Albert Camus (1913-1960): "Der Fremde"


"Angesichts dieser Nacht voller Zeichen und Sterne wurde ich zum ersten Mal empfänglich für die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt."
(Aus "Der Fremde")

"Ein Meisterwerk kann man auch schreiben, ohne wie Proust tausend Seiten zu schwärzen", rechtfertigt der französische Literaturstar Frédéric Beigbeder seine Entscheidung, den Romanklassiker "Der Fremde" von Albert Camus als Siegertitel seines Bücherkanons zu werten, welcher als "Letzte Inventur vor dem Ausverkauf - Die fünfzig besten Romane des 20. Jahrhunderts" bei Rowohlt verlegt wird. "Unser Siegertitel wird die Faulenzer beruhigen: Es ist ein sehr kurzer Roman", merkt Beigbeder an, womit er nicht Unrecht hat, aber auch nichts über die verhaltene Größe dieser wenigen Zeilen besagt. Was verrät schon die Seitenzahl über die Qualität eines Buches? Der Leser wird betrübt sein, dieses Buch nach nur 142 Seiten weglegen zu müssen.

Als "L'Etranger" ("Der Fremde") 1942 in dem von NS-Deutschland besetzten Frankreich erschien, führte das darin abgehandelte Unglück des unbedeutenden Büroangestellten Meursault zu recht unterschiedlichen Reaktionen, welche in einem gewissen Sinne auch die tiefe Zerrissenheit der französischen Gesellschaft jener Tage widerspiegelte. So diffamierte ein der - mit Nazideutschland verbündeten - Vichyregierung treu ergebener Rezensent den Roman als Literatur der Willensschwäche und Verantwortungslosigkeit, und tatsächlich ist ja auch das Verhalten der zentralen Handlungsfigur Meursault von provozierender Gleichgültigkeit gegenüber aller Welt geprägt, einer Gleichgültigkeit, welche die von einer desaströsen Kriegsniederlage gepeinigten Franzosen entspannen half und dem jungen Romancier aus der französischen Kolonie Algerien einen Überraschungserfolg bescherte.

Die Handlung von "L'Etranger" ist von stoischer Gelassenheit geprägt und verbietet sich eine jede Aufgeregtheit. Ja! Jegliche Aufgeregtheit verbietet sich zwingend, widerspiegelt der Roman doch jene zärtliche Gleichgültigkeit einer materiell verdichteten Welt, die mit dem Menschen in ihr nichts zu schaffen hat. Gott ist tot? Ach, diese Frage ist unbedeutend. Für Meursault gibt es nur eine einzige Gewissheit, an die er sich hält: Die Existenz der Welt. Eine Welthaftigkeit ohne Sinn noch Zweck, welche in ihrer blanken Nacktheit einfach nur existiert. Inmitten ihrer lebt arm und einsam Meursault, so ziel- und zwecklos in all seinem Gebaren wie das Dasein, dessen Leere sein Geist atmet. Ein Held des Absurden, der für sich die metaphysische Zwecklosigkeit allen menschlichen Strebens erkannt hat und doch - darin begründet sich sein Heroismus - wider bessere Erkenntnis am Leben bleibt, gegen die nichtende Wirkkraft des allgegenwärtigen Nichts revoltiert. Sittenordnung, Bräuche, Leidenschaften und all die Symbole menschlicher Sinnbestimmungen, der ganze metaphysische Überbau, welcher seine Mitmenschen in geschäftiger Bewegung hält, sind für Meursault ohne Belang. Die sinnstrukturierte Wirklichkeit der Alltagswelt ist nichts als Schein und Trug, gesellschaftliche Konstruktion, um nicht begreifen zu müssen, was einfach nur ist - ohne jeden Sinngehalt einfach nur ist. In diesem Geflecht menschlicher Sinnkonstruktionen bewegt sich Meursault wie ein Fremder, der mangels innerer Anteilnahme gleichzeitig anwesend wie abwesend ist. All sein Tun und Unterlassen ist verwurzelt in tief empfundener Gleichgültigkeit gegenüber dem Diesseitigen, ohne dass es für ihn den Glauben an ein Jenseitiges geben würde.

Unglückliche Umstände verstricken den unauffällig lebenden Sonderling in einen Ritualmord im Zeichen der Sonne (die Sonne lehrte Camus seine Sterblichkeit), infolge dessen sich ein Gerichtsverfahren gegen seine Person zu einer allzumenschlichen Anklage gegen die Anmaßung seiner als Unmenschlichkeit empfundenen metaphysischen Weltfremdheit entfaltet. Der Tatbestand des Mordes an einem Araber wird seinen Mitmenschen zum Vorwand für eine moralische Hinrichtung des Täters, der es wagt zu bekunden nicht zu wissen, was Sünde ist und zur allgemeinen Empörung seine Tat, nicht jedoch seine Schuld eingesteht: "Ich stand auf, und da ich Lust zum Sprechen hatte, sagte ich, übrigens ganz unvorbereitet, ich hätte nicht die Absicht gehabt, den Araber zu töten ... Ich antwortete hastig ... Die Schuld an allem hätte die Sonne." Für dieses Geständnis erntet Meursault unverständiges Hohngelächter. Eine Sonnentragödie tut sich mit diesen Worten kund, die nur verstehen kann, wer wie Camus ein sinnlich empfindendes Kind jener sonnendurchfluteten algerischen Küstenlandschaft ist, die schon den Knaben lehrte: "Mein ganzes Reich ist von dieser Welt."

Albert Camus, der oft - zu Unrecht - gemeinsam mit Jean Paul Sartre in einem Atemzug als Hauptvertreter des Existenzialismus genannt wird, war tatsächlich eben alles Andere als ein Existenzialist. So wie Sartre war auch Camus antichristlich und von einem gottlosen Dasein überzeugt. Gott existiert nicht, und doch muss der Mensch leben, ja sich zum Leben in einer unvernünftigen Welt bekennen. "Es geht darum, unversöhnt, nicht mit vollem Einverständnis zu sterben. Der Selbstmord ist ein Verkennen. Der absurde Mensch kann nur alles ausschöpfen und sich selber erschöpfen", schreibt Camus und propagiert den intellektuellen Helden, welcher in seinem sinnlosen Treiben alle Sinnerfüllung findet, sich in einer metaphysischen Revolte gegen seine Conditio humana und gegen die ganze Schöpfung aufbringt ("L'Homme Révolté" / "Der Mensch in der Revolte"). Eine heroische Lebensauffassung, die den Menschen aus sich heraus begründet und dazu auffordert, das Absurde zum Leben zu bringen. Während bei Sartre der Mensch im Schöpfungsakt des Selbstentwurfs sich seine (allemal noch zum Scheitern verurteilte) hinfällige Identität erschafft, liegt in Camus' Philosophie des Absurden der Schwerpunkt im Widerstand gegen die Dichte und Seltsamkeit einer Welt, in der es Sünde ohne Gott gibt. Camus bezeichnet das Absurde als etwas Wesentliches, das als seine erste Wahrheit gelten kann.
Der Unterschied zwischen der Existenzphilosophie Sartres und der Philosophie des Absurden von Camus verdeutlicht sich am entschiedensten am Beispiel des Mordes. In der Darstellung Sartres ist auch der Mord ein Akt der Freiheit, zu dem sich das Individuum zwecks Selbstverwirklichung entschließt. Wenn Orest gegen Ende des zweiten Aktes in dem Drama "Die Fliegen" seine leibliche Mutter, Klytämnestra, und deren Liebhaber, Ägist, tötet, so lädt er Schuld auf sich um frei zu sein. Ganz anders hingegen der Tötungsakt des Meursault in Camus' "Der Fremde": Der Mord erfolgt ohne jede Zwecksetzung, ist ein bloßes Produkt zufälliger Umstände, konstituiert keinerlei Freiheit oder Selbstverwirklichung. Am Besten erklärt sich diese Schlüsselszene aus "L'Etranger" am sonnenflirrenden Strand mit Camus' eigenen Worten: "Da geriet alles ins Wanken. Vom Meer kam ein starker, glühender Hauch. Mir war, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzen Weite, um Feuer regnen zu lassen. Ich war ganz und gar angespannt, und meine Hand umkrallte den Revolver. Der Hahn löste sich, ich berührte den Kolben, und mit hartem, betäubenden Krachen nahm alles seinen Anfang. Ich schüttelte Schweiß und Sonne ab. Ich begriff, dass ich das Gleichgewicht des Tages, das ungewöhnliche Schweigen eines Strandes zerstört hatte, an dem ich glücklich gewesen war. Dann schoss ich noch viermal auf einen leblosen Körper, in den die Kugeln eindrangen, ohne dass man es sah. Und es waren gleichsam vier kurze Schläge an das Tor des Unheils." - Schuld an allem hatte die Sonne. Ist noch ein skeptischeres Freiheitsverständnis denkbar? Nein! Die Revolte gegen die alles vernichtende Wirkkraft des Absurden entfließt bei Camus nicht einem heroischen Freiheitsbegriff, sondern aus sinnlicher Berauschung: "Hier verstehe ich, was man Herrlichkeit nennt: das Recht, ohne Maß zu lieben. Es gibt nur eine einzige Liebe auf dieser Welt. Wenn man den Körper einer Frau umarmt, umfängt man zugleich jene seltsame Freude, die vom Himmel zum Meer herabsteigt. Wenn ich mich gleich in die Wermutssträucher werfen werde, um meinen Körper von ihrem Duft durchdringen zu lassen, werde ich wissen, dass ich allen Vorurteilen zum Trotz eine Wahrheit vollbringe, die die Wahrheit der Sonne ist und auch die Wahrheit meines Todes sein wird. ... Ich liebe dieses Leben hingebungsvoll und will frei davon sprechen: es schenkt mir den Stolz meines Menschseins. Dabei ist mir oft gesagt worden: es besteht kein Grund, stolz zu sein. Doch, es besteht ein Grund: diese Sonne, dieses Meer, mein von Jugend überquellendes Herz, mein nach Salz schmeckender Körper und die Unendlichkeit der Landschaft, wo Zärtlichkeit und Herrlichkeit sich im Gelb und Blau begegnen. Dies zu erobern, muss ich meine Kraft und meine Fähigkeiten einsetzen." (aus dem Essay: "Hochzeit des Lichts".)
Und diese - gewiss amoralische - ästhetisierende Liebe zum sinnlich empfundenen Leben war es dann wohl auch, die Camus dazu bewog, in einer Welt ewigen Todes ein Bekenntnis zu diesem Leben abzugeben, wie es auch sein literarisches Geschöpf Meursault, angesichts seiner bevorstehenden Hinrichtung, gegenüber einem Priester als seine Lebensbeichte ablegt.

(Torquato Tasso)


Albert Camus: "Der Fremde"
Rowohlt. 142 Seiten.
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