolz als Schachgroßmeister von Kagran aus.

In der Zwischenzeit tanzte Paul mittlerweile splitternackt existentialistische Tänze zu den Klängen, die der Sphinx mit den Lippen von sich gab. Er beobachtete die geschmeidigen, feinen Bewegungen Pauls, dann bemerkte er, wie Paul im Spiegel verschwand.
Der Sphinx blickte ihn nur kurz an - dann brach er in heftiges Lachen aus, das so laut war, dass er fürchtete, er würde davon taub werden.

Plötzlich vermeinte er da an der Tür ein heftiges Klopfen zu hören. Er wollte öffnen, es gelang ihm aber natürlich nicht, und so fragte er durch die verschlossene Tür, wer da draußen sei und was er wolle. Jemand schien in seltsamem japanisch die Frage zu stellen, ob er seine zwei schwarz - grauen Katzen gesehen hätte, zumal sie dem Fragesteller heute entlaufen wären. "Da unten sind sie", sagte er zwar nicht unfreundlich, aber doch sehr kurz angebunden und deutete mit der Hand in eine unbestimmte Richtung. Dann verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, dem anderen damit behilflich gewesen zu sein und begab sich zum Fenster.

Hier oben am Steinhof hatten sie eine wirklich wunderbare Aussicht auf die schöne Stadt Wien.

 

Cumberland, am 11. Juni 1995.

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