(...) An einem Abend im April wurde eine 32jährige Frau bewusstlos in das Krankenhaus einer Provinzstadt südlich von Kopenhagen gebracht. Sie hatte eine Schädelfraktur und innere Blutungen, schwere Verletzungen im Gesicht, und ihre Arme und Beine waren mehrfach gebrochen. Der Tankwart eines Dorfes nahe der Brücke über die Autobahn nach Kopenhagen hatte gesehen, wie ihr Auto die Ausfahrt der nach Süden führenden Fahrbahn hinunterfuhr und seinen Weg mit hoher Geschwindigkeit Richtung Norden fortsetzte. Es gelang den ersten drei entgegenkommenden Wagen, ihr auszuweichen, etwa zweihundert Meter nach der Ausfahrt stieß sie dann frontal mit einem Lastwagen zusammen.
Der holländische Fahrer wurde zur Beobachtung eingeliefert, aber am nächsten Tag wieder entlassen. Nach seiner Aussage begann er den Bremsvorgang bereits hundert Meter vor dem Zusammenstoß, hingegen hatte er den Eindruck, dass das näher kommende Auto das Tempo auf den letzten Metern sogar noch erhöhte. Der vordere Teil der Karosserie war vollkommen zusammengedrückt, ein Teil des Kühlers war zwischen Fahrbahn und Stoßstange des LKW eingeklemmt, und die Frau musste aus ihrem Wagen herausgeschnitten werden. Laut Rettungsmannschaft war es ein Wunder, dass sie überlebte.
Bei ihrer Ankunft im Krankenhaus hatte die Frau 1,7 Promille. Erst 24 Stunden nach Einlieferung war sie außer Lebensgefahr, aber ihr Zustand wurde weiterhin als kritisch bezeichnet. Ihre Augen waren so in Mitleidenschaft gezogen, dass sie das Augenlicht verloren hatte. Ihr Name war Lucca. Lucca Montale.
Trotz des Namens sah sie auf dem Foto in ihrem Führerschein nicht sehr italienisch aus. Sie war rotblond, ihre Augen waren grün, das Gesicht war schmal und hatte hohe Wangenknochen. Sie war schlank und ziemlich groß. Im übrigen stellte sich heraus, dass sie in Kopenhagen geboren und Dänin war.
Ihr Mann, Andreas Bark, traf mit ihrem gemeinsamen kleinen Sohn im Krankenhaus ein, als sie noch auf dem Operationstisch lag. Das Paar bewohnte ein altes, abgelegenes Bauernhaus an einem Waldrand sieben Kilometer vom Unfallort. Der Polizei erklärte Andreas Bark, er habe versucht, seine Frau vom Fahren abzuhalten. Er habe geglaubt, sie sei nur hinausgegangen, um frische Luft zu schnappen, als er gehört habe, wie das Auto startete. Als er herausgekommen sei, habe er sie wegfahren sehen. Er habe einiges getrunken, er wisse nicht mehr, wie viel. Sie hätten einen Ehestreit gehabt. Das waren seine Worte, und zu diesem Punkt wurden ihm keine weiteren Fragen gestellt.
Als Lucca Montale am frühen Morgen aus dem OP auf die Intensivstation geschoben wurde, saß ihr Mann mit dem Kopf des schlafenden Jungen auf dem Schoß noch immer im Foyer. Er blickte zum Himmel und auf die dunklen Bäume, als Robert sich neben ihn setzte. Andreas Bark starrte weiter mit erschöpftem, abwesendem Blick in das graue Morgenlicht hinaus. Er schien ein wenig jünger als Robert zu sein, Ende dreißig. Er hatte dunkles, welliges Haar und eine markante Kinnpartie und trug eine abgetragene Lederjacke.
Roberts Hände lagen auf seiner grünen Baumwollhose, und er schaute auf die winzige Perforierung im Oberleder seiner weißen Holzschuhe. Ihm fiel ein, dass er nach der Operation vergessen hatte, die Plastikhaube abzunehmen. Das dünne Plastik knisterte zwischen seinen Fingern. Der Andere sah ihn an, und er richtete sich auf, um ihm in die Augen zu blicken. Der Junge wachte auf und fragte verwirrt, wo er sei. Während der Arzt sprach, strich ihm der Vater langsam, mechanisch über das Haar. (...)


(Aus dem Roman "Lucca" von Jens Christian Grøndahl. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle)