Leseprobe:

Die Flasche

Es war einmal eine Flasche Wein. Der junge Mann hatte sie bald nach dem großen Krieg auf seiner Maturareise in Bordeaux für gutes Geld gekauft, weil sie aus seinem Geburtsjahr stammte. Es war ein erstklassiger Jahrgang einer erstklassigen Lage. Sie einfach auszutrinken verbot sich, es sollte schon bei einer würdigen Gelegenheit sein. Seine Hochzeit! Aber im Trubel des Festes vergaß er sie einfach. Die Geburt des ersten Kindes: man trank Champagner. Die ersten Berufserfolge: würden nicht großartigere nachkommen? Längst hatte er einen gut bestückten Weinkeller, und dort war und blieb sie die heimliche Königin, immer wieder in die Hand genommen und immer wieder zurückgelegt. Schließlich kam die Pension: war sie wirklich ein Grund zum Feiern? Der Siebzigste, der Achtzigste: andere richteten die Festlichkeiten aus. Noch einmal, als es ans Sterben ging, dachte er an sie, aber längst hatte der Arzt ihm den Alkohol verboten.
Am Tag nach seiner Beerdigung kamen die Erben zusammen, um zu teilen, was im Haus zu teilen war. Für die Flasche, auf die man endlich auch gestoßen war, gab es nur eine Möglichkeit: man öffnete sie, trank sie aus - "hoppla! Auf das Wohl des Alten!" - und leerte noch manch andere Flasche hintennach.

 

Aus: "Ein dunkelblauer Schuhkarton" von Jochen Jung.
Haymon-Verlag, 2000.
ISBN 3-85218-332-4.