Die silberne Häsin

Gebräu und Trank von dazumal bewirkten den Zauber im Nu, (Hört zu, hört alle gut zu!) da war einmal, da war einmal...

... ein Fürst mit Namen Aquilino, der zwanzig Jahre alt war und die schönste Prinzessin der ganzen Welt zu seiner Gemahlin machen wollte. Als er verkünden ließ, daß er sich zu vermählen gedachte, sandte man ihm Hunderte von Porträts, die er in der Schloßgalerie aufhängen ließ; und dort sann er nach über die Schönen, die ihm aus großen, vergoldeten Rahmen zulächelten. Die Wahl fiel auf Nazzarena, Prinzessin von Bikarien; die Hochzeit besiegelte man mit Hilfe von Gesandten. Im Schloß Aquilinos bereitete man alles für die große Zeremonie vor, und schon im Morgengrauen des ersehnten Tages befand sich der Prinz auf dem höchsten Turm, um nach seiner Braut Ausschau zu halten; der Hochzeitszug sollte in Kürze ankommen, in Kürze sollte er die berühmte Schönheit zum ersten Male sehen. Aber der Hochzeitszug kam nicht an. Man sah nur eine einzige Karosse heranrollen und aus ihr stieg ein buckliges und bärtiges altes Männlein. - Ich bin der König von Bikarien, und dies ist meine Tochter Nazzarena, die ihr zur Frau begehrt. Aquilino gelang es nicht, seine Enttäuschung gänzlich zu verbergen. Die Prinzessin war zwergenhaft klein, blaß, verwelkt, dem Bildnis seiner Wahl ganz unähnlich. Der Alte bemerkte dies. - Die anstrengende Reise und die Aufregung haben sie völlig erschöpft. Sie wird sich erholen und ihr werdet sie wieder schön finden. Aquilino wollte die Hochzeit absagen, aber er hatte sein Wort gegeben und mußte es halten. Er bat darum, die Hochzeitszeremonie um zwei Tage aufzuschieben, und nahm den Alten und dessen Tochter als Gäste in seinem Schloß auf. Um sich von seiner Unzufriedenheit und Enttäuschung abzulenken, ging er am folgenden Morgen mit einer goldenen, edelsteinbesetzten Flinte allein auf die Jagd. Er wanderte durch Felder und Wiesen und gelangte in einen tausendjährigen Wald. Auf einem Pfad erschien ihm eine silberne Häsin, die Gras fraß, ihn unverwandt anstarrte und sich ganz und gar nicht vor ihm ängstigte. Der Prinz zielte mit seiner Büchse und schoß. Doch als sich der Rauch verzogen hatte, erschien das Tier wieder an derselben Stelle, unversehrt und ruhig. Der Prinz kam näher. Der Hase ergriff die Flucht, blieb nach einer Weile stehen und betrachtete ihn mit ruhigen, menschlichen Augen. Aquilino schoß ein zweites Mal. Der Rauch verflog und die Häsin erschien wieder still und wohlbehalten; sie saß auf ihren Hinterläufen da, das eine Ohr aufrecht, das andere gesenkt, mit flehend blickenden Augen und bebend ihm zugewandter Schnauze. Doch als der Prinz die Waffe fortwarf und näherkam, machte sie einen Satz und verschwand zwischen den Tannen. Aquilino war verblüfft. Hier war Zauberei im Spiel. Er lehnte sich an den Stamm eines riesenhaften Baumes und dachte noch einmal an den sanften Blick des unverwundbaren Opfers. Da schien es ihm, als hörte er hinter sich, im Innern des Stammes, den fernen Widerhall von Musik und Stimmen; er wandte sich um, machte eine Runde um den Baum, doch es war niemand zu sehen. Wieder lehnte er sich an den Stamm. Da hörte er von neuem die Musik und die Stimmen. Ungeduldig klopfte er mit seiner Faust auf die Rinde. Da öffnete sich die Rinde knarrend in zwei Türflügel und vor dem erstaunten Prinzen erschien eine Freitreppe von blendender Schönheit. Als er die ersten Stufen wie im Traum hinanstieg, hörte er die Tür hinter sich zuschlagen. Der Palast war unermeßlich groß. Treppen, Innenhöfe, Flure, Bogengänge, Säle, die reich mit Marmor, Porphyr, Jaspis und Edelsteinen ausgestattet waren, reihten sich in endloser Folge aneinander. Aquilino schritt staunend voran. Es wurde Nacht, doch niemand zeigte sich in dem verzauberten Palast. Nur zwei Hände gingen ihm voran: Die eine hielt eine Laterne, die andere bedeutete ihm, ihr zu folgen. So gelangten sie in einen riesigen Speisesaal; Aquilino setzte sich zu Tisch, und die beiden Hände begannen, köstliche Speisen und vorzügliche Weine herbeizubringen. Er betrachtete die beiden einzelnen, hin- und herfliegenden Hände und versuchte sie zu fassen, sobald sie dicht bei ihm waren, doch sie setzten die Teller nieder und flatterten geschwind wie Schmetterlinge davon. Nachdem er gegessen hatte, fühlte er, wie er schläfrig wurde, und er erhob sich, um schlafen zu gehen. Die beiden Hände führten ihn in ein Zimmer, das ganz mit zinnoberrotem Damast ausgeschlagen war, wünschten ihm, wohl zu ruhen, verabschiedeten sich und verschwanden. Aquilino warf sich auf die feinen Bettücher und schlief ein. Er träumte davon, die Prinzessin Nazzarena wieder zu sehen, doch nicht das Weib, das ihm der bärtige Bucklige gebracht hatte, sondern er sah sie so strahlend schön und blond, wie sie ihm auf dem Bildnis erschienen war. Da wurde er plötzlich von Lärm geweckt. Er öffnete die Augen einen Spaltbreit. Das Zimmer war hell erleuchtet und viele Händepaare, gleich jenen vom Vorabend, zuckten hin- und her, verflochten sich ineinander und wiesen auf ihn. - Welches Spiel wollen wir spielen? - Ball. - Spielen wir Ball mit dem, der dort schläft? - Wer schläft? - Da, im Bett, seht ihr ihn nicht? Aus halb geöffneten Lidern beobachtete der Prinz, wie sich die Hände näherten. Sie packten die Bettlaken, hielten sie straff gespannt an den Säumen, und unter heiserem Gelächter und schrillen Pfiffen begannen sie, ihn auf- und abspringen zu lassen. Der Prinz hielt seine Augen geschlossen und tat so, als schliefe er. - Er will nicht aufwachen! - Wir werden ihn schon wecken! Wir werden ihn schon wecken! Und sie setzten ihr grausames Spiel doppelt so heftig fort. Beim ersten Hahnenschrei schleuderten ihn die Hände ins Bett und verschwanden. Aquilino betastete gerade seine schmerzenden Glieder, als er ein leises Geräusch vernahm und neben sich die silberne Häsin erkannte. Statt der vier Hasenpfoten hatte sie die zarten, weißen Füße und Hände einer Frau. - Prinz Aquilino, ich bin die Prinzessin Nazzarena, die Euer Herz sich zu seiner Gefährtin erwählte. Als ich mit meinem Gefolge in einen Wald kam, verwandelte mich ein Zauberer und setzte mich und meine Leute in diesem Schloß gefangen. Ich bin gerettet, wenn Ihr in dem Zimmer hier drei Nächte wie diese verbringt. Der Zauberer ist derselbe, der zu Euch kam, um Euch seine häßliche, zwergenhafte Tochter zur Frau zu geben. Die Häsin verschwand. Aquilino erwartete bang den zweiten Abend. Er speiste, bedient von den beiden fliegenden Händen, ging zu Bett und schlief ein. Er erwachte durch Lärm: Viele Hände holten ihn aus dem Bett, spannten das Laken und begannen ihr Spiel noch wütender als am Abend zuvor. - Er will nicht aufwachen! - Wenn er nicht aufwacht, sind wir verloren!... Da schleuderten ihn die Hände ein letztes Mal in die Höhe und ließen ihn an einem Nagel der Deckenbalken hängen. Dann verschwanden sie pfeifend. Aquilino öffnete die Augen und sah die silberne Häsin. Nun war ihr ganzer Leib der einer Frau; nur der Kopf war noch der einer Häsin, und sie sah ihn mit sanften, menschlichen Augen an. - Armer Prinz! Leidet aus Liebe zu mir noch eine Nacht und wir sind gerettet. Es kam die dritte Nacht. Wieder erschienen die Hände, und sie waren wütender denn je. - Spielen wir? - Laßt uns spielen! - Aber diese Nacht müssen wir ihn zu Grunde richten! - Wir müssen ihn zu Grunde richten! Dann begann das grausame Spiel. Aquilino flog bis an die Decke, schlug auf, blieb dort haften wie ein Pfannkuchen, fiel zurück in das straff gespannte Laken und wurde unter höllischem Gelächter von neuem hochgeschleudert. Aber aus Liebe zu Nazzarena öffnete er nicht die Augen. - Er wacht nicht auf! Wir sind verloren! - Wir sind verloren! - Der Morgen graut! Wir sind verloren! Die wütenden Hände näherten sich dem Fenster, spannten das Laken und schleuderten Aquilino in Schwindel erregende Höhen. Er flog und flog, fiel und fiel, wohl zehn Minuten lang, schlug auf dem Gras auf, betastete seine Glieder, die ganz zerschlagen waren, öffnete die Augen und sah, daß er noch lebte. Er befand sich am Fuß des verzauberten Baumes. Neben ihm stand seine wahre Braut Nazzarena in nie zuvor gesehener Schönheit, und sie hatte ihr Gefolge von Karossen, Damen und Kavalieren bei sich, denn sie waren zusammen mit ihr von dem bösen Zauber des Hexenmeisters befreit worden. Der Fürst geleitete sie zu seinem Schloß, versammelte den ganzen Hofstaat im Saal des Großen Rates, ließ den bärtigen Buckligen und seine häßliche Tochter hereinführen und sprach zu seinen Ministern: - Ich hatte mir ein goldenes, edelsteinbesetztes Kästchen kommen lassen; ein Schurke stahl es mir unterwegs und vertauschte es mit einem hölzernen, wurmstichigen. Das Schicksal will es, daß ich das goldene wieder finde. Welchem soll ich den Vorzug geben? - Dem ersten! - entschied der Hof. - Und was soll ich mit dem Dieb und dem wurmstichigen Kästchen machen? - Sie auf demselben Scheiterhaufen verbrennen! So geschah es. Und die Hinrichtung und die Hochzeit fanden unter dem Beifall des ganzen Volkes statt.


(Aus "Die drei Talismane. Zaubermärchen" von Guido Gozzano.
Aus dem Italienischen von Olaf Posmyk.)

Der italienische Lyriker und Nobelpreisträger Eugenio Montale hielt Gozzano für einen der bedeutenden Vertreter der italienischen Dichtung des 20. Jahrhunderts. Der Frühverstorbene (1883-1916) hinterließ ein Werk, das im deutschen Sprachraum bislang unentdeckt geblieben ist. Zunächst orientiert an Gabriele d'Annunzio, zeigt bereits seine erste Veröffentlichung zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen völlig anderen Ton, Heroisches wird gebrochen, ironisiert, statt Schwülstigkeit begegnet dem Leser eine klare, sichere, sehr viel modernere Sprache. Er gilt damit als der wichtigste Vertreter der "Crepuscolari", einer Dichtergruppe des Umbruchs, des Übergangs zur Moderne. Die zwölf "Zaubermärchen",1909 und 1914 in zwei Teilen veröffentlicht, ähneln zweifellos dem Grimm'schen Sammlungswerk, dennoch stellen sie in ihrem erzählerischen Kern etwas Anderes dar, sind weniger mit hoher Moral belastet, lesen sich leichter, vielleicht italienischer. (Manholt; Piper)
Buch bei amazon.de bestellen