Alltag

von Klaus Krottmayer

 

Mit David im Bus nach Weiz. Der Busfahrer übersieht an einer Haltestelle fast einen Jungen, schleift gerade noch zusammen. Ich habe ihn im Verdacht, daß er müde ist, übernächtig, im Rückspiegel glaube ich seine Augen beim Fahren immer wieder geschlossen zu sehen. Ich bin besorgt, stelle mir vor, wie ich ins Lenkrad greife, den Bus vor dem Absturz über eine Böschung rette. Am Titelblatt sämtlicher Tageszeitungen stehe, mit Foto.

Im Bus lauter Schüler, was mich nicht weiter überrascht, angesichts der Tages- und Jahreszeit. Erstaunt bin ich, daß ich keinen davon kenne. David spielt mit einem stoppuhrähnlichen Ding, das er mit "er schläft", er spielt", er hat Hunger" "er braucht eine Spritze" versorgend hält. Kommerzialisierte Fürsorge. Dazu drückt er Knöpfe an diesem kleinen Ding, es piepst oder auch nicht. Ist das die Altenbetreuung der Zukunft?

Hinter mir unterhalten sich zwei Burschen, deren Gesichter ich nicht sehe, über Videofilme oder Computerspiele oder über beides. Ich nehme Namen wahr wie Star Wars, Jedi-Ritter, Red Alert, Laserkanone und wärmegesteuerte Disrooter oder so ähnlich. In ihrem oststeirischen Idiom klingen diese Worte aus der Welt moderner Spielzeugtechnologie, die vielleicht in Osaka oder Tokio oder Silicon Valley erfunden wurden, beruhigend schrullig, hausbacken, entschärft. Die x-fache Selbstsprengkraft der 29.Welt wirkt überhaupt nicht bedrohlich.

Die aufgehende Sonne spiegelt sich fünffach im Busfenster. Aus dem Nebel, der noch über den Wiesen liegt, steigen sechs Kühe auf. Begleitet wird die ganze Szene von Ennio Moricone und dem Lied vom Tod. Ein Gartentisch wurde offensichtlich vom Schnee überrascht. Der Busfahrer hat ganz gegen meine Erwartung nicht eingeschlafen. Wir nähern uns Weiz, der Bus überholt zwei den Hügel hinunterjagende Radfahrer mit übergroßem Seitenabstand. Vielleicht doch wegen der Müdigkeit des Busfahrers?

David verschwindet - mit seinem gelben Elektronikklumpen in der Hand - in einem Schülergewurl. Auf dem Weg zu meiner Schule werden die Gesichter bekannter. Vor mir ein Pärchen, er in übergroßen Hosen, schaut aus wie meine kleine Tochter in den Hosen ihres ältesten Bruders. Arschlose Mode. Die beiden küssen sich ganz zart, ehe sich ihre Wege teilen. Ihr Küssen wirkt erfrischend unroutiniert. Um diese Zeit erst vereinzelte Schülerinnen im Schulgebäude, in ein paar Minuten das Gebrüll der 1500.

Ich beschließe, den Arbeitstag heiter und froh anzugehen. Die erste Person, auf die ich im Schulgelände treffe, lächle ich an. Es ist Dipl.Ing Schall, ein Lehrer der HTL, deutscher Akzent, er erwidert meinen Gruß korrekt. Im Konferenzzimmer bin ich noch allein. Der Busfahrplan ermöglicht mir ein paar ungestörte Minuten. Ich füttere die Kaffemaschine mit allem, was eine Kaffemaschine braucht, um Kaffe zu gebären. Die Putzfrauen haben meinen Schreibtisch zusammengeräumt. Es ist leider wirklich so wie im Witz: ich kann nichts mehr finden. Die Unterlagen für die erste Stunde sind verschwunden. Improvisieren. Am Morgen kommt mir das Konferenzzimmer fast heimelig vor. Das Neonlicht wärmt, vor dem Fenster kämpfen Dämmerung, Hochnebel und Sonne.

Der neueste Zettel am direktoralen Anschlagbrett unterweist uns darin, im Winter Fenster und Türen geschlossen zu halten. Ständig. Wie soll ich da in die Klassen kommen? Wie kommen da die Schüler je wieder heraus? Weisungserfüllung oder Hausverstand? Draußen im richtigen Leben wäre die Antwort wohl klar, aber hier herinnen? Weisungen sind nur dann nicht zu befolgen, wenn sie von einem unzuständigen Organ erteilt werden oder gegen das Strafrecht verstoßen. Zuständig ist er wohl. Strafrechtswidrig? Nötigung?

Die einen schreiben Anschläge, die anderen beginnen, sie zu planen. Wer führt sie durch und wann?

In der fünften Klasse bin ich unvermutet beim Thema Entwicklungspolitik gelandet. Die Klasse, einzelne Schüler treiben das Gespräch, ich lasse mich in dieser Klasse gerne treiben. Was gibt es Schöneres als Fragen, die ernstgemeint wirken?

Die reichen Länder werden nichts hergeben wollen von ihrem Reichtum. Was hat das mit uns zu tun? Energieverbrauch von einem Amerikaner im Vergleich mit einem Inder, Müll von einem Amerikaner im Vergleich mit einem Inder. Was bedeutet Wohlstand? Was ist Glück? Ich komme mit dem sogenannten Stoff nicht weiter.

Ich beginne, mir zuzuschauen beim Unterrichten. Ich sehe, wie da ein gut trainierter Lehrerdarsteller in einer kleinen steirischen Bezirksstadt versucht, die Entstehung von Über- und Unterentwicklung zu erklären, zu beschreiben. Wie da einer Bewußtsein schaffen will. Wie war das 1492? Und wie konnte da ein Kontinent entdeckt werden, der schon lange kultiviert belebt war? Und Rohstoffe wurden ausgebeutet. Und überlegene Waffen und unbekannte Krankheiten. Und Zerstörung von Hochkulturen. Und die Raffgier der Weißen. Und Schaffung von Abhängigkeiten. Und Stellvertreterkriege. Und später dann politische Unabhängigkeit. Und wirtschaftlich immer wieder Ausbeutung. Und Multis,man kann ruhig Multis sagen, wenn man so auf du und du ist mit dem Stoffgebiet. Und der Norden und der Süden. Und jetzt auch noch der Osten. Und unser Wohlstand. Auf deren Kosten. Und was hat das mit uns zu tun? Und wir essen ihnen, denen da unten, drüben, draußen, den anderen eben das ganze Sojaschrot weg. Was ist Sojaschrot? Verfüttern es an unsere Schweine. Ja Schweineberge, Butterberge, Milchseen. Und die EU wirft Äpfel weg, damit die Preise stabil bleiben. Und Shell und Nigeria. Und Ken Saro Wiwa. Hingerichtet. Unverteilung. Umverteilung. Und die USA. Das reicht. Mehr braucht es nicht. Und der Süden zahlt mehr in den Norden als umgekehrt. Habt ihr das gewußt? Treffen tut es immer die Ärmsten. Die Reichen haben ihre Konten in der Schweiz, bei der Bank Austria oder was weiß ich wo. Und wir machen uns mitschuldig. Warum? Wieso? Weshalb? Weil es eine Welt ist. Unser Reichtum ist ihre Armut. Und Kinderarbeit. Und H&M. Und IKEA. Und Burger King. Und der Regenwald. Aber die müssen ja quasi abholzen. Die hohe Auslandsverschuldung. Im Lande die Armut. Alles muß in den Export. Schuldenerlaß. Entschuldung. Weniger Kinder. Pensionssicherung. Mehr Bildung für Frauen. O,7 % des BIP. Davon sind wir weit weg. Ein Sechsmilliardstel Verantwortung tragen wir alle. Auch ihr. Bevölkerungskurven. Wieviel kann die Erde ernähren? Kann man das ganze Problem nicht technisch lösen.? 1,3 Milliarden Chinesen dürfen nicht mit Autos fahren. Das wäre die ökologische Katastrophe. 500 Dollar pro Kopf Einkommen für einen Bewohner von Mozambique, 34000 für einen Kanadier, Luxemburger, Schweizer. Aber die brauchen auch viel weniger zum Leben, als wir. Spenden. Hat spenden einen Sinn? Welche Organisation? Wer bekommt dieses Geld?

Wie da gestikuliert wird, bedeutungsvoll genickt, gemahnt, wie der Zeigefinger immer mehr anschwillt, wie das, was gesagt wird, mit dem, was draußen vor dem Schulgebäude abläuft, nicht mehr das Geringste zu tun hat. Ich schaue meinem Zeigefinger zu, bin ganz fasziniert, wie sich mein Körper an diesem dicker werdenden Zeigefinger aufhängt, ihn zum Mittelpunkt all seiner Bewegungen macht, wie er zu rotieren beginnnt, um dieses knapp zehn Zentimeter lange Stückchen Haut, Fleisch und Knochen, ach was täte eine Lehrperson ohne diesen Finger, dann hebe ich ab, es kartapultiert mich quer durch das Klassenzimmer, während des Fluges höre ich noch neben dem Rauschen, wie A. mit W. über Mick Jagger redet:

Ob der mit 80 auch noch auftreten wird? Na, wenn sie ihm genug zahlen, tragen sie ihn hinaus auf die Bühne.

Ich streife an der Jacke von D., sehe an der Decke Sprünge, überlege, ob hier nicht ein Graffiti passen würde. Freiheit für Grönland! Zum Beispiel und lande direkt auf der Bank von R. Ich mag sie. Ihre Antworten haben oft etwas angenehm Unvorhersehbares in sich. Wie ein Überraschungsei. Ja, doch, sie hat ein interessantes Gesicht, ein bißchen schelmisch vielleicht, ihre blonden Haare fallen bis auf die Schultern. Sie könnte eine der Frauenrollen im Musical Hair spielen. Im rechten Ohr sehe ich den Durchstich eines Ohrringes. Ist mir noch gar nie aufgefallen, daß sie so etwas trägt. Würde ihr passen. Ihr Kleid sieht nach indischer Mode aus. Tragen das junge Frauen von heute? Ich bin in den wichtigen Dingen des Lebens so unbedarft.

Ich tippe ihr mit meinem Zeigefinger, der endlich wieder Normalgröße angenommen hat, ans Sonnengeflecht:

Du, was meinst du eigentlich? Wie geht es weiter mit der Welt? Wie schaut sie aus in 50 Jahren, da bist du fast siebzig, ich entweder neunzig, wahrscheinlich aber gar nicht mehr da? Gibt es da diese Schule noch? Gibt es dann noch Bäume, ich meine so richtige, dieaus einer schwarz-braunen Erde herauswachsen, sich selbst fortpflanzen können, Früchte tragen, Blätter, die im Herbst welken und vom Wind übers Land getrieben werden. Gibt es noch Feuersalamander, die sich nach einem Regen über feuchtblättrigen Waldboden ringeln, vorwärtsschieben?

R. reagiert nicht. Jetzt erst sehe ich die Kopfhörerstöpsel in ihren Ohren. Sie nimmt sie heraus:

Entschuldigung, was haben Sie gesagt, ich konnte nichts hören, Sie verstehen.

Sie weist auf die Stöpsel. Am Tisch liegt die "Unerträgliche Leichtigkeit des Seins" von Kundera, das sie offensichtlich gerade liest. R. hat sich hier ihr eigenes Wohnzimmer eingerichtet. Es wirkt gemütlich. Ich beneide sie. Aus generalpräventiven Gründen sollte ich ihr das alles natürlich verbieten: Walkwoman, Buch. So mitten auf ihrem Tisch sitzend, fühle ich mich jedoch nicht als Autorität genug, um disziplinäre Maßnahmen zu ergreifen. Ich steige vorsichtshalber einmal vom Tisch herunter, versuche eine umgebogene Seite in ihrem unerträglich leichten Buch wieder gerade zu streifen, ich kann es nicht lassen, ich muß ins Buch gucken. Was liest sie gerade? Bei wem liegt Tomas soeben? Ich richte meine Haare, die vom Flug noch zerzaust sind und gehe wieder auf meinen angestammten sicheren Platz .

Lehrertisch, Tafel. Ich finde den roten und auch sonst keinen Faden mehr, wiederhole mich ständig, rutsche immer wieder in völlig falsche Dateien meines Hirns und spüre plötzlich eine Müdigkeit, die meine Zunge immer schwerer werden läßt. Wie gerne würde ich mich einfach hinlegen, auf einen Diwan, der ruhig ein bißchen mockelig riechen könnte, mich zur Wand drehen und entschlummern wie ein Säugling nach zwei übervollen Mutterbrüsten, die er ausgetrunken hat.

Prüfen Sie nächste Stunde?

Endlich ein klares Wort, das mich munter macht, zurückholt auf den Boden des Klassenzimmers.

Ja, natürlich, warum nicht? Sicherlich, wir müssen ja irgendwie zu Noten kommen. Freiwillige gehen vor. Auf Wiederschauen, bis zum nächsten Mal.

Um zum Ausgang zu gelangen, muß ich durch die ganze Klasse durch. R. hat schon wieder ihre Ohren verstöpselt, beachtet mich nicht. In den hinteren Bankreihen sehe ich die Unterlagen für die nächste Unterrichtsstunde, Hans scheint halblaut französische Vokabeln zu memorieren. Vor ihm ein Tetrapack mit Orangensaft. Es riecht nach Mandarinen.