F.M. Dostojewski: "Die Brüder Karamasow"


"Dostojewski ist mir immer teuer gewesen; er war vielleicht der einzige Mensch, den ich über vieles hätte befragen können, und der auch in der Lage gewesen wäre, auf vieles zu antworten... Er war ein edler Mensch, von echt christlichem Geiste beseelt." (Leo Tolstoi)

Wer eines der Hauptwerke von Dostojewski liest, wird nicht mehr ruhen, bis er alle seine Werke gelesen hat. Dostojewski war ein Genie, und glaubte dies auch selbst von sich. Er schuf Figuren, die für alle Zeiten unvergesslich in den Kellern der menschlichen Seele zu hausen vermögen. Es war ihm ein Bedürfnis, den Erniedrigten und Beleidigten eine Stimme zu geben. Dostojewski hatte ganze Romane im Kopf, und es wäre unmöglich, auch nur annähernd seine Bandbreite literarischen Schaffens ihm gerecht werdend zu dokumentieren. Er steht wie ein Fixstern am Olymp literarischer Leistungen. Was sich in seinen Werken abzeichnet, ist von religiöser, seelischer, politischer, sozialer und geistiger Tiefe, sodass es keinen seiner zu Berühmtheit gelangten Autorenkollegen (Knut Hamsun, Hermann Hesse, Stefan Zweig, Thomas Mann, Hugo von Hofmannsthal u.v.a.) nicht zu tiefem Respekt veranlasst hätte. Dostojewski hat Schriften hinterlassen, die wahrhaft zeitlos und einzigartig in der Brandung literarischen Einheitsbreis stehen.

Wenn Autoren sich entscheiden, ein Werk zu verfassen, dann wissen sie genau, dass dies nicht unabdingbar notwendig wäre. Es existieren unzählige Werke. Jedes Jahr werden Millionen von Büchern auf den Markt geschleudert, von denen die meisten kaum beachtet werden, und selbst jene, die von hochdekorierten Literaturkritikern in den Himmel gelobt werden, sind in den seltensten Fällen als literarische Höchstleistungen einzustufen. Die Latte literarischen Leistungspotenzials liegt heutzutage nicht sehr hoch. Selten geschieht es, dass ein Autor auftaucht, dem es gebührt, in das Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Und was bietet diese Öffentlichkeit schon Besonderes? In den Zeiten medialen Stumpfsinns lebend, wird selbst Literatur oftmals entstellt dargestellt, und nur wenige Leser werden sich die Mühe machen, sich tiefergehend mit den Fragen, die Literatur an den Weltgeist stellt, auseinander zu setzen.

Dostojewski entzieht sich den stumpfsinnigen Welterklärungsmodellen. Er grub sich in die Psyche der Menschen ein und stellte deren seelisches Leben in einer Weise dar, dass diese literarischen Figuren lebendiger waren und sind, als es je irgendein anderer Autor vermocht hätte.

Er wurde am 30. Oktober 1821 in Moskau geboren. Schon im Alter von 24 Jahren veröffentlichte er seinen Briefroman "Arme Leute", der großen Anklang beim Petersburger Publikum fand. Dies war der Anfang unglaublicher literarischer Schaffenskraft. Er schloss sich einem revolutionären Kreis an, und wurde am 23. April 1849 aus diesem Grunde verhaftet. Am 22. Dezember desselben Jahres erfolgte seine Schein-Hinrichtung in St. Petersburg. Er wurde im letzten Moment begnadigt (die Gewehrmündungen hatten bereits auf ihn gezeigt), und zu vier Jahren Zwangsarbeit und vier Jahren Militärdienst in Sibirien verurteilt. In diesen schweren Zeiten erfolgten seine ersten epileptischen Anfälle. Jahre später schilderte er seine Erfahrungen in seinen "Aufzeichnungen aus einem Totenhaus".

1867 erschien "Der Spieler" . Die große Schwäche von Dostojewski war seine Spielleidenschaft. Er konnte ganze Nächte hindurch am Roulettetisch verbringen. Eine seiner unglaublichen Aussagen, die sich ganz und gar unglaublich anhören, ist folgende:
"Ich habe meine Werke nie im Leben anders fortgegeben als für Vorschusszahlungen. Ich bin ein proletarischer Literat, und wenn irgendjemand mein Werk haben möchte, muss er es mir im voraus bezahlen."
Tatsächlich schrieb er die meisten seiner Werke im Auftrag seiner Verleger. Und dennoch wirken seine Figuren nie gedrängt oder gezwungen. Seine Werke implizieren in sich eine Perfektion, die so ganz im Gegensatz zu seinen Lebensverhältnissen hervorleuchtet. Er spielte, er schrieb, er spielte, er schrieb. Erst im Alter von 50 Jahren hatte er seine Spielsucht überwunden und konnte kräftig durchatmen.

Einige Kritiker des Genies warfen ihm vor, er habe keineswegs fehlerlos geschrieben. Oftmals waren ihm Stilschwächen unterlaufen, und es wäre seinen Lektoren zu verdanken, dass seine Bücher so einzigartig wirkten. In dieser Hinsicht kann ich nur auf den "Literaturpapst" verweisen, der Recht hatte, als er meinte: "Selbst aus den schlechtesten Übersetzungen von Dostojewski geht hervor, was für ein großartiger Dichter er war." Ja, ich denke, dass es keinen Unterschied gemacht hätte, ihn im Original zu lesen und stilistische Schwächen zu entdecken. Er leistete so unschätzbar viel literarisch Wertvolles, dass ihm jeder noch so große Fehler nichts von seinem Genie nimmt.

Von Dostojewski zu schreiben, ohne auf sein Hauptwerk "Die Brüder Karamasow" einzugehen, ist freilich nicht möglich. In diesem Buch vereinigen sich sämtliche Themen, die für ihn Zeit seines Lebens von Bedeutung waren. Setzen wir uns mit diesem Werk ein wenig auseinander, so können wir daraus seine unbestrittene Genialität ableiten. Es sind schon Diplomarbeiten, unzählige von Analysen der Brüder geschrieben worden. Ich verweise im Folgenden auf die wichtigsten Komponenten, die dieses Werk auszeichnen, und zu einer der erstaunlichsten literarischen Leistungen, zu der ein Autor je fähig war, machten und machen.

Drei (eigentlich vier) Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, kommen miteinander in Berührung. Im Verlaufe des Romans kommt es zum brutalen Mord am Vater. Aljoscha ist ein Novize, Iwan ein Intellektueller und Dmitrij ein Lebemann. Der eigentliche Mörder, Smerdjakow, ist der uneheliche Sohn des Patriarchen und dient als Werkzeug der verpflanzten Mordlustgedanken von Iwan. Der nicht geleugnete Hass von Dmitrij auf seinen Vater macht diesen zum Hauptverdächtigen. Dies Werk als Kriminalstück abzutun, wäre jedoch verfehlt. Es ist wie in allen großen Romanen von Dostojewski die Seelenschau der Protagonisten, die menschliche Abgründe offenbart. Auf einige Kernpunkte muss in dieser Hinsicht eingegangen werden. Die religiöse Komponente ist nicht allein durch Aljoscha repräsentiert. Aljoscha ist so etwas wie ein Mann Gottes, der einer gutmütigen Sekte anhängt, die in Starez Sosima einen Führer hat. Die Lehren des Starez Sosima werden ausführlich im Roman dargestellt. Es sind aber nicht nur die christlichen Tugenden des weisen Alten, der als Heiliger angebetet wird und als Heiliger stirbt. Es ist gerade die Konfrontation zwischen dem ewigen intellektuellen Grübler Iwan und Aljoscha, die Unfassbares zum Ausdruck bringt. Iwan hat seine Gründe, dem Bruder die Geschichte vom "Großinquisitor" zu erzählen. Interessanter noch als die kleine Erzählung vom "Großinquisitor", die als reine philosophische Spekulation zu bezeichnen ist, ist die vorangehende Episode von der Auflehnung, die an religiöse Grundsätze gemahnt, und doch von einem Atheisten ausgesprochen wird. Iwan sammelt Leidensgeschichten von Menschen, denen sehr, sehr Schreckliches angetan wurde. Insbesondere die Kinder haben es ihm angetan. Ein General, gleichzeitig steinreicher Gutsbesitzer, sah mit an, wie ein Kind eines Leibeigenen beim Spielen durch den Wurf eines Steines seinen Lieblingsjagdhund am Bein verletzte. Dieser Mensch dreht vollkommen durch und hetzt eine Meute von Hunden auf den Jungen, die diesen zerfleischen. Er erteilt nicht sofort den Befehl, aber nach "reiflicher" Überlegung. Iwan fragt Aljoscha, was denn in diesem Falle mit dem General zu tun sei. Solle er erschossen werden? Und der Novize sagt in einer Anwandlung von Überstürzung "Ja, erschießen." Daraufhin setzt Iwan Aljoscha mit seinen Zweifeln bezüglich des Glaubens in Kenntnis. Er würde nach seiner Auferstehung nicht ausrufen: "Gerecht bist du, Herr", weil sich der General mit dem Kind und dessen Mutter in höherer Harmonie versöhnt habe. Hingegen: "Solange noch Zeit ist, beeile ich mich, mich zu schützen, und verzichte darum völlig auf die höhere Harmonie. Sie ist nicht einmal eine einzige Träne auch nur des einen gequälten Kindes wert, das sich mit den Fäustchen an die Brust schlug und in dem übelriechenden Loch mit ungesühnten Tränen zu seinem lieben Gott betete. Sie ist es nicht wert, weil seine Tränen ungesühnt geblieben sind. Sie müssen gesühnt werden, sonst kann es keine Harmonie geben ..." Er führt schließlich weiter aus: "Auch hat man die Harmonie zu hoch bewertet, sie geht über meine Verhältnisse. Darum beeile ich mich, meine Eintrittskarte zurückzugeben. Und wenn ich ein ehrlicher Mann bin, so bin ich verpflichtet, sie so bald wie möglich zurückzugeben. Das tue ich auch. Nicht Gott lehne ich ab, Aljoscha, sondern ich gebe ihm nur ehrerbietigst die Eintrittskarte zurück."
Die Geschichte von der Auflehnung ist repräsentativ für das Schaffen von Dostojewski in religiöser Hinsicht. Für Dostojewski war es stets wichtig, gerade diese höhere Harmonie als Grundsatz des Glaubens zu definieren. Indem er Iwans Zweifel darstellt, rückt er die christlichen Tugenden umso mehr in den Mittelpunkt. Es ist wichtig, sich mit allen Menschen auseinander zu setzen; gerade mit den Zweiflern. Berührend ist ja etwa auch die Szene in "Schuld und Sühne", wo ein Trunkenbold, der seine Stieftochter Sonja zu einer Hure degradiert hat, sodass sie auf diese Weise das Geld für die Familie verdienen muss, in einem Anfall von Reue bekennt, dass er der schrecklichste Mensch sei, der je gelebt habe. Er verdiene es nicht, von Gott geliebt zu werden. Und die Botschaft von Dostojewski, die gerade hier besonders deutlich hervorgeht, ist jene von der alles überspannenden Liebe Gottes: Jeder wird eingeladen werden, Gott nahe zu sein, wenn sein Leben sich erfüllt hat. Niemand wird ausgestoßen werden. Es ist das allgemeingültige Verständnis für die Fehlbarkeit des Menschen, die sich darin ausdrückt. Und Dostojewski gibt allen eine Stimme, die so gerne verflucht und zum Teufel geschickt werden. Er richtet nicht. Und die Szene mit Iwan und Aljoscha dokumentiert den Zwiespalt, der so leicht aufgelöst werden kann, besser als alles Andere, was irgendwelche Pfarrer von der Kanzel herabpredigen könnten. Es gibt kein ewiges sich zur Schuld Bekennen des fehlbaren Menschen. Es gibt keine ewige Verdammnis für die Gescheiterten. Gott wird alle einladen. So einfach ist die Botschaft, die Dostojewski darstellt.

Die Fragen des Glaubens, und somit der religiöse Aspekt, sind für Dostojewski stets von außerordentlicher Wichtigkeit gewesen. Auch die Rede von Fetjukowitsch, dem Verteidiger des angeblichen Vatermörders Dmitrij, schlägt in diese Kerbe. Die Gnade und Barmherzigkeit sind keine leeren Floskeln, sondern immer gebunden an grausame Schicksale, die Menschen widerfahren. Es ist möglich, den Vater zu hassen, wenn er dich als Sohn nur gedemütigt und dir die tiefste Höllenqual der Missachtung bereitet hat. Das ist keine Entschuldigung oder Rechtfertigung, wenn der Vater mittels eines Stößels ermordet wird, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass jeder Mensch im Sinne seiner Lebensgeschichte vom Gericht gehört werden sollte. Das ist es, worauf der Verteidiger drängt. In "Schuld und Sühne" erkennt der Mörder, dass seine Verachtung falsch gewesen ist und er für diese Tat zu sühnen hat. Er gibt zu, den Mord begangen zu haben, um seine Fieberträume zu vertreiben. "Ach, der arme Täter", mögen zynische Menschen ausrufen, wenn sich aus der Lebensgeschichte des Mörders ergibt, dass dieser von Kindheit an die Rolle des Versagers auf den Leib geschrieben bekam.
"Auge um Auge, Zahn um Zahn", steht sogar im Alten Testament. Wenn diesen Menschen auch soziale Umstände geprägt haben, so ist seine Tat nicht entschuldbar. Natürlich. Das ist richtig. Und dennoch sagt es nichts aus darüber, wie mit Menschen umgegangen werden sollte. Es gibt Mörder, die ihre Schuld nie zugeben und gerade daran zu ersticken drohen. Bekenntnis zur Schuld ist immer der erste Schritt hin zu Vergebung. Nichts Anderes ist aus den "Brüdern Karamasow" ableitbar. Es hilft nichts, wenn das Gewissen dich drückt, und du musst mit einer Tat leben, die dich immer und ewig daran erinnert, dass du das Leben eines Menschen ausgelöscht hast. Es gab Fälle in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo der Mörder ehrlich bereute, ihm sogar die Eltern des getöteten Kindes verziehen und um Gnade für ihn baten. Doch die ernüchternde Justiz der Vereinigten Staaten von Amerika kennt keine Gnade. Das Todesurteil blieb nicht aus.

Der Mensch soll die Möglichkeit haben zu bereuen. Dieser wichtige Grundsatz wird immer wieder missachtet. Dostojewski hat geschrieben, weil er getrieben war. Er war ein Mensch mit derartig tiefen Gedanken, dass er damit die ganze Welt durchdringen hätte können. Er war im Herzen ein Liebender. Er setzte sich mit den Verlierern der Gesellschaft auseinander. Er verurteilte sie nicht, sondern versuchte sie zu verstehen. Auch seine politischen Ausführungen gingen in diese Richtung. Für Dostojewski gab es nur ein Motiv, zu schreiben: Er wollte den Menschen eine Stimme geben, die immer überhört werden. Sein Gesamtwerk ist einzigartig. Sein großer Roman "Die Brüder Karamasow" ist vom Anfang bis zum Ende eine Geschichte, die für sich selbst spricht. Alles menschliche Leid ist in ihr enthalten, die stummen Schreie der Erniedrigten, Beleidigten, Mörder, Huren, Säufer und sonstigen Menschen, die der Verachtung der Gesellschaft sicher sein können. Dostojewski hat ein Werk geschaffen, das der Leser nur erstaunt immer und immer wieder als Anreiz nehmen kann, sein eigenes Leben zu überdenken und gegebenenfalls neu zu ordnen.

Dostojewski ließ sich von seiner Frau Anja die Bibel geben, als er spürte, dass es mit ihm zu Ende ging. Er schlug das Buch willkürlich auf, und seine Gattin las eine Stelle aus dem Matthäusevangelium vor, in dem die Worte vorkamen: "Halte mich nicht zurück!"
Daraufhin sagte er: "Siehst du, Anja? Halte mich nicht zurück; das heißt, dass ich sterben muss." Seine Frau Anja teilte der Nachwelt mit, dass er dies gesagt habe und danach das Buch schloss. Um halb neun Uhr abends war Dostojewski tot. Es war der 28. Jänner 1881. Drei Tage später wurde er im Alexander-Nevskij-Kloster beigesetzt. Durch sein hinterlassenes Werk können wir Leser mit einem Autor in Berührung kommen, der einer der Größten, wenn nicht der Größte von allen Literaten war und ist.

(Jürgen Heimlich; 03/2002)



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