Tino Hemmann: "Und weil die Stunde kommt"
Der
1967 geborene Autor hat schon früh mit dem Schreiben begonnen
und es nach einem wechselhaften Lebenslauf schließlich zum
Inhaber eines kleinen Verlags geschafft, der zurzeit etwa 400
Autorinnen und Autoren unter Vertrag hat. Seine Werke (u.a. "Der
unwerte Schatz", "Silberauge" oder "Vogelgrippe" und seine drei
Leipzigkrimis) haben meist jugendliche oder kindliche
Hauptprotagonisten, die den Grausamkeiten und Merkwürdigkeiten
unserer wechselhaften Welt gegenüberstehen. Dabei wird durch
ihre Sichtweise vieles erklärt und dem Leser auch
gefühlsmäßig sehr nahe gebracht.
So auch in diesem Buch, das den etwa 1.335.000 zivilen Opfern der
Kriege in Afghanistan und dem Irak seit 1979 gewidmet ist, von denen
etwa ein Viertel Kinder gewesen sein dürften.
Der deutsche Journalist Paul, der auch schon Kontakt mit dem BND und
vor der Wende mit der Staatssicherheit hatte, befindet sich
in
Afghanistan. Von dort kommt er
nach Pakistan, wo er in einem
versteckten Ausbildungslager den Jungen Haydar kennen lernt. Die
Familie des dreizehnjährigen Afghanen ist im russischen
Afghanistankrieg zehn Jahre zuvor ausgelöscht worden, und
danach hat er den Namen Haydar angenommen, der Löwe bedeutet.
Dieser Junge und sein Schicksal inspirieren ihn zu einem Buch, und mit
der Erlaubnis des Lagerkommandanten Zaim durchläuft er
parallel zu dem Jungen die Ausbildung zum Soldaten in diesem vom
pakistanischen Geheimdienst geleiteten Lager. Seine eigene Vertrautheit
mit der arabischen Sprache und der muslimischen Lebensweise sind ihm
dabei eine große Hilfe, auch wenn es ihm tatsächlich
nicht leicht fällt, hinter die Mauern zu kommen, die
Haydar um sich herum aufgebaut hat.
Doch als es ihm gelingt, wird er immer mehr in die Lebenswirklichkeit
dieses Jungen hineingezogen, und ein Kampf um die Seele des Kindes
beginnt, während sich im Hintergrund eine Gefahr
zusammenbraut, die das Leben aller Beteiligter beenden könnte.
Und Paul, der im Lager Boulos oder auch Safiy
al Din (Freund des Glaubens) genannt wird, wird Teil der
Gewalt und des Krieges, über die er eigentlich nur berichten
sollte. Ein Krieg, in dem es immer schwieriger wird zu erkennen, wer
eigentlich der Feind ist.
Auch Paul selbst ist nicht ganz das, was er zu sein vorgibt, und seine
eigentlichen Ziele bleiben dem Leser - genau wie Haydar - lange Zeit
verborgen. Ja, mit der Zeit scheint er sich selbst nicht ganz im Klaren
darüber zu sein, was er eigentlich genau beabsichtigt, und
seine ständigen Gebete zu einem Allah, an den er vorgibt,
nicht so richtig zu glauben, sind nur das offensichtlichste Zeichen
seiner inneren Zerrissenheit.
Die Bezüge auf den Koran und auf die muslimische Lebensweise
in Pakistan und Afghanistan sind erhellend, und die Gespräche
des gut geschulten und erfahrenen Journalisten mit dem Jungen, der den
Dschihad lebt, aber nicht wirklich versteht, geben dem Leser auf sehr
unaufdringliche Art und Weise viele wichtige Informationen,
während durch die Reaktionen und Kommentare des Jungen - und
durch seine eigenen Lebenserinnerungen - diese Informationen direkt mit
Schicksalsschlägen realer Opfer konkretisiert werden.
Gleichzeitig zeigen andere Gespräche auch - zum Teil etwas
weit interpretierende - Erklärungen für
mögliche geopolitische Zusammenhänge. Es ist ein
Erklärungsversuch für all das unerklärliche
Leid, das den Balkan und den Nahen Osten seit dem Ende des
Kalten
Krieges befallen hat. Ob diese Erklärung stimmt oder nicht,
wird man wohl nicht so ohne Weiteres entscheiden können, denn
zu viele Interessen sind miteinander verquickt, eine Tatsache, die
dieser Roman eindringlich deutlich macht.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 11/2006)
Tino
Hemmann: "Und weil die Stunde kommt"
Engelsdorfer Verlag, 2006. ca. 400 Seiten.
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Lien zu Tino Hemmanns Netzseite: https://www.tino-hemmann.de/