Ibrahims Mutter



Gestern feierte Hans seinen sechsten Geburtstag. Ich war auch eingeladen. Wir sind nicht miteinander verwandt oder befreundet. Unsere Beziehung ist rein amtlich. Ich arbeite beim Sozialamt und betreue Waisenkinder und solche, deren Eltern zwar leben, aber aus irgendwelchen Gründen die Kinder nicht bei sich aufnehmen können. Das Sozialamt betreut diese Kinder. Einige, vor allen Dingen die älteren, werden in den Waisenheimen untergebracht. Für die Adoption oder zur Übernahme der Pflege von kleineren Kindern finden sich viele Leute bereit, insbesondere die einjährigen oder noch jüngeren sind sehr gefragt. Bei unserem Amt liegen viele Tausend Anträge von Ehepaaren vor, die solche Kinder adoptieren wollen. Aber so kleine Kinder erhalten wir selten. Die meisten Mütter wollen die Kinder bei sieh behalten. Unser Amt unterstützt sie dabei nach Kräften. Aber wenn die Mütter sich gezwungenermaßen von den Kindern trennen müssen, überlassen sie diese uns zur Vermittlung der Pflegschaft. Sie stellen sich meistens vor, daß in den zwei oder drei Jahren, die Kinder in Pflege sind, ihre eigenen Verhältnisse sich verbessern und ihnen erlauben würden, die Kinder wieder zu sich zu nehmen. Sehr wenige Frauen wollen sich von ihren Kindern ganz trennen. Und nur solche Kinder können wir zur Adoption anbieten.

Hans gehört zu ihnen. Er lebt seit zwei Jahren bei einem deutschen Ehepaar, das vor drei Jahren zu mir kam und seinen Wunsch nach Adoption äußerte. Es stellte keinerlei Bedingungen hinsichtlich des Kindes. Der amtlichen Praxis folgend fragte ich, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen wollten, ein gesundes oder krankes Kind. Ganz vorsichtig fragte ich auch, ob sie sich ein deutsches Kind oder ein ausländisches Kind wünschten. Sie schauen einander an und zuckten als Antwort auf meine Frage die Schultern. Es bedeutete, daß es ihnen gleichgültig war, was für ein Geschlecht oder Hautfarbe das Kind hatte, oder ob es krank oder gesund wäre. Vor allen Dingen hatten sie nichts gegen ein ausländisches Kind. Solche Leute werden von unserem Amt bevorzugt behandelt. Dies war auch der Grund dafür, daß sie innerhalb eines Jahres ein Kind erhielten, wogegen die meisten Ehepaare viele Jahre darauf warten müssen.

Das Kind hieß früher nicht Hans, sondern Ibrahim. Noch vor zwei Jahren war es bei uns unter diesem Namen registriert. Ich habe Ihnen noch gar nicht erzählt, daß seine, Mutter eine Türkin ist. Sie gab ihm diesen Namen. Ich kenne lbrahims Mutter sehr gut. Seit Jahren kommt sie zu mir. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich nie von Ibrahim getrennt. Sie mußte es tun. Ihr Mann will Ibrahim nicht sehen. Eigentlich hat er ihn auch nie zu Gesicht bekommen. Ibrahim ist nicht sein Sohn.

Die Vorgeschichte in aller Kürze: Ibrahims Mutter kam kurz nach ihrer Vermählung nach Deutschland. Die Arbeitsanträge hatte das Ehepaar gemeinsam gestellt, aber eine Arbeit bekam nur die Frau, weil sie Näherin war und zu der Zeit eine Hamburger Firma Näherinnen brauchte. Der Mann war Schlosser, und für ihn war kein Bedarf. Das Ehepaar beschloß, daß es statt herumzusitzen, besser wäre, wenn Sekine alleine nach Deutschland gehen und für Özal eine Arbeitsstelle suchen würde.

In Hamburg war Sekines Welt zwischen der Firma und den Wohnbaracken begrenzt. Sie konnte kein Wort Deutsch. Sie wohnte in einer Baracke für türkische Frauen, wo sie zu acht und zehnt in einem Zimmer eingepfercht lebten. Ebenso wie sie hatten die meisten Frauen ihre Männer in der Heimat zurückgelassen. Ihr Leben bestand darin, Geld zu verdienen und monatlich eine bestimmte Summe in die Heimat zu schicken. Den jährlichen vierwöchigen Urlaub verbrachen alle Frauen in der Heimat.

Für Özal eine Arbeit zu suchen, war nicht Sekines Sache. Sie arbeitete im Schichtdienst, konnte die Sprache nicht und kannte keine Menschenseele in Hamburg. Özal fehlte eigentlich nichts. Von dem Geld, das ihm Sekine schickte, lebte er im Dorf sehr gut. Sekine war zu Ohren gekommen, daß Üzal Beziehungen zu einer zweifelhaften Frau unterhielt. Aber sie fragte ihn nie danach.

Sekine war bereits seit fünf Jahren in Deutschland. Sie hatte die Wohnbaracke verlassen und in der Stadt ein Zimmer gemietet. Es befand sich im Keller eines alten Hauses, mit einem Fenster in der Höhe des Gehsteigs, das für frische Luft sorgte. Auch tagsüber mußte man elektrisches Licht anmachen. Trotz allem war Sekine glücklich, weil sie dort alleine lebte. In der Firmenbaracke fühlte sie sich von den vielen Frauen erdrückt. Die meiste Zeit verbrachte sie nach wie vor mit den Landsleuten. Die Frauen aus der Wohnbaracke besuchten sie oft. Eine Frau brachte eines Tages ihren Bruder Ismail mit. Von da an kam Ismail sie immer häufiger besuchen.

Ismail stammte aus Istanbul und war seit zehn Jahren in Deutschland. Er besaß etwas Schulbildung, und Deutsch konnte er auch gut, hatte eine gute Arbeit und verdiente doppelt soviel wie Sekine. Jeden Tag kam er nach der Arbeit zu ihr. Er liebte sie, sagte er, und wolle sie heiraten. Das einzige Hindernis war, daß Sekine bereits verheiratet war. Sekine mochte Ismail auch. Aber sie stoppte die Geldüberweisungen an Özal nicht. Er war schließlich ihr Mann und auf sie angewiesen. Sie wußte, daß Özal sich nie von ihr scheiden lassen würde. Sie hatte große Angst vor ihm und wußte, daß er sie umbringen würde, wenn er von ihrer Freundschaft mit Ismail etwas erfahren würde.

Sekine wurde schwanger. Sie sehnte sich seit langem nach einem Kind, und ihr Wunsch ging jetzt in Erfüllung. Sie hörte nicht auf Ismail und lehnte die Abtreibung ab. Sekine hatte zwar große Angst, aber sie hoffte, daß sich bis zur Geburt des Kindes eine Lösung finden würde, Dies traf aber nicht ein. Eine Katastrophe kommt selten allein. Drei Monate nach Ibrahims Geburt erhielt Özal eine Arbeitsbewilligung in Deutschland. A1s Ismail dies hörte, verschwand er auf Nimmerwiedersehen. Eine Woche vor Özals Ankunft kam Sekine mit dem Kind in mein Büro und bat mich um Hilfe. Die eine Lösung des Problems war, daß sie das Kind zur Adoption freigibt und sich von ihm für immer trennt. Die zweite war, daß sie durch unser Amt Ibrahim an eine Pflegefamilie vermitteln läßt. Die dritte Lösung war, daß das Kind in ein Heim kommt, wofür sie aber die Kosten hätte übernehmen müssen. Dazu fehlten ihr die Mittel. Nach langer Überlegung willigte sie in die Pflege ein. Auf keinen Fall wollte sie ihr Kind verlieren. Deshalb lehnte sie die Freigabe für die Adoption ab.

Binnen zwei Tagen fand ich ein Ehepaar für Ibrahims Pflege. Sekine atmete auf und brachte das Kind zu den Pflegeeltern hin. Sie verabredete mit ihnen, daß sie einmal in der Woche das Kind besuchen und einmal im Monat zu einem Spaziergang mitnehmen dürfte. In ihrem Herzen hegte sie die Hoffnung, Özal überreden und den Sohn nach Hause bringen zu können. Aber die Frage war, wer der Katze die Glocke um den Hals hängen sollte. So verging ein Jahr. Sekine besuchte heimlich Ibrahim, obwohl jedesmal beim Abschied ihr Herz blutete. Ibrahims Pflegeeltern drängten darauf, daß Sekine entweder das Kind mitnehmen, oder zur Adoption freigeben sollte. Auch ich mußte ihr nahelegen, sich zu Ibrahims Wohl bald zu entscheiden.

Schließlich faßte sie Mut und erzählte Özal von Ibrahirn. Özal drehte vor Wut fast durch und drosch auf Sekine ein, daß sie drei Tage nicht aufstehen konnte. Am vierten Tag kam sie mit einem geschwollenen Gesicht zu mir ins Büro. Sie war mit Mühe die Treppen hochgestiegen und hatte sich bis zu meinem Zimmer geschleppt. Özal hatte gesagt, daß er das Gesicht des Bastards nicht sehen wollte. Er würde ihr allerdings verzeihen und sich von ihr nicht scheiden lassen, wenn sie das Kind vergessen würde. Sekine saß in meinem Zimmer und weinte bitterlich. Sie war eine Mutter und wollte Ibrahim auf keinen Fall aufgeben. Sie lehnte es ab, ihn zur Adoption freizugeben.

Ibrahims Pflegeeltern gaben das Kind zurück. Sie wollten nicht länger warten. Sie wollten ein Kind, das sie adoptieren konnten. Mir blieb nichts anders übrig, als Ibrahim in einem Waisenheim unterzubringen. In den nächsten drei Jahren geschah dies vier Mal. Ich suchte Ehepaare aus, die Ibrahim aufnahmen und nach wenigen Wochen oder Monaten verlangten, daß Sekine von ihren Rechten zurücktreten und ihnen erlauben sollte, Ibrahirn zu adoptieren. Sekine lehnte jedesmal ab. Ich fuhr mit meinem Auto hin und holte Ibrahim samt seiner Spielzeuge ab. Was er dabei empfunden haben muß, kann ich schwer nachempfinden. In dem zarten Alter wurde er immer wieder mit neuen Leuten konfrontiert, die seine Eltern sein wollten. Jedesmal aber, wenn er sich an sie gewöhnt hatte, holte ich ihn in meinem Wagen ab und brachte ihn zum Waisenhaus. Wie sollte er wissen, was sich hinter den Kulissen abspielte. Er hatte so große Angst vor meinem Auto, daß er jedesmal zu heulen anfing, wenn er es erblickte. Schließlich entschloß ich mich, Druck auf Sekine auszuüben. Es ging nicht mehr nur um sie, sondern um die Zukunft eines vierjährigen Kindes. Wenn sie keine Möglichkeit sah, ihn bei sich aufzunehmen, sollte sie ihm auf seinem Weg kein Hindernis sein.

Sekine akzeptierte schließlich. Ihre Einwilligung unterschrieb sie vor mir. Ich versicherte ihr, daß das von mir ausgewählte Ehepaar für die Adoption sehr geeignet war und daß ich mich auch in den kommenden Jahren um Ibrahim kümmern werde. Aber es war gesetzlich verboten, ihr den Namen und die Anschrift der betreffenden Leute zu nennen. Sekine saß lange in meinem Zimmer und weinte, aber das Gesetz bindet mir die Hände. Es ist ein grausames Gesetz und es nimmt keine Rücksicht auf die Gefühle der Mütter. Wenn man überlegt, muß man zugeben, daß das Gesetz die Kinder und die adoptionswilligen Familien schützen will. Sonst könnten die Mütter ständig angelaufen kommen und ihre Kinder zurückverlangen und dies womöglich erpressen.

Um Ibrahims Vertrauen zu gewinnen, besuchte das Ehepaar Müller ihn anfänglich jeden Sonntag. Langsam gewöhnte er sich an sie und ließ sich übers Wochenende mitnehmen. Für ihn war ein Zimmer im Haus der Müllers eingerichtet worden. Das Zimmer gefiel ihm, auch das Haus der neuen Eltern, das ein Garten besaß, wo Ibrahim den ganzen Tag spielen konnte. Der Vorschlag zum Umzug vom Waisenheim in deren Haus kam vom ibrahim selber, worüber die Müllers sich natürlich riesig freuten. Mit Ibrahim waren sie überglücklich, als ob sie das kostbarste dieser Welt bekommen hätten. Berta Müller arbeitete nur noch halbtags. Ihr Mann war Lehrer an einem Gymnasium. In der Abwesenheit seiner Frau kümmerte er sich selber um Ibrahim, oder seine in der Nähe wohnende Mutter übernahm diese Aufgabe. Müllers hatten vor einigen Jahren gemeinsam mit einer anderen Familie ein Doppelhaus gebaut. Lediglich eine Zwischenmauer verband die Häuser miteinander, ansonsten war jedes Haus vollkommen für sich. Bis zum Ibrahims Einzug waren die Beziehungen zwischen den beiden Familien sehr gut, eigentlich auch danach, solange die Nachbarn nicht wußten, daß die leiblichen Eltern von lbrahim Türken waren. Berta war es, die eines Tages lachend der Nachbarin sagte, wenn man Hans (diesen Namen hatten sie ihm gleich am ersten Tag gegeben, so ansieht, könnte niemand darauf kommen, daß seine leiblichen Eltern Türken waren. Die Nachbarin erwiderte nicht, aber sie eröffnete eine Kriegsfront gegen Hans. Sie peinigte die Müllers in jeder erdenklichen Art und Weise. Auf der Sozialbehörde drang sie bis zu mir vor. Sie meinte, daß Berta und Hermann Müller nicht in der Lage seien, ein Kind zu erziehen, insbesondere, wenn es sich um einen Türkenkind handelte. Wir hätten kein Recht, solche Kinder in Deutschland aufzunehmen. Die Sozialbehörde sollte sich um die deutschen Kinder kümmern. Alle Ausländer, insbesondere die Türken, sollte man aus dem Land ausweisen. Unsere Gesellschaft, unsere Kultur gerieten durch sie in Gefahr. Ich gab Berta und Hermann Bescheid, daß ihre Nachbarin mich angesprochen hätte und daß sie dabei war ihnen Schwierigkeiten zu bereiten. Sie sollten vor ihr auf der Hut sein. Für Berta und Hermann brach eine Welt zusammen. Sie hatten nicht einmal im Traum gedacht, daß ihre Nachbarn so niederträchtig sein könnten und nicht davor zurückschrecken würden, auf ein unschuldiges Kind einzuschlagen. Hans war damals viereinhalb, und er bekam alles mit. Wie muß seine kleine Seele darunter gelitten haben.

Als alles nicht half und die durch die Nachbarin geschaffenen Schwierigkeiten statt aufzuhören immer größer wurden, verkauften Berta und Hermann ihr Haus und kauften ein neues Haus. Vor zwei Monaten sind sie in das neue Haus gezogen. Auch Hans hat in der neuen Umgebung aufgeatmet. Dort gibt es viele Kinder, die Hans sofort in ihrer Gruppe aufgenommen haben. Der Kindergarten ist in unmittelbarer Nähe. Berta und Hermann sind glücklich.

Aber Ibrahims Mutter kann ihr Kind nicht vergessen. Alle zwei, drei Wochen kommt sie zu mir ins Büro. Am Anfang wollte sie nur wissen, wie es ihrem Sohn ging. Manchmal brachte sie Spielzeug oder Süßigkeiten mit, damit ich sie an ihrem Sohn weitergebe. Aber dies ist uns strengstens verboten. Deshalb lehnte ich es ab. Ich habe ihr auch aus dem gleichen Grund nie die Bildet von Ibrahim gezeigt, obwohl sie in meinen Unterlagen vorhanden sind. Ich bin selber Mutter von zwei Kindern und ich verstehe sehr wohl die Gefühle von Ibrahims Mutter. Aber das Gesetz erlaubt es mir nicht.

In den letzten Monaten blieb Ibrahims Mutter weg. Ich dachte, sie hätte sich beruhigt, oder war vielleicht wieder schwanger, wozu ich ihr immer wieder geraten hatte. Letzte Wache tauchte sie plötzlich auf. Sie was sehr schwach und blaß im Gesicht. Sie ging wie eine alte Frau, obwohl ich weiß, daß sie keine dreißig ist. Ich lief ihr entgegen und machte für sie sofort eine Tasse Kaffee, Meine Befürchtung war richtig. Sie war sehr krank gewesen und hatte vier Wochen im Krankenhaus gelegen, wo man sie operierte. Die Ärzte meinten, sie hätte Gebärmutterkrebs. Sie hatten ihr die Gebärmutter herausoperiert. Nun würde sie keine Kinder mehr bekommen können. Sie war gekommen, um mir das zu sagen und mich zu bitten, ihr die Adresse der neuen Eltern von Ibrahim zu geben, damit sie ihn ab und zu besuchen kann.

Ich entschuldigte mich vielmals und sagte, daß. das Gesetz mir nicht gestattet, ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Ich könnte ihr aber berichten, daß Ibrahim sich in der neuen Umgebung sehr wohl fühle. Seine neuen Eltern liebten ihn sehr und erfüllten alle seine Wünsche. Aber ich erzäh1te ihr nicht, welche Schwierigkeiten ihm seine türkische Abstammung bereitet hatte.

Ibrahims Mutter saß lange in meinem Büro und weinte. Sie meinte, daß es ihr nicht vergönnt war, ihren Sohn zu sehen, zu umarmen oder ihn zumindest von weitem anzuschauen1 obwohl ihr einziger Sohn in der gleichen Stadt lebt, wie sie. Beim Weggehen kündigte sie an, ihren Sohn auch ohne meine Hilfe eines Tages zu finden. Sie sagte, daß sie sich seit zwei Wochen jeden Tag vor den Kindergärten postiert und sich die Kinder genau ansieht. Eines Tages wird auch Ibrahims Kindergarten dran sein, und sie wird ihren Sohn wiedererkennen. Ich versuchte sie davon abzuhalten, indem ich ihr sagte, daß es in unserer Stadt dreihundert Kindergärten gibt. Aber ich bin sicher, daß ich sie nicht davon abgebracht habe.

Gestern war ich auf der Geburtstagsfeier von Hans. Aber entgegen den Bestimmungen meines Amtes habe ich Berta und Hermann Müller nicht gewarnt. Ich bin aber nicht sicher, ob es Sekine gelingen wird, ihren Sohn zu finden.
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(vom Autor aus dem Urdu)