(...) "Wie kann das Nichts sich auf den Wecker gehen?"
"Mit dem Erwachen tauchst du aus dem Nirgendwo. Alles übrige genauso. Der wahre Tod ist, wenn an die Stelle des normalen Morgenrituals etwas anderes tritt, an das auch nur zu denken ganz unmöglich ist. Wir haben dafür kein Instrument, unser Geist und die Welt sind ja eins."

Tatarski suchte dahinterzukommen, was das heißen sollte, und bemerkte bei dieser Gelegenheit, daß das Denken schwieriger zu werden begann, anscheinend sogar gefährlich - seine Gedanken hatten so viel Freiheit und Kraft getankt, daß er sie nicht mehr unter Kontrolle hatte. Was er hätte antworten wollen, stand augenblicklich als dreidimensionale geometrische Figur vor ihm. Tatarski sah seinen Geist: eine grellweiße Kugel. sonnenartig, dabei absolut ruhig und unbeweglich. Aus der Kugelmitte nach außen verliefen einige dunkle Zwirnsfäden. Das mußten seine fünf Sinne sein. Der etwas stärkerer Faden war das Sehen, ein etwas dünnerer das Hören - die übrigen waren so hauchdünn, daß man sie kaum sah. Um diese feststehenden Fäden wand sich und tanzte eine Spirale, dem Wendel einer Glühlampe ähnlich; hin und wieder verschmolz sie für einen Augenblick mit einem der Fäden, dann wieder rollte sie sich ein, so daß ein Lichtfleck entstand - wie der, den eine schnell rotierende Zigarette in der Dunkelheit hinterläßt. Dies war der Gedanke, mit dem der Geist sich gerade abgab.
Es gibt also gar keinen Tod, dachte Tatarski erfreut. Weil nämlich, wenn die Fäden verschwinden, die Kugel trotzdem bleibt.
Daß es ihm gelungen war, die Antwort auf eine die Menschheit seit Jahrtausenden bewegende Frage in so schlichter und jedermann verständlicher Form zu formulieren, machte ihn glücklich. Er wollte Girejew in seine Eingebung einweihen, faßte ihn bei der Schulter und versuchte, den letzten Satz laut zu sagen. Doch sein Mund sagte etwas anderes, Sinnloses - die nötigen Laute waren vorhanden, doch chaotisch durcheinandergeworfen. Vielleicht muß ich ein bißchen Wasser trinken! dachte er - und sagte zu Girejew, der ihn erschrocken ansah:
"Ich bisse trink was gernchen würder einen!"
Girejew begriff offenbar nicht, was los war. Klar war nur, daß es ihm nicht behagte.
"Biß wadde trich giss eichen tschincher würsen!" wiederholte Tatarski fromm seinen Wunsch und versuchte ein Lächeln.
Er hätte es gern gesehen, wenn Girejew zurückgelächelt hätte. Doch der benahm sich eigenartig - er sprang auf, wich zurück, und Tatarski wußte nun, was der Ausdruck "auf seinem Gesicht malte sich Entsetzen" bedeutet. Dieses Entsetzen war überdeutlich. Girejew trat ein paar vorsichtige Schritte rückwärts, drehte auf dem Absatz um und rannte davon. Das kränkte Tatarski tief.
Währenddessen hatt es zu dämmern begonnen. Girejews Nepal-Weste, die aus dem blauen Dunst zwischen den Bäumen hervorleuchtete, ließ an einen großen Schmetterling denken. Ihn zu jagen war Tatarski ein verlockender Gedanke. Er stürmte Girejew hinterdrein, in großen, hohen Sätzen, um nicht über irgendeinen Wurzelstock oder Erdhubbel zu stolpern. Bald zeigte sich, daß er sehr viel schneller war als Girejew - einfach unvergleichlich schneller. Als er ihn einige Male überrundet hatte, bekam er mit, daß es sich nicht um Girejew, sondern um einen dürren, abgebrochenen Baumstamm in Menschengröße handelte. Das ernüchterte Tatarski einigermaßen, und er trudelte einen Pfad entlang in die Richtung, wo seiner Ansicht nach die Bahnstation liegen mußte.
Unterwegs nahm er noch einige Fliegenpilze zu sich, die hinter den Bäumen hervorlugten, und stieß alsbald auf einen breiten Hohlweg, zu dessen einer Seite ein Drahtzaun verlief.
Ein Passant kam ihm entgegen. Tatarski lief zu ihm hin und fragte höflich:
"Kiteen sir bar mönne siegen, zieh stich kar unbution womme? Zar ussbeen?!"
Der Fremde guckte Tatarski an, schwankte zur Seite und sah zu, daß er fortkam. Anscheinend reagierten heute alle gleich auf ihn. Tatarski fiel sein vormaliger tschetschenischer Arbeitgeber ein, und er dachte fröhlich: Jetzt müßte Hussein auftauchen! Ob der wohl auch so einen Schreck kriegte?
Als gleich darauf Hussein am Wegrand stand, war es Tatarski, der erschrak. Hussein stand schweigend im Gras und übersah den näher kommenden Tatarski geflissentlich. Der hingegen verlangsamte seinen Schritt, ging brav wie ein Kind hinüber und baute sich schuldbewußt vor Hussein auf.
"Ist was?" fragte Hussein.
Vor Schreck achtete Tatarski nicht darauf, ob er die Worte nun wieder richtig herausbrachte oder nicht. Was er sagte, war jedenfalls völlig unpassend:
"Nur eine Frage. Mich würde interessieren, welche Assoziationen bei dir als Repräsentant der Zielgruppe das Wort Parlament hervorruft."
Hussein zeigte keine Verwunderung. Er überlegte kurz, dann sagte er:
"Da gab es so ein Gedicht von al-Ghazzali. Das Parlament der Vögel. Da ging es darum, daß dreißig Vögel sich aufmachen, den Simurgh zu suchen. Den König aller Vögel und großen Meister."
"Wozu brauchten die einen König, wenn sie ein Paralament hatten?"
"Das mußt du sie selber fragen. Außerdem war Simurgh nicht bloß König, sondern kostbare Wissensquelle. Was man vom Parlament nicht behaupten kann."
"Und wie hat es geendet?" fragte Tatarski.
"Nachdem dreißig Prüfungen bestanden waren, erfuhren sie, daß das Wort Simurgh nichts anderes als 'dreißig Vögel' bedeutet."
"Von wem?"
"Gottes Stimme hat es ihnen gesagt."
Tatarski nieste. Hussein verstummte augenblicklich, sein Gesicht verfinsterte sich, er wandte sich ab. Eine ganze Weile wartete Tatarski auf die Fortsetzung, bis ihm auffiel, daß Hussein ein Mast war (...)


(aus "Generation P" von Viktor Pelewin;
Verlag Volk &Welt)