Die Beratung


Der trockene staubige Schmutz der stark befahrenen Straße wehte Emma in kleinen kreisenden Bewegungen ins Gesicht. Die Luft war feucht und trübe, und drückte ihr den Kopf, sodass ihre Schläfen schmerzten. Die Leute wirkten sonderbar ruhig, doch gleichzeitig entschlossen, nach Hause zu kommen, im Himmel zogen sich die Wolken zu einer grauen und bedrohlichen Masse zusammen, als wollten sie gemeinsam einen unheilvollen Plan aushecken. Emma schaute zu den Wolken und beschleunigte ihre Schritte, als sie das noch lautlose Getöse des kommenden Unwetters wahrnahm. Doch als ihr Blick zu dem Test in ihrer linken Hand abdriftete, verlangsamte sich ihr Tempo auf einmal so, als würde sie durch dicke Luft gehen, die es einem wie das Wasser schwer macht zu gehen.
Wenn ich jetzt ganz stark will, dass es nicht so ist, dann wird es vielleicht gut, dachte sie, und ließ sich sogleich wieder von dem aus der Ferne zu hörenden furchterregenden schweren Donner ablenken.

In der Küche las sie die Anleitung, langsam, fast meditativ, und verschwand mit dem Test im Bad, während ihre Freundin Catherine vor dem Lieblingsbuch saß und die Gefühlsschwankungen der Heldin so miterlebte als seien es ihre eigenen. Als Catherine gerade auf dem Höhepunkt des Romans angekommen war, und sie ihre Tränen kaum zurückhalten konnte, wurde der Türschlüssel der Badezimmertür gedreht, und Emma kam heraus, mit verschmierter Schminke, blasser Haut, ein paar roten Flecken am Dekolleté, mit zitternden Beinen, denen ihre Stimme nachstand als sie "Catherine, Catherine" stammelte. Bei diesen beiden Worten brach sie vollends in Tränen aus, schleppte sich zu ihrem Bett und ließ sich darauf fallen. Sie krallte sich an der Bettdecke fest und presste ihren Körper an diesen weichen, warmen Stoff. Catherine lief ihr sogleich hinterher, streichelte die in sich zusammengekauerte Emma, die nach Luft schnappend Schreie ausstieß, die wie "nein" klangen, als ob sie jetzt, zu diesem Zeitpunkt, das Ungeborene noch hätte wegschicken können, dorthin, wo es herkam. Nachdem sie fast alles Wasser, das sich in ihrem Körper befand, aus den Augen hatte laufen lassen, griff sie zum Telefonhörer. Micha! sagte sie, als ihre Augen wieder anschwollen, und das Wasser in rasendem Lauf über ihre Wangen rinnen ließen. So schwieg sie vorerst, denn Micha mochte es nicht, wenn sie so viel weinte, er sah keinen Sinn in solchen irrationalen Gefühlsäußerungen, die einem nur die Zeit stahlen. Als sie es ihm stotternd dann doch mitteilte, verlor sie kein Wort über den Streit vor ein paar Tagen, bei dem er ihr versuchte klarzumachen, dass er ernsthaft über Trennung nachdachte.
Ich komme sofort, erwiderte er hektisch. Emma presste ihren Kopf in Catherines warmen Bauch, der leise und regelmäßig gluckte. Emma lauschte, und sie begann, langsam zu atmen, sehr langsam, so langsam sie konnte.

Micha wollte handeln, ein Arzt, der Erfahrungen mit diesen Operationen hatte, musste her. Er wackelte von einem Fuß auf den anderen, kaute sein Kaugummi in rasendem Tempo, bis er es ausspuckte um sogleich das nächste auszupacken, ein frisches, fruchtiges, von dem er zehren konnte, zumindest geschmacklich. Emma wollte wissen, ob er zu ihr stand, egal wie sie sich entscheiden würde. Micha ging nun schneller auf und ab, und beteuerte seine Treue, doch dass sie beide gemeinsam wohl durchdacht entscheiden müssten, denn so etwas würde sie mindestens die nächsten 18 Jahre in Anspruch nehmen.
Der Regen war inzwischen ausgebrochen, doch plätscherte er nun sanft und zärtlich herunter, streichelte Emmas Haut liebevoll und begleitete sie auf dem Weg dorthin, wo ihr geholfen werden sollte.

Sie lag auf einer kühlen Liege, und betrachtete die bereits vergilbte Tapete wie auch die gleichfarbene Haut des Arztes, der Emma zwischendurch für Bruchteile von Sekunden aus den Augenwinkeln beobachtete.
Der Embryo ist entweder nicht gesund oder die Schwangerschaft ist noch so früh, dass man das Herz noch nicht erkennen kann, sagte er. Währenddessen rollte und strich er immer wieder mit dem Ultraschallgerät über Emmas Bauch, der mittlerweile voll von dieser schleimigen Ultraschallmasse war. Emma fuhr hoch, ihre Augen schauten verunsichert von dem Arzt zu Micha und wieder zurück, sie rieb sich mit der Faust den Schweiß von der Stirn, und senkte ihren Kopf.
Es ist bestimmt noch zu früh, sagte sie eher hauchend, halb zu sich selbst, halb zu dem Arzt, fragend, fast bittend. Wie dem auch sei, antwortete dieser, es ist etwas da, und wenn Sie sich dagegen entscheiden, dann können Sie mit der Sprechstundenhilfe einen Termin ausmachen.
Das Wort "dagegen" schwirrte in Emmas Kopf herum, wie eine Mücke, die einem ständig gegen das Ohr fliegt und wieder und wiederkommt, obwohl sie jedes Mal weggehauen wird.

Weitere Arztbesuche folgten, alle sagten das gleiche, nur dass die einen es für unnormal hielten und die anderen es für unbedenklich, in einem so frühen Stadium noch kein Herz erkennen zu können. Micha war der Meinung, dass Emma jetzt mal langsam wissen müsse, dass sie wirklich schwanger ist, und dass sie es schon hätte wissen müssen, als sie mit ihm schlief, einfach so, ohne Verhütung. Emma entgegnete nichts mehr, sie antwortete Micha mit einem großen Schweigen, dass sich als dichter Nebel um seinen Körper schmiegte und ihn einschloss, über Stunden hinweg. Und als sie wieder mit ihm redete, war es als würde sie einfach lauter schweigen.

Überleg mal, was Du Dir für eine Last aufbürgst! Du bist noch so jung, sagte Anke, die sich die schwesterlichen Sorgen um Emma machte und täglich mit ihr telefonierte, ihr jedes Mal erzählend, was auf sie zukommen würde. Emma fragte sich immer wieder, ob Babys wirklich so schlimm waren, und wenn sie darüber gegrübelt hatte, setzte sie sich vor den Fernseher und dachte über die Probleme der Leute aus den Talkshows und den Dailys nach, die ihr halfen, ab und zu ihre Stirn zu entspannen und dem Druck im Hinterkopf standzuhalten. Manchmal starrte sie nur die Wand an, und war auch für Catherine nicht erreichbar, die sie Tag für Tag versuchte zu begleiten und sie wie ein treusorgender Ehemann bekochte. Emma hatte gar keine Lust, sich zu bewegen, nur sitzen wollte sie. Auf der Straße sah sie bloß die Mütter mit ihren Kinderwagen und ihren Babys, die sie leicht und sanft hin und her wiegten, singend, summend, und mit beseeltem Lächeln.

Sie musste sich noch einer Beratung unterziehen, um einen Abbruch finanziert zu bekommen, und so saß sie mit Micha vor der Frau, die dazu da war, ihre Probleme aufzunehmen, diese zu ergreifen und sie gemeinsam mit ihr zu bewältigen.

Wenn Sie das Kind behalten wollen, dann gebe ich Ihnen ein paar Kontaktadressen. Wenn Sie es abtreiben wollen, dann gebe ich Ihnen auch eine gute Adresse, bekam sie zu hören. Mehr registrierte Emma nicht mehr, deren inneres Zittern sich wie ein Erdbeben breit machte, und die dabei ein Lächeln aufsetzte, das so falsch war wie die Blätter ihrer pflegeleichten Pflanzen, von denen sie sechs Stück hatte. Auch Michas verzweifelte und eindringliche Sätze verschwommen im Nirgendwo, in dem sie sich verloren aalte, und wo es keine Worte mehr gab.

Durch die Hormone kamen zwischendurch ein paar Minuten, in denen sie sich sonderbar euphorisch fühlte und in denen sie das Kind sah, hübsch, makellos, lachend. Sie stellte sich bei dem Chirurgen vor, und auch dort konnte sie nicht umhin, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Doktor Limser beteuerte, nicht zu operieren, wenn er auch nur den leisesten Zweifel spüren würde, und sah Emma dabei tief in die Augen, die ihn anblickte, und nur seine Brille mit den dicken Gläsern wahrnahm, hinter denen kleine, runde, gelb-perlmuttfarbene Augen durchblinzelten. Sie nickte, steckte ihre ganze Kraft in ihre Arme und versuchte, diese so stark auf die Lehne zu pressen, wie es nur irgendwie ging. Der Doktor untersuchte noch einmal den Bauch, und konnte nun auch das gleichmäßig pulsierende Herz erkennen. Ein kaum erkennbarer, melancholischer Anflug von Lächeln fuhr über Emmas Lippen, der erlosch, als Doktor Limser das ausgedruckte Ultraschallbild zu seinen Akten legte. Micha nahm sie an der Hand, sie gingen nach Hause, die Sonne schien, es war so heiß, dass alle Leute, die nicht gerade arbeiten mussten, auf den Wiesen lagen und ihren Körper unter der Hitze rollten.
Du lernst wohl nie, Emma! sagte Micha, in dessen Ton eine bitterkalte Reue lag. Emma ließ seine Hand los, schaute zu den Leuten auf den Wiesen und sah sich selbst am Strand zu liegen, ins Wasser gehen, Gänsehaut bei Windstößen bekommen, und abends - kraftlos durch die Stärke der Sonne, aber glücklich und unbeschwert - ins Bett fallen.

Heute ging Emma zu Micha, um bei ihm zu schlafen. Zum Abschied umarmte Catherine sie fest, streichelte ihren drückenden Schädel, und versicherte noch mal, dass sie da wäre, auch wenn sie sich im letzten Moment anders entscheiden würde. Emma bedankte sich, nie hatte sie Catherine so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Eine traurige Wärme durchzog ihren Bauch, der sie Catherine umarmen ließ wie einen geliebten Mann. Auch Anke war gekommen, und küsste Emmas Gesicht, dieser versichernd, dass sie an sie denken würde. Emma ging, gesenkten Blickes, verloren im verwirrenden Dunkel der aufkommenden Nacht.

Vor dem Schlafengehen saß sie auf der Toilette, das Beruhigungszäpfchen zwischen den Fingern drehend, wissend um die Schädigung des Embryos durch so ein Mittel. Mit angespannten Lippen und zugepressten, feuchten Augen zwängte sie es sich rein, und ging dann leise durch den Flur, mit dem Ungeborenen sprechend, um Verzeihung bittend. Sie hangelte sich an der Wand entlang bis ins Schlafzimmer, wo sie sich unter der Bettdecke leise in den Schlaf weinte. Es dauerte nicht lange, bis sie weggedöst war, das Beruhigungsmittel tat sein Bestes, und ließ sie noch einmal in eine Welt gleiten, in der es keine Zweifel und keine Schuld gab.

Im Operationssaal lag sie mit gespreizten Beinen auf der Liege, nicht mehr klar denkend, um sie herum nahm sie die Leute in den weißen Kitteln war, von denen sie keinen kannte, bis auf Doktor Limber, der sie erneut fragte, ob sie sich wirklich sicher sei, bereits die Spritze in der Hand haltend. Emma nickte, und sah noch die durchsichtige Flüssigkeit aus der Spritze heraus in die Luft fliegen, wo sie verschwand und Emma einen Tritt in die Magengegend gab, ganz leise und schleichend. Sie ließ ihren Kopf nach hinten fallen, die Maske drängte sich auf ihr Gesicht, Emma bemühte sich wach zu bleiben, doch über jegliche Anstrengung wurde hinweggetrampelt. Danach tiefe, leere Schwärze.

Es wurde hell um sie, sie öffnete langsam die Augen, starrte gegen die Decke. Mit ihrer Hand fühlte sie zwischen die Beine, wo sie eine Krankenunterhose aus großen Maschen erfühlen konnte, und eine dicke Binde, die den Zutritt zu der Wunde verhinderte.
Micha holte sie ab, er kam eine halbe Stunde zu spät, sich nicht anblickend fuhren sie nach Hause, wo Emma den ganzen Tag schlief, als gäbe es keinen Tag mehr, sondern nur die Nacht, in der die Träume Emmas Gedanken dominierten und sie wegspülten von dem Eis der Einsamkeit, ins warme Meer.

In den folgenden Tagen bekochte Micha sie, besorgte ihr was sie wollte, redete mit ihr über Gott und die Welt. Sie sah ihn manchmal etwas befremdlich an, lächelte über sein Zuvorkommen wie eine weise alte Frau, die nichts glaubt, was ihre Augen sehen. Zweimal am Tag legten sich die beiden gemeinsam auf das Bett und falteten die Hände. Sie sprachen zu dem Ungeborenen, und baten ihn, später wieder zu kommen, oder sich einen anderen Körper zu suchen. Sie entschuldigten sich, und sannen darüber nach, ob ihnen jemals in diesem Leben verziehen wurde.

Emma sprach noch oft mit dem Ungeborenen, um einschlafen zu können. Jeden Abend hoffte sie, dass er ihr antworten würde, ihr ein Zeichen geben würde. Es kam nichts. Emma zweifelte daran, jemals glücklich werden zu können. Konnte Micha sie glücklich machen? Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger wusste sie die Antwort. Micha hatte Antworten. Er erzählte Emma viel über Sinn und Konsequenz.

Als der Tag kam, an dem Emma und Catherine darüber nachdachten, dass vor genau einem Jahr etwas passiert war, was Emmas Leben verändert hatte, konnte sie Micha nirgends finden.
Vielleicht sehe ich ihn sogar nie wieder, dachte sie. Und sie lachte, mit einem Unterton, der genauso bitter wie wissend war.


 

(Katja Langer)