(...) Nikolai kam in einer nach sowjetischen Maßstäben wohlhabenden Professorenfamilie zur Welt. Der Vater hielt von morgens bis abends Vorlesungen, diagnostizierte und operierte. Auch die Mutter tat manch Barmherziges am Lehrstuhl für Bauchhöhlenchirurgie des 1. Medizinischen Instituts. Es war klar, dass das einzige Kind der Familie sich ebenfalls auf diesem Gebiet betätigen würde. Doch die edlen Absichten der wohlmeinenden Fortuna wurden durch ein böses Fatum zerstört. Eines schönen Tages entbrannte in den Mauern des Tempels der medizinischen Wissenschaft ein erbitterter Krieg der Lehrmeinungen, in dessen Folge Nikolais Vater von den vordersten Positionen der nationalen Bauchhöhlenchirurgie verdrängt wurde. Der bereits betagte Professor erlitt einen Schlaganfall. Und verschied bald darauf.

Als Nikolai ein Jahr nach der Familientragödie selbst an das Medizinische Institut gehen sollte, fiel er durch die Aufnahmeprüfung. Im darauf folgenden Jahr passierte dasselbe. Schließlich, nachdem ihn die Mutter am Wehrdienst vorbeigeschmuggelt hatte, unternahm Nikolai einen dritten Versuch, die Familientradition fortzusetzen. Doch auch diesmal rächte sich der Wissenschaftsmob an dem Jungen für all die Jahre freiwilliger Kriecherei vor seinem Vater.

Ungerührt sagte Nikolai: "Leckt mich!" und begann sich staunend umzublicken. In Moskau pulsierte bereits ein ganz anderes, unbekanntes Leben. Mit neuen Zielen und Werten, völlig anderen Maßstäben und schwindelerregenden Möglichkeiten. Das hatte überhaupt nichts mehr zu tun mit den Perspektiven, die ihm der fehlgeschlagene Pfad der Medizin geboten hätte.

Schon bald ergab sich eine Gelegenheit, auf jenen Schnellzug aufzuspringen, der die Auserwählten nicht in eine lichte - wie man früher zu sagen pflegte -, sondern in eine glänzende Zukunft bringen würde. Zu Silvester 1988 rief Nikolai einen Schulfreund an, verbrachte das Neujahrsfest in einer recht bunten Gesellschaft und war schon bald mit von der Partie.

Der Plan war unfehlbar, denn er berücksichtigte sowohl die russische Mentalität als auch die Besonderheiten der historischen Situation. Diese Situation war solcherart, dass man dem russischen Volk, dem der Alkohol - vorsichtig ausgedrückt - ja nicht gerade gleichgültig ist, plötzlich per verwaltungsrechtlicher Zwangsmaßnahme den Nachschub stark gekürzt hatte. Ein Unbehagen gesamtstaatlichen Ausmaßes war entstanden, das die einfachen Leute durch Schwarzbrennerei bekämpften.

Jene jungen Leute, zu denen Nikolai gestoßen war, hatten bis Mitte des Sommers alle Höllenkreise der sowjetischen Bürokratie durchlaufen, um die Genossenschaft "Jagodka" mit der Lizenz für eine ziemlich breite Palette von Tätigkeiten anzumelden, ein Verrechnungskonto bei der "Strojbank" zu eröffnen, ein Darlehen aufzunehmen und dieses mit minimalen Verlusten in Bargeld umzuwandeln. Sodann erstanden sie einen Waggon mit billigem Wodka, den sie nach Karelien verbrachten. In Karelien machten sie eine Moosbeeren-Annahmestelle auf mit einem Tarif, den man sich sehr leicht merken konnte: eine Flasche Wodka für einen Eimer Moosbeeren - die Einwohner hielten das für eine Spinnerei irgendwelcher durchgedrehter Geldprotze.

Die vitaminreiche Sumpfbeere verkauften sie im benachbarten Finnland, hier jedoch zu einem ganz anderen Preis. Mit dem Erlös kauften sie gebrauchte Westautos, mit denen sie in der Heimat, wo die Menschen über den wirklichen Wert von Waren und Dienstleistungen noch nicht Bescheid wussten, fünfhundert Prozent Gewinn machten. Das Geschäft lief wie am Schnürchen und fand erst mit der völligen Erschöpfung der karelischen Moosbeerenbestände ein Ende.

Im Folgenden ersannen die erfolgreichen Unternehmer immer neue Projekte, die sie mit Glanz in die Tat umsetzten. Natürlich verstärkte das konservative russische Umfeld mit der Zeit den Widerstand gegen diese kühnen Vorhaben. Von einem bestimmten Augenblick an wünschten sowohl die Beamten als auch kriminelle Kreise, gesetzgebende Organe und - natürlich - der Staat, an der Aufteilung des kollektiven Kuchens beteiligt zu werden. Doch trotz aller Abgaben und Schmiergelder, wortbrüchiger Geschäftspartner und des unvorhersehbaren Schlingerkurses der Ministerien waren die geschäftstüchtigen jungen Leute schon bald aktiv an der Verteilung von fünf Prozent der gesamten Finanzströme im Exportbereich beteiligt.

Und nun, da die unerbittlichen Gesetze dynamischer Nachhaltigkeit von den Gesellschaftern verlangten, Personen des öffentlichen Lebens zu werden, die sich an der Politik und der sozialen Regulierung der Gesellschaft beteiligten, hatte Nikolai vor dem Aufbruch zu neuen Höhen zwar keine Angst, aber doch gewisse Bedenken. Die Aussicht auf neue, wesentlich höhere Gewinne reizte ihn nicht. Neue Arbeitsplätze zu schaffen, die einer ansehnlichen Zahl passiver Befehlsempfänger die Existenz sichern würden, auch nicht. Genauso wenig bewegte ihn die Mission eines jeden normalen Unternehmers, der tief in seinem Unbewussten die dumpfe Vorstellung hegt, je mehr er verdiene, desto besser gehe es der gesamten Gesellschaft. Nach dieser Theorie müsste das allgemeine Wachstum wirtschaftlicher Tätigkeit letztendlich zu einer deutlichen Verbesserung des sozialen Wohlstands aller Bürger führen, Spannungen in der Gesellschaft abbauen und im Falle einer Dollarknappheit möglicherweise aufflammende Unruhen bereits im Keim ersticken.
Schließlich siegte der ererbte professorale Egoismus in Nikolais Herzen über den Wunsch; zum Wohle des Vaterlands schöpferisch tätig zu werden. In nicht geringem Maße trugen dazu seine Ersparnisse bei, die es dem Aussteiger aus der Geschäftswelt ermöglichten, den Rest seines Lebens - das heißt den größten Teil davon - zu leben, ohne sich näher um das Verhältnis zwischen den Ausgaben und den Zinszuwächsen auf seinen Konten zu kümmern, die in den Banken verschiedenster Länder der Welt schlummerten. Doch der energische und durchaus noch junge Mann ging nicht etwa in Rente, um sich so die wohlverdiente Erholung zu verschaffen, sondern verschrieb sich einen Wechsel des Tätigkeitsfeldes. Nikolai musste in seinem Herzen nicht lange nachforschen, um auf unerfüllte Träume und unbefriedigte Ambitionen zu treffen. Einen Monat nach dem in solchen Fällen obligatorischen rauschenden Saufgelage ließ er in einem entfernten Winkel seines Landguts ein Krankenhaus errichten.
Parallel zu den Bauarbeiten lief die Anschaffung von medizinischem Gerät bei den besten Firmen der Welt, dessen Installation und - natürlich - das Studium von Lehrbüchern der praktischen Chirurgie. Um allen Formalitäten Genüge zu tun, kaufte sich Nikolai ein Diplom, das ihm den Abschluss einer entsprechenden Lehranstalt bescheinigte, und ließ sich eine Erlaubnis für die Einrichtung einer privaten Arztpraxis ausstellen.

Nach einem weiteren halben Jahr wurde das Personal eingestellt: ein Assistenzarzt, der gerade das vierte Studienjahr einer medizinischen Akademie absolvierte - ein aufgeweckter Bursche, der dringend Geld brauchte -, zwei OP Schwestern, zwei Stationsschwestern und drei einander abwechselnde Intensivpflegerinnen. Für die vier Einbettzimmer war das mehr als ausreichend. Groß waren die jugendliche Ungeduld und das Verlangen, diese spannende Aufgabe endlich anzugehen.

Und so kam schließlich der Tag, da drei Leibwächter feierlich den ersten Patienten in die steril blitzende Klinik brachten, dessen Organismus von einem gefährlichen Leiden befallen war und daher eines operativen Eingriffs bedurfte. Es war ein Penner vom Kursker Bahnhof, der sich nur sehr unwillig in die Hände der Medizin begeben hatte. Sogar physischen Widerstand hatte er geleistet. Als die wackeren Burschen vor seinem Nachtlager vorfuhren und ihn fragten: "Na, Alter, Lust auf eine kostenlose medizinische Behandlung?", war er zu Tode erschrocken. (...)


(Aus "Der Retter der Taiga. Geschichten von ungesühnten Verbrechen 
und verhängnisvollen Leidenschaften" von Wladimir Tutschkow.
Übersetzt von David Drevs.)