Die verheerende Wirkung des Schwarzen Todes

Auch wenn man heute die Auswirkungen des Schwarzen Todes auf Europa nicht mehr als ganz so dramatisch darstellt wie früher, lassen sich seine schwerwiegenden demographischen Folgen kaum bestreiten. In ihrer ersten furchtbaren Phase von 1347 bis 1351 wütete die Beulenpest durch ganz Europa - von Marseille aus durch Frankreich, Italien, England, die Niederlande, Deutschland und Russland - und tötete ein Drittel der europäischen Bevölkerung von etwa 75 bis 80 Millionen Menschen. Erst Ende des sechzehnten Jahrhunderts sollte die Bevölkerungszahl wieder das gleiche Niveau wie vor der Pest erreichen. Es ist daher verständlich, wenn Historiker die Zeit nach der Pest im fünfzehnten Jahrhundert gerne als Epoche der demographischen Krise bezeichnen. Die Probleme beginnen jedoch dort, wo wir die wirtschaftlichen und sozialen Folgen des jähen Rückgangs der Land- wie der Stadtbevölkerung benennen sollen. Selbst die Auswirkungen auf die Mentalität, wie sie sich in der ars moriendi und im Totentanz ausdrücken, sind angesichts der Forschungsergebnisse von Jan de Vries, wonach "die Sterberate in einer Zeit zunahm, als die Beulenpest im Begriff war, ganz aus Europa zu verschwinden", nicht mehr selbstverständlich. Die neuere Forschung interessiert sich eher für die Art und Weise der Erholung und konzentriert sich entsprechend nicht mehr so sehr auf Untergang und Stagnation, sondern auf die Wiedererstarkung Europas durch ein innovatives Krisenmanagement. Mit den Worten Bartholomé Yuns: "Aus der Sicht der übrigen Welt markierte diese Epoche die Geburt Europas." Wir stehen vor einem ganzen Geflecht von Faktoren mit überaus unterschiedlichen regionalen Spielarten, die von geschichtlichen Zufällen wie Staatenbildung und Krieg bestimmt wurden.

Bedenkt man unseren ersten Zusammenhang, die intellektuelle Atmosphäre des fünfzehnten Jahrhunderts, erweist sich ein näherer Blick auf eine neuere Studie zur europäischen Pestepidemie von David Herlihy als hilfreich. Der Verfasser beschäftigt sich nacheinander mit der medizinischen Dimension, mit dem neuen wirtschaftlichen und demographischen System, das die "malthusianische Sackgasse" durchbrach, und schließlich - für uns entscheidend - mit den neuen Formen des Denkens und Empfindens. Während man die medizinische Geschichte des Schwarzen Todes heute vielleicht anders nuancieren würde, hat die Schlussfolgerung des zweiten Teils, welche eine besser entfaltete Wirtschaft, einen intensivierten Einsatz von Kapital, eine verfeinerte Technologie und einen höheren Lebensstandard als hervorstechende Kennzeichen der Erholung nach der Pest ausmacht, nach wie vor Bestand. Probleme ergeben sich jedoch, wenn man diese neuen Erkenntnisse der alten Vorstellung Gilsons vom Spätmittelalter als einer Sackgasse aufpfropft. Herlihy beschwört ein von Thomas von Aquin angeregtes Zerrbild des spätmittelalterlichen Nominalismus, um die Entstehung einer neuen Mentalität zu erklären: "Der menschliche Intellekt besaß nicht die Macht, zu den metaphysischen Strukturen des Universums vorzudringen. Ich kann nichts anderes tun, als die dahinfließenden Ereignisse zu beobachten. Zudem würde die Allmacht Gottes in letzter Konsequenz bedeuten, dass es keine festgelegte natürliche Ordnung geben kann. Gott könnte alles verändern, wie und wann er wollte. Die Nominalisten schauten auf ein von willkürlichen Bewegungen beherrschtes Universum. Aquins erhabenes Gefühl der Ordnung war mit der Erfahrung der Pest, ihrem unvorhersehbaren Auftauchen und Verlauf, ihren unbekannten Ursprüngen und ihrer zerstörerischen Wirkung nur schwer in Einklang zu bringen. Die nominalistische Argumentation stimmte mit den Erfahrungen der Unordnung des spätmittelalterlichen Lebens überein."
Während wir David Herlihy auf Grund seiner bahnbrechenden Beiträge zur mittelalterlichen Familiengeschichte und - in diesem Fall - wegen des allzu seltenen Bemühens, das Zusammenspiel von Geistes- und Sozialgeschichte darzustellen, mit Respekt und Dankbarkeit in Erinnerung behalten, mag seine Bewunderung für Thomas von Aquin als "diesen großen Dominikaner" mit seinem "erhabenen Gefühl der Ordnung" erklären, weshalb ein so außerordentlich kritischer Forscher unkritisch Annahmen der Vergangenheit wiederholt, die sich in den letzten dreißig Jahren als zu einseitig erwiesen haben. Dennoch kann man Herlihys Schlussfolgerung ohne weiteres akzeptieren: "Die nominalistische Argumentation stimmte mit den Erfahrungen der Unordnung des spätmittelalterlichen Lebens überein." Die Erfahrung der Pest ist einer der Faktoren, die zum Verständnis des Aufstiegs des Nominalismus im fünfzehnten Jahrhundert, seiner Neuerungen im gesamten Bereich von der Theologie bis zur Naturwissenschaft sowie zum Verständnis seines erfolgreichen Vordringens in die Schulen undUniversitäten beitragen, wo er sich schließlich als "via moderna" etablierte. Was konservativen Thomisten jener Zeit als Bedrohung der Hierarchie zwischen Himmel und Erde erschien, war in Wirklichkeit eine Suche nach Ordnung mittels einer Grenzziehung zwischen den eigenständigen Bereichen von Glaube und Vernunft. Im Bereich des Glaubens gestattete die epochale Wendung vom Gott als Sein zum Gott als Person ein neues Verständnis der kirchlichen Quellen in Schrift und Tradition, im Sinne eines Zeugnisses für den persönlichen Gott des Bundes. Gleichzeitig konnte im Bereich der Vernunft, sobald die Physik von ihrer Zähmung durch die Metaphysik und der spekulativen Verbindung von Aristoteles und der Heiligen Schrift befreit war, die neue Suche nach den Naturgesetzen beginnen. In jeder Darstellung der Transformation des Westens bestätigte die entscheidende Metamorphose der todsündhaften Neugierde zur "bona curiositas" der Nominalisten die Erforschung der realen Welt; ihr kommt daher unter den Faktoren, welche die "Geburt Europas" erklären, ein hoher Stellenwert zu.

Nicht einmal in der "Cambridge History of Late Medieval Philosophy" hätte Herlihy von den neuen Erkenntnissen erfahren können, da dieses maßgebliche Werk nur gelegentlich auf das fünfzehnte Jahrhundert zu sprechen kommt. Obwohl John Emery Murdoch den Horizont der Wissenschaftsgeschichte erweitert und William Courtenay die Vorläufer der Philosophie des vierzehnten Jahrhunderts aufgespürt hat, hat noch niemand eine umfassende Studie über die Begegnung von Physik und Metaphysik im fünfzehnten Jahrhundert in Angriff genommen. Nur in ihrem abschließenden Abschnitt über "die Niederlage, Vernachlässigung und Wiederbelebung der Scholastik" behandelt die "Cambridge History" das fünfzehnte Jahrhundert, während dieser Zeitraum in den wichtigeren Kapiteln über "Glück" und "Gewissen" ignoriert wird. Dieser einseitige, altmodische Umgang mit der logischen Dimension des Nominalismus kann uns nicht dabei helfen, einen typischen Nominalisten wie Wessel Gansfort zu verstehen, der seine Abwendung von Thomas von Aquin und Duns Scotus hin zur "via moderna" als Bekehrung und als Schlüssel zu einem unerforschten intellektuellen Territorium deutete, das ihm den Weg zu einer neuen, streitbaren Interpretation des Christentums eröffnete. Obwohl er im exklusiven Diskurs der akademischen Disputationen entwickelt wurde und in der schwerfälligen Sprache der terministischen Logik daherkam, erwies sich der grundlegende Fortschritt bei der Veränderung der Begriffe in der jahrhundertealten Debatte über die "universalia" als radikale Wendung von der deduktiven zur induktiven Methode. Dies legitimierte eine neue, von übernatürlichen Prämissen unbeeinträchtigte Suche nach den Naturgesetzen. Während die vielen "incurati", die sich der Sache anschlossen, sicherstellten, dass die Theologie dem "itinerarium mentis ad Deum" diente, erhielt der Bereich der "artes" die Möglichkeit, das "itinerarium mentis ad mundum" zu verfolgen. Es ist wohl kein Zufall, dass in der Bibliothek des Nikolaus Kopernikus Bücher von Pierre d'Ailly, einem der Meister der "via moderna", gefunden wurden, die in der Tradition von Jean Buridan und Nicole Oresme stehen. Recht verstanden - als kreativer Standpunkt, von dem aus lange vertretene, aber nicht mehr zu haltende Prämissen neu bewertet werden konnten - war der vom Nominalismus geförderte neue kritische Geist Teil der intellektuellen Neuorientierung des "langen fünfzehnten Jahrhunderts". Ob und in welchem Ausmaß er einen Faktor im Streben nach Wohlstand und Wissen, das die treibende Kraft während des Zeitalters der Entdeckungen darstellte, ist für Historiker schwer zu beantworten. Dies scheint im Krisenmanagement des Schwarzen Todes nicht erkennbar zu sein. Nicht nur die Sterne ließen sich jedoch seither gleichsam mit neuen Augen sehen, sondern der gesamte Bereich der menschlichen Gesellschaft und Natur.


(Aus "Zwei Reformationen. Luther und Calvin. 
Alte und Neue Welt
" von Heiko A. Oberman,
Originaltitel "Two Reformations: Essays on the Journey 
from the Last Days to the New World"
Aus dem Englischen von Christian Wiese.)

Zu den Gründungsmythen des deutschen Protestantismus gehört die Stilisierung Martin Luthers als ersten Protestanten und deutschen Propheten, dessen Protest gegen die "babylonische Gefangenschaft der Kirche" zur wundersamen Befreiung von der päpstlichen Tyrannei und zum Ausbruch aus dem finsteren Zeitalter des Mittelalters führte. Obermans Essays widerlegen hingegen in streitbarer Auseinandersetzung die These, Martin Luther habe als einsame, revolutionäre Gestalt - gegen seine Zeit - die Moderne eingeläutet. Stattdessen interpretiert er den "reformatorischen Durchbruch" Martin Luthers im Zusammenhang der vielfältigen intellektuellen Strömungen und Frömmigkeitsbewegungen einer vitalen spätmittelalterlichen christlichen Gesellschaft, die bereits eine Vielzahl reformerischer Kräfte in sich barg. Und er führt dem Leser zudem die überraschende Tatsache vor Augen, dass Luther - trotz seiner theologischen Neuansätze und seiner Entfremdung von der mönchischen Lebensweise - tief im spätmittelalterlichen Weltbild mitsamt seinen antisemitischen Elementen und seinen apokalyptischen Endzeiterwartungen verhaftet blieb.
Vor diesem Hintergrund entfaltet der Autor seine spannende Unterscheidung zwischen der von Wittenberg ausgehenden "ersten Reformation", die für die deutschen Territorialstaaten prägend wurde, und der "zweiten Reformation" des humanistisch inspirierten Protestantismus, die von den protestantischen Flüchtlingen in den freien Städten ausging und eine völlig andere Zukunftsvision vertrat als Luther. Vor allem bei Calvin, dessen Biografie und Denken im zweiten Teil des Buches eingehend interpretiert werden, findet sich statt des Endzeitbewusstseins die Vision eines kulturell und sozial erneuerten Europa, die Oberman als den eigentlichen Beitrag des Protestantismus zur Moderne versteht.
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