(....) Leuwenhoek brachte die Tafel auf das einer Staffelei ähnliche Gestell, welches er aus einem Winkel in die Mitte des Zimmers hervorgerückt hatte. Beide, Leuwenhoek und Peregrinus, setzten sich vor die Tafel hin und betrachteten sie stillschweigend. »Ihr ahnet«, begann endlich Leuwenhoek mit einiger Feierlichkeit, »Ihr ahnet vielleicht nicht, Peregrinus Tyß, daß jene Züge, jene Zeichen auf der Tafel, die Ihr so aufmerksam betrachtet, Euer eignes Horoskop sind, das ich mit geheimnisvoller astrologischer Kunst, unter günstigem Einfluß der Gestirne, entworfen. - ›Wie kommt Ihr zu solcher Anmaßung, wie mögt Ihr eindringen in die Verschlingungen meines Lebens, wie mein Geschick enthüllen wollen?‹ So könnet Ihr mich fragen, Peregrinus, und hättet vollkommenes Recht dazu, wenn ich Euch nicht sogleich meinen innern Beruf dazu nachzuweisen imstande wäre. Ich weiß nicht, ob Ihr vielleicht den berühmten Rabbi Isaac Ben Harravad gekannt, oder wenigstens von ihm gehört habt. Unter andern tiefen Kenntnissen besaß Rabbi Harravad die seltene Gabe, den Menschen es am Gesicht anzusehen, ob ihre Seele schon früher einen andern Körper bewohnt oder ob solche für gänzlich frisch und neu zu achten. Ich war noch sehr jung, als der alte Rabbi starb an einer Unverdaulichkeit, die er sich durch ein schmackhaftes Knoblauchgericht zugezogen. Die Juden liefen mit der Leiche so schnell von dannen, daß der Selige nicht Zeit hatte, alle seine Kenntnisse und Gaben, die die Krankheit auseinandergestreut, zusammenzuraffen und mitzunehmen. Lachende Erben teilten sich darin, ich aber hatte jene wunderbare Sehergabe in dem Augenblick weggefischt, als sie auf der Spitze des Schwerts schwebte, das der Todesengel auf die Brust des alten Rabbi setzte. So ist aber jene wunderbare Gabe auf mich übergegangen, und auch ich erschaue, wie Rabbi Issac Ben Harravad, aus dem Gesicht des Menschen, ob seine Seele schon einen andern Körper bewohnt hat oder nicht. Euer Antlitz, Peregrinus Tyß, erregte mir, als ich es zum ersten Male sah, die seltsamsten Bedenken und Zweifel. Gewiß wurde mir die lange Vorexistenz Eurer Seele, und doch blieb jede Euerm jetzigen Leben vorausgegangene Gestaltung völlig dunkel. Ich mußte meine Zuflucht zu den Gestirnen nehmen und Euer Horoskop stellen, um das Geheimnis zu lösen.«
»Und«, unterbrach Peregrinus den Flohbändiger, »und habt Ihr etwas herausgebracht, Herr Leuwenhoek?«
»Allerdings«, erwiderte Leuwenhoek, indem er noch einen feierlicheren Ton annahm, »allerdings! Ich habe erkannt, daß das psychische Prinzip, welches jetzt den angenehmeren Körper meines werten Freundes, des Herrn Peregrinus Tyß, belebt, schon lange vorher existierte, wiewohl nur als Gedanke ohne Bewußtsein der Gestaltung. Schaut hin, Herr Peregrinus, betrachtet aufmerksam den roten Punkt in der Mitte der Tafel. Das seid Ihr nicht allein selbst, sondern der Punkt ist auch die Gestalt, deren sich Euer psychisches Prinzip einst nicht bewußt werden konnte. Als strahlender Karfunkel lagt Ihr damals im tiefen Schacht der Erde, aber über Euch hingestreckt, auf die grüne Fläche des Bodens, schlummerte die holde Gamaheh, und nur in jener Bewußtlosigkeit zerrann auch ihre Gestalt. Seltsame Linien, fremde Konstellationen durchschneiden nun Euer Leben von dem Zeitpunkt an, als der Gedanke sich gestaltete und zum Herrn Peregrinus Tyß wurde. Ihr seid im Besitz eines Talismans, ohne es zu wissen. Dieser Talisman ist eben der rote Karfunkei; es kann sein, daß der König Sekakis ihn als Edelstein in der Krone trug oder daß er gewissermaßen selbst der Karfunkel war; genug - Ihr besitzt ihn jetzt, aber ein gewisses Ereignis muß hinzutreten, wenn seine schlummernde Kaft erweckt werden soll, und mit diesem Erwachen der Kraft Eures Talismans entscheidet sich das Schicksal einer Unglücklichen, die bis jetzt zwischen Furcht und schwankender Hoffnung ein mühseliges Scheinleben geführt hat. -Ach! nur ein Scheinleben konnte die süße Gamaheh durch die tiefste magische Kunst gewinnen, da der wirkende Talisman uns geraubt war! Ihr allein habt sie getötet, Ihr allein könnet ihr Leben einhauchen, wenn der Karfunkel aufgeglüht ist in Eurer Brust!«
»Und«, unterbrach Peregrinus den Flohbändiger aufs neue, »und jenes Ereignis, wodurch die Kraft des Talismans geweckt werden soll, wißt Ihr mir das zu deuten, Herr Leuwenhoek?«
Der Flohbändiger glotzte den Peregrinus an mit weit aufgerissenen Augen, und sah gerade so aus wie einer, den plötzlich große Verlegenheit überrascht und der nicht weiß, was er sagen soll. Die Gedanken lauteten: »Wetter, wie ist es gekommen, daß ich viel mehr gesagt habe, als ich eigentlich sagen wollte? Hätte ich wenigstens nicht von dem Talisman das Maul halten sollen, den der unglückselige Schlingel im Leibe trägt, und der ihm so viel Macht geben kann über uns, daß wir alle nach seiner Pfeife tanzen müssen? - Und nun soll ich ihm das Ereignis sagen, von dem das Erwachen der Kraft seines Talismans abhängt! - Darf ich ihm denn gestehen, daß ich es selbst nicht weiß, daß alle meine Kunst daran scheitert, den Knoten zu lösen, in den sich alle meine Linien verschlingen, ja, daß, wenn ich dieses siderische Hauptzeichen des Horoskops betrachte, es mir ganz jämmerlich zumute wird, und mein ehrwürdiges Haupt mir selbst vorkommt wie ein bunt bemalter Haubenstock, aus schnöder Pappe gefertigt? - Fern sei von mir solch ein Geständnis, das mich ja herabwürdigen und ihm Waffen gegen mich in die Hände geben würde. Ich will dem Pinsel, der sich so klug dünkt, etwas aufheften, das ihm durch alle Glieder fahren und ihm alle Lust benehmen soll, weiter in mich zu dringen.« -
»Allerliebster«, sprach nun der Flohbändiger, indem er ein sehr bedenkliches Gesicht zog, »allerliebster Herr Tyß, verlangt nicht, daß ich von diesem Ereignis sprechen soll. Ihr wißt, daß das Horoskop uns zwar über das Eintreten gewisser Umstände klar und vollständig belehrt, daß aber, so will es die Weisheit der ewigen Macht, der Ausgang bedrohlicher Gefahr stets dunkel bleibt und hierüber nur zweifelhafte Deutungen möglich und zulässig sind. Viel zu lieb hab' ich Euch als einen guten vortrefflichen Herzensmann, bester Herr Tyß, um Euch vor der Zeit in Unruhe und Angst zu setzen; sonst würde ich Euch wenigstens so viel sagen, daß das Ereignis, welches Euch das Bewußtsein Eurer Macht geben dürfte, auch in demselben Augenblick die jetzige Gestaltung Eures Seins unter den entsetzlichsten Qualen der Hölle zerstören könnte. - Doch nein! - Auch das will ich Euch verschweigen, und nun kein Wort weiter von dem Horoskop. Ängstigt Euch nur ja nicht, bester Herr Tyß, unerachtet die Sache sehr schlimm steht und ich, nach aller meiner Wissenschaft, kaum einen guten Ausgang des Abenteuers herausdeuten kann. Vielleicht rettet Euch doch eine ganz unvermutete Konstellation, die noch jetzt außer dem Bereich der Beobachtung liegt, aus der bösen Gefahr.« -
Peregrinus erstaunte über Leuwenhoeks tückische Falschheit, indessen kam ihm die ganze Lage der Sache, die Stellung, in der Leuwenhoek, ohne es zu wissen, zu ahnen, ihm gegenüberstand, so ungemein ergötzlich vor, daß er sich nicht enthalten konnte, in ein schallendes Gelächter auszubrechen.
»Worüber«, fragt der Flohbändiger etwas betreten, »worüber lacht Ihr so sehr, mein wertester Herr Tyß?«
»Ihr tut«, erwiderte Peregrinus, noch immer lachend, »Ihr tut sehr klug, Herr Leuwenhoek, daß Ihr mir das bedrohliche Ereignis aus purer Schonung verschweigt. Denn außerdem, daß Ihr viel zu sehr mein Freund seid, um mich in Angst und Schrecken zu setzen, so habt Ihr noch einen andern triftigen Grund dazu, der in nichts anderem besteht, als daß Ihr selbst nicht das mindeste von jenem Ereignisse wißt. Vergebens blieb ja all Euer Mühen, jenen verschlungenen Knoten zu lösen; mit Eurer ganzen Astrologie ist es ja nicht weit her; und wäre Euch Meister Floh nicht ohnmächtig auf die Nase gefallen, so stünde es mit all Euren Künsten herzlich schlecht.« (....)


(aus dem "Meister Floh" von E.T.A. Hoffmann)