Thursday Next


... Das Special Operations Network wurde zur Durchführung polizeilicher Maßnahmen ins Leben gerufen, die entweder als zu ungewöhnlich oder aber zu speziell erachtet wurden, um von den regulären Einsatzkräften bewältigt zu werden. Es gliedert sich in insgesamt dreißig Teilbereiche, von der eher profanen Sektion Nachbarschaftskonflikte (SO-30) über die sogenannten Literatur Agenten (SO-27) bis zur Abteilung Kunst Verbrechen (SO-24). Die Wirkungsbereiche der Sektionen SO-i bis SO-20 unterliegen strengster Geheimhaltung, obgleich allgemein bekannt ist, dass die ChronoGarde als SO-12 und die Einheit TerrorBekämpfung als SO-9 firmieren. Gerüchten zufolge überwacht die Abteilung SO-1 ihrerseits die SpecOps. Über die Aufgaben der übrigen Sektionen ist so gut wie nichts bekannt. Fest steht nur, dass sich das Personal zumeist aus ehemaligen Soldaten oder Polizeibeamten mit leichten psychischen Defekten rekrutiert. "Wer zu den SpecOps will", so eine Redensart, "muss schon ein paar Schrauben locker haben..."

Miuon de Floss
- Eine kurze Geschichte des Special Operations Network

Mein Vater hat ein Gesicht, das eine Uhr stoppen kann. Nicht dass er hässlich gewesen wäre; nein, mit diesem Ausdruck bezeichnet die ChronoGarde Personen, die in der Lage sind, den reißenden Zeitstrom sozusagen in ein zäh dahintröpfelndes Rinnsal zu verwandeln. Dad hatte als Colonel in der ChronoGarde gedient und seine Arbeit stets geheimgehalten. So geheim, dass wir von seinem Abgang erst erfuhren, als seine Chrono-Kollegen eines Morgens mit einem unbefristeten, allzeit gültigen Haft- & Eliminationsbefehl in unsere Behausung einfielen und wissen wollten, wo und wann er steckte.

Seither ist mein Vater auf der Flucht; bei seinen späteren Besuchen teilte er uns lediglich mit, dass er den gesamten ChronoDienst für "moralisch und historisch korrupt" halte und einen Kampf als Ein-Mann-Guerrilla gegen die Bürokraten im Ministerium für Zeitstabilität zu führen gedenke. Ich habe bis heute nicht begriffen, was er damit meinte; ich konnte nur hoffen, dass er wusste, was er tat, und dabei nicht zu Schaden kam. Dafür, dass er die Uhr anhalten kann, hat er ein großes Opfer gebracht: Er ist jetzt ein einsamer Wanderer zwischen den Zeiten, der nicht nur einer, sondern allen Epochen gehört und dessen einziges Zuhause der chronoklastische Raum ist.

Ich war nicht bei den ChronoGarden und hatte diesbezüglich auch keinerlei Ambitionen. Nach allem, was man hört, gibt es dort nicht viel zu lachen, obwohl man angeblich sehr gut verdient und das Amt seinen Mitarbeitern eine traumhafte Pension in Aussicht stellt: eine Fahrt an jeden Ort der Welt in jeder gewünschten Zeit (nur Hinfahrt). Nein, das war nichts für mich.
Ich war eine sogenannte "Ai-Agentin" in den Diensten von SO-27, der Sektion LiteraturAgenten (LitAgs) des Special Operations Network mit Hauptsitz in London. Das ist nicht halb so aufregend, wie es sich anhört. Seit 1980 drängten die großen Verbrecherbanden auf den lukrativen Literaturmarkt, und wir waren notorisch überarbeitet und unterfinanziert. Ich war Bereichsleiter Boswell zugeteilt, einem aufgeblasenen Zwerg, der wie ein Mehlsack mit Armen und Beinen aussah. Er lebte einzig und allein für seine Arbeit; Wörter waren seine große Leidenschaft - für ihn gab es nichts Schöneres, als einem kopierten Coleridge oder falschen Fielding nachzuspüren.

Unter Boswells Leitung machten wir die Bande dingfest, die mit gestohlenen Samuel-Johnson-Erstausgaben handelte; ein andermal vereitelten wir den Versuch, eine groteske Fälschung von Shakespeares verschollenem Cardenio zu authentifizieren. Was streckenweise zwar recht amüsant war, letztlich aber doch nichts weiter als Oasen im öden, tagtäglichen Einerlei von SO-27: Meistens schlugen wir uns mit Hehlern, Betrügern und Raubdruckern herum.

Ich arbeitete seit acht Jahren für SO-27 und teilte mir in Maida Vale eine Wohnung mit Pickwick, einem zahmen, zurückgezüchteten Dodo, der noch aus Zeiten stammte, als Evolutionsumkehr der letzte Schrei war und man Do-It-Yourself-Klon-Kits an jeder Ecke kaufen konnte. Ich wollte - nein, ich musste - unbedingt weg von den LitAgs, doch Versetzung war ein Fremdwort, und eine Beförderung kam nicht in Frage. In den Rang eines Inspektors konnte ich nur dann aufsteigen, wenn mein direkter Vorgesetzter Karriere machte oder sich zur Ruhe setzte. Aber dazu kam es nicht; Inspektor Turners Hoffnung, ihrem Traummann zu begegnen, der sie ehelichte und von dessen Geld sie leben konnte, zerschlug sich immer wieder, weil ihr Traummann entweder trank, log oder schon vergeben war.

Wie gesagt, hatte mein Vater ein Gesicht, das eine Uhr stoppen konnte; und genau das tat es denn auch, als ich eines schönen Frühlingsmorgens in einem kleinen Cafe unweit meiner Arbeitsstelle saß und ein Sandwich vertilgte. Die Welt flackerte, bebte kurz und blieb stehen. Der Besitzer des Cafes erstarrte mitten im Satz, und das Bild auf dem Fernsehschirm gefror. Vögel hingen bewegungslos am Himmel. Autos und Straßenbahnen hielten schlagartig an, und ein in einen Unfall verwickelter Radfahrer hing mit angstverzerrter Miene einen guten halben Meter über dem Asphalt in der Luft. Auch die Geräusche brachen ab; an ihre Stelle trat die matte Momentaufnahme eines anhaltenden Summtons, der mit gleichbleibender Lautstärke die Welt füllte.

"Na, wie geht es meiner hinreißenden Tochter?"
Ich drehte mich um. Mein Vater saß an einem Tisch und stand auf, um mich liebevoll zu umarmen.
"Gut", antwortete ich und drückte ihn.
"Wie geht es meinem Lieblingsvater?"
"Ich kann nicht klagen. Die Zeit ist eine hervorragende Ärztin."
Ich starrte ihn einen Moment lang an. "Weißt du, was?" murmelte ich. "Ich habe den Eindruck, du wirst von Mal zu Mal jünger."
"Werde ich auch. Irgendwelche Enkelkinder in Aussicht?" "Bei meinem Lebenswandel? Nie und nimmer." Mein Vater zog lächelnd eine Augenbraue hoch. "Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher." Er reichte mir eine Woolworth-Plastiktüte.
"Ich war neulich in '78", verkündete er, "und habe dir was mitgebracht."
Die Tüte enthielt eine Beatles-Single. Der Titel sagte mir nichts. "Haben die sich nicht schon 1970 aufgelöst?" "Nicht immer. Was macht die Kunst?"
"Nichts Besonderes. Echtheitszertifikate, Urheberrechtsverstöße, Diebstahl..."
"... immer derselbe Mist, ja?"
"Ja." Ich nickte. "Immer derselbe Mist. Was führt dich her?" "Ich habe deine Mutter in drei Wochen besucht", antwortete er mit einem Blick auf den großen Chronographen an seinem Handgelenk. "Aus den - ähem - üblichen Gründen. Nächste Woche will sie das Schlafzimmer mauve streichen - würdest du bitte mit ihr sprechen und ihr das ausreden? Die Farbe passt nicht zu den Vorhängen."
"Wie geht's ihr?" Er seufzte schwer.
"Bestens, wie immer. Mycroft und Polly lassen auch schön grüßen."
Polly und Mycroft waren meine Tante und mein Onkel; ich liebte sie sehr, obwohl sie den einen oder anderen Sprung in der Schüssel hatten. Besonders Mycroft fehlte mir. Ich war schon seit Jahren nicht mehr zu Hause gewesen.
"Deine Mutter und ich würden uns freuen, wenn du mal wieder vorbeikämst. Sie findet, du nimmst deine Arbeit zu ernst." " Das musst du gerade sagen, Dad."
"Autsch, das hat gesessen. Wie steht's mit deinen Geschichtskenntnissen?"
"Es geht."
"Weißt du, wie der Herzog von Wellington starb?"
"Logisch", antwortete ich. "Er wurde gleich zu Beginn der Schlacht von Waterloo erschossen. Von einem französischen Scharfschützen. Warum fragst du?"
"Ach, nur so", brummte mein Vater mit Unschuldsmiene und kritzelte etwas in sein Notizbuch. Er zögerte einen Moment.
"Dann hat Napoleon die Schlacht also gewonnen!" fragte er zweifelnd.
"Unsinn", widersprach ich. "Feldmarschall Blücher hat rechtzeitig eingegriffen und den Karren aus dem Dreck gezogen." Ich kniff die Augen zusammen. "Das ist Stoff der achten Klasse, Dad. Worauf willst du hinaus?"
"Also, das ist doch ein merkwürdiger Zufall, findest du nicht?"
"Was?"
"Dass sowohl Nelson als auch Wellington, zwei große englische Nationalhelden, gleich zu Anfang ihrer bedeutendsten und entscheidendsten Schlachten erschossen worden sein sollen."
"Was willst du damit sagen?"
"Dass wieder mal französische Revisionisten dahinterstecken könnten."
"Aber es hat am Ausgang der beiden Schlachten doch gar nichts geändert", beteuerte ich. "Wir haben beide Male gewonnen!"
"Davon, dass sie ihr Handwerk tatsächlich verstehen, habe ich nichts gesagt."
"Das ist doch lächerlich!" sagte ich. "Am Ende willst du mir noch weismachen, dass dieselben Revisionisten 1066 König Harold ermorden ließen, um die Invasion durch die Normannen zu unterstützen?"
Aber Dad lachte nicht. Statt dessen fragte er erstaunt: "Harold? Ermordet? Wieso?"
"Ein Pfeil, Dad. Ins Auge."
"Ein englischer oder ein französischer?"
"Das ist nicht überliefert", erwiderte ich, genervt von seinen absurden Fragen.
"Ins Auge, sagst du? - Die Zeit ist aus den Fugen", murmelte er und machte sich noch eine Notiz.
"Was ist aus den Fugen?" fragte ich, weil ich ihn nicht verstanden hatte.
"Nichts, nichts. Wie gut, dass ich zur Welt, sie einzurichten, kam..."
"Hamlet?" fragte ich, als ich das Zitat erkannte.
Statt einer Antwort hörte er auf zu schreiben, klappte das Notizbuch zu und massierte sich geistesabwesend mit den Fingerspitzen die Schläfen. Die Welt ruckelte eine Sekunde weiter und blieb dann wieder stehen. Nervös sah mein Vater sich um.
"Sie sind mir auf den Fersen. Danke für deine Hilfe, Schatz. Wenn du deine Mutter siehst, sag ihr, dass sie das Schlafzimmer nicht mauve streichen soll."
"Alles außer mauve, stimmt's?"
"Stimmt."
Lächelnd berührte er meine Wange. Ich bekam feuchte Augen; diese Besuche waren viel zu kurz. Er spürte, dass ich traurig war, und schenkte mir ein Lächeln, wie es sich wohl jedes Kind von seinem Vater wünscht. Dann sagte er: "Denn ich schaute das Vergangene, so weit das SpecOp-Auge reicht..."
Er hielt inne, und ich beendete die Strophe des alten Chrono-Garden-Liedes, das mir mein Vater als kleines Mädchen immer vorgesungen hatte: "... und die Welt lag mir zu Füßen, einem Meer von Möglichkeiten gleich!"

Und dann war er weg. Ein Ruck ging durch die Welt, als die Uhr wieder in Gang kam. Der Barmann beendete seinen Satz, die Vögel flogen in ihre Nester, der Fernseher meldete sich mit einem ekelerregenden SmileyBurger-Spot zurück, und der Radfahrer auf der anderen Straßenseite landete mit einem dumpfen Schlag auf dem Asphalt.
Alles ging weiter, als sei nichts gewesen. Niemand außer mir hatte Dad kommen und gehen sehen.
Ich knabberte abwesend an meinem Krabbensandwich und nippte von Zeit zu Zeit an einer Tasse Mokka, die eine Ewigkeit zu brauchen schien, um auf Trinktemperatur abzukühlen. Es war nicht viel Betrieb, und Stanford, der Wirt, spülte Geschirr. Ich legte meine Zeitung weg, um ein wenig fernzusehen, als das Logo des Toad News Network auf dem Bildschirm erschien.

Toad News, ein Tochterunternehmen der Goliath Corporation, war der größte Nachrichtensender Europas. Er versorgte sein Publikum rund um die Uhr mit aktuellen Meldungen; da konnten die nationalen Sender beim besten Willen nicht mithalten. Goliath verlieh Toad jedoch nicht nur Stabilität und finanzielle Sicherheit, sondern auch eine leicht anrüchige Note. Vielen missfiel der Monopolcharakter des Konzerns, und das Toad News Network musste ein gerüttelt Maß an Kritik einstecken, obwohl der Sender wiederholt bestritt, dass die Muttergesellschaft das Sagen hatte.
"Hier", dröhnte die Stimme des Ansagers, begleitet von dramatischer Musik, "ist das Toad News Network. Ihr Nachrichtensender mit Meldungen aus aller Welt, aktuell, informativ und kompetent, JETZT!"
Die Nachrichtensprecherin kam ins Bild und lächelte freundlich in die Kamera.

"Hier sind die 12-Uhr-Nachrichten vom Montag, den 6. Mai 1985, mein Name ist Alexandria Belfridge. Die Krim", verkündete sie, "geriet diese Woche einmal mehr ins Blickfeld internationaler Aufmerksamkeit, als die Vereinten Nationen die UN-Resolution PN17296 verabschiedeten, die England und die Russische Reichsregierung zu neuerlichen Verhandlungen über die Zukunft der Halbinsel bewegen soll. Während der Krimkrieg in sein 131. Jahr geht, drängen politische Interessengruppen im Inland und Ausland auf ein friedliches Ende der Feindseligkeiten."

Ich schloss die Lider und stöhnte leise vor mich hin. Ich hatte meine patriotische Pflicht anno '73 erfüllt und die traurige Wahrheit des Krieges jenseits von Glanz und Gloria mit eigenen Augen gesehen. Die Hitze, die Kälte, die Angst und den Tod. Die Sprecherin fuhr mit einem unverkennbar chauvinistischen Unterton fort: "Als es den englischen Streitkräften 1975 gelang, die Russen aus ihren letzten Stellungen auf der Krim zu vertreiben, galt dies als beispielloser Triumph über einen übermächtigen Feind. Seit damals sind die Fronten jedoch verhärtet, und Sir Gordon Duff-Rolecks fasste die Stimmung im Lande anlässlich einer Friedenskundgebung am Trafalgar Square folgendermaßen zusammen..."

Aufnahmen von einer großen und überwiegend friedlichen Demonstration im Zentrum Londons wurden eingespielt. Duff-Rolecks stand auf einem Podium und sprach in einen dichten, wildwuchernden Wald von Mikrofonen. "Was im Jahre 1854 als halbherziger Versuch seinen Anfang nahm, die russische Expansionspolitik einzudämmen", proklamierte der Abgeordnete, "ist im Lauf der Jahre zu einem durchsichtigen Manöver verkommen, das keinem anderen Zweck dient als der Aufrechterhaltung des Nationalstolzes..."

Ich schaltete auf Durchzug. Ich hatte all das schon tausendmal gehört. Ich trank noch einen Schluck Kaffee; der Schweiß auf meiner Kopfhaut juckte. Duff-Rolecks' Rede wurde mit Archivaufnahmen von der Krim unterlegt: Sebastopol, eine schwerbefestigte englische Garnisonsstadt, von deren architektonischem und historischem Erbe wenig übriggeblieben war. Immer wenn ich diese Bilder sah, roch ich den beißenden Gestank von Kordit und hörte das Krachen explodierender Granaten. Automatisch strich ich mir mit dem Finger über das einzige äußerliche Andenken, das ich von meinem Kriegseinsatz zurückbehalten hatte - eine kleine, leicht erhabene Narbe am Kinn. Andere hatten weniger Glück gehabt. Es hatte sich nichts geändert. Der Krieg schleppte sich weiter dahin.

"Das ist doch alles dummes Zeug", sagte eine heisere Stimme dicht neben mir.
Es war Stanford, der Besitzer des Cafés. Wie ich war er Krimveteran, wenn auch aus einem früheren Feldzug. Anders als ich hatte er dort mehr verloren als nur seine Unschuld und ein paar gute Freunde; er humpelte auf zwei Blechbeinen durchs Leben und hatte genug Granatsplitter für ein halbes Dutzend Konservendosen im Leib. "Die Krim geht die Vereinten Nationen einen Dreck an."
Obwohl wir ziemlich unterschiedliche Auffassungen hatten, unterhielt er sich gern mit mir über die Krim. Was sonst eigentlich niemand tat. Die Soldaten, die in den anhaltenden Konflikt mit Walesverwickelt waren, genossen weitaus größeres Prestige; Krimkämpfer auf Urlaub ließen ihre Uniform zumeist im Schrank.

"Das glaube ich nicht", erwiderte ich unverbindlich und starrte aus dem Fenster; an der nächsten Ecke stand ein bettelnder Krimveteran und rezitierte für ein paar Pennies Longfellow-Gedichte.
"Wenn wir sie jetzt zurückgeben, sind Millionen umsonst gestorben", setzte Stanford schroff hinzu. "Wir sind seit 1854 auf der Krim. Sie gehört uns. Genausogut könnten wir den Franzosen die Isle of Wight zurückgeben."
"Wir haben den Franzosen die Isle of Wight zurückgegeben", sagte ich nachsichtig; Stanfords Interesse am Tagesgeschehen beschränkte sich im allgemeinen auf die Ergebnisse der Ersten Krocketliga und das Liebesleben der Schauspielerin Lola Vavoom.
"Ach ja", murmelte er stirnrunzelnd. "Stimmt. Auch so eine Schnapsidee. Wofür hält diese UNO sich eigentlich?"
"Ich weiß nicht, aber wenn sie dem Morden ein Ende macht, ist ihr meine Stimme sicher, Stan."
Der Barkeeper schüttelte resigniert den Kopf, während Duff-Rolecks seine Rede zu Ende brachte: "... es besteht nicht der geringste Zweifel, dass Zar Alexej Romanow IV. ein verbrieftes Anrecht auf die Hoheitsrechte über die Halbinsel hat, und ich für meinen Teil sehe dem Tag, da wir unsere Truppen abziehen und dieser unermesslichen Vergeudung von Menschenleben und Ressourcen ein verdientes Ende bereiten, mit Freude und Zuversicht entgegen."

Die Nachrichtensprecherin ging zum nächsten Thema über - die Regierung wolle den Käsezoll auf 83 Prozent erhöhen, ein unpopulärer Schachzug, der die militanteren unter unseren Mitbürgern zweifellos dazu veranlassen würde, vor den Lebensmittelgeschäften zu demonstrieren.
"Wenn sich die Russkis zurückziehen würden, wäre der Spuk morgen vorbei", sagte Stanford grimmig.
Das war kein Argument, und das wusste er genauso gut wie ich. Auf der gesamten Krim gab es nichts mehr, was zu besitzen sich lohnte, ganz gleich wer den Krieg gewann. Der einzige Landstrich, den die Artillerieduelle nicht in Schutt und Asche gelegt hatten, war stark vermint. Historisch und moralisch gehörte die Krim zum Russischen Reich, und damit basta.

Die nächste Meldung befasste sich mit einem Scharmützel an der Grenze zur Volksrepublik Wales; keine Verletzten, nur ein paar Schüsse über den Wye in der Nähe von Hay. Wie üblich hatte der walisische Präsident-auf-Lebenszeit Owain Glyndwr VII. in seinem jugendlichen Übermut Englands imperialistischen Anspruch auf ein vereintes Großbritannien dafür verantwortlich gemacht; wie üblich hatte das Parlament nicht einmal eine Erklärung zu dem Zwischenfall abgegeben.

Die Nachrichten waren noch nicht zu Ende, aber mein Interesse war erschöpft. Der Präsident hatte in Dungeness eine neue Kernfusionsanlage eröffnet. Als das Blitzlichtgewitter losbrach, setzte er ein professionelles Grinsen auf. Ich widmete mich wieder meiner Zeitung und las einen Artikel über einen Gesetzesentwurf, der vorsah, den Dodo angesichts der beängstigend angewachsenen Population von der Liste der geschützten Arten zu streichen, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Die quälenden Erinnerungen an den Krimkrieg gingen mir nicht aus dem Kopf. Zum Glück holte mich das Signal meines Piepsers schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Ich warf ein paar Scheine auf den Tresen und rannte zur Tür hinaus, während die Toad-News-Sprecherin mit düsterer Stimme den Mord an einem jungen Surrealisten verkündete - erstochen von radikalen Anhängern der französischen Impressionisten.



Mein Piepser hatte mir eine beunruhigende Nachricht übermittelt: Das Unstehlbare war gestohlen worden. Das Manuskript von Martin Chuzzlewit war nicht zum ersten Mal verschwunden. Zwei Jahre zuvor hatte ein Museumswächter es aus seiner Vitrine entwendet, einfach weil er das Buch in seiner reinen, unverfälschten Form genießen wollte. Da ihn jedoch Gewissensbisse quälten und er schon nach drei Seiten die Segel streichen musste, weil er Dickens' Handschrift nicht lesen konnte, gab er das Manuskript schließlich zurück und legte ein umfassendes Geständnis ab. Zur Strafe musste er fünf Jahre über den Kalköfen am Rande von Dartmoor schwitzen.

Zwar hatte Charles Dickens seine letzten Lebensjahre in Gad's Hill Place verbracht, Martin Chuzzlewit jedoch in Devonshire Terrace geschrieben, wo er und seine erste Frau bis 1843 wohnten. Gad's Hill ist ein großer viktorianischer Bau bei Rochester, der sich, als Dickens ihn kaufte, eines herrlichen Ausblicks auf den Medway erfreute. Wenn man die Augen zusammenkneift und sich die Ölraffinerie, das Schwerwasserwerk und die ExcoMat-Labors wegdenkt, kann man leicht nachvollziehen, was ihn an diesem Teil Englands gereizt hat.

Täglich drängen sich mehrere tausend Besucher auf den Gängen von Gad's Hill, womit es - nach Anne Hathaways Hütte und dem berühmten Haworth Hause der Brontë-Schwestern - den dritten Platz unter den beliebtesten literarischen Pilgerstätten Englands einnimmt. Der Ansturm dieser Menschenmassen hatte zu erheblichen Sicherheitsproblemen geführt; seit ein Geistesgestörter in Chawton eingebrochen war und damit gedroht hatte, sämtliche Briefe Jane Austens zu vernichten, wenn seine mäßig spannende und reichlich durchwachsene Austen-Biografie nicht unverzüglich einen Verleger fände, wollte niemand mehr ein unnötiges Risiko eingehen. Damals war alles glimpflich abgegangen, und doch ließ dieser Zwischenfall nichts Gutes ahnen.

Ein Jahr später hatte in Dublin eine organisierte Bande Jonathan Swifts Nachlass als Geisel genommen. Es war zu einer längeren Belagerung gekommen, in deren Verlauf zwei der Täter erschossen und diverse politische Originalpamphlete sowie eine frühe Fassung von Gullivers Reisen vernichtet worden waren.

Das Unvermeidliche geschah. Alle literarischen Reliquien wurden unter Panzerglas gelegt und mittels modernster Elektronik von bewaffneten Beamten bewacht. Das wollte zwar niemand, aber eine andere Lösung gab es nicht. Seitdem war es zu keinen größeren Problemen mehr gekommen, was den Raub von Martin Chuzzlewit um so erschreckender erscheinen ließ.

Ich stellte den Wagen ab, klemmte mir meine SO-27-Marke an die Brusttasche und zwängte mich durch die Massen von Presseleuten und Gaffern. Als ich Boswell entdeckte, schlüpfte ich unter der Polizeiabsperrung hindurch und ging zu ihm.
(...) Paige Turner und Boswell hatten den LitAgs schon angehört, als ich dazugestoßen war. Kaum jemand verließ die LitAgs je wieder, es sei denn er ging in Rente oder starb; wer nach London versetzt wurde, hatte das Ende der Karriereleiter erreicht. Einer Redensart zufolge war ein Posten als Literatur-Agent lebenslänglich und nicht auf Bewährung.

"Boswell steht auf dich, Thursday." "Inwiefern?" fragte ich argwöhnisch. "Insofern als er dich an meinem Schreibtisch sehen will, wenn ich ausscheide - ich habe mich am Wochenende nämlich mit einem sehr netten Herrn von SO-3 verlobt." Ich hätte wahrscheinlich größere Begeisterung an den Tag legen sollen, aber Paige hatte sich schon so oft verlobt, dass sie sich an jeden Finger und jeden Zeh zwei Ringe hätte stecken können.

"SO-3?" fragte ich neugierig. Obwohl ich selbst bei SpecOps arbeitete, hatte ich keinen Schimmer, welche Abteilung wofür zuständig war - Otto Normalverbraucher war da vermutlich besser informiert. Die einzigen SpecOps-Abteilungen unterhalb von SO-12, über die ich hundertprozentig Bescheid wusste, waren SO-9, die Sektion TerrorBekämpfung, und SO-1, die Dienstaufsicht - die Spec-Ops-Polizei, die dafür sorgte, dass wir nicht aus der Reihe tanzten.
"SO-3 ?" wiederholte ich. "Wofür sind die denn zuständig?"
"Für die bizarren Fälle."
"Ich dachte, das macht SO-2?"
"Die erledigen die noch bizarreren Fälle. Ich habe meinen Verlobten gefragt, aber er ist leider nicht dazu gekommen, mir eine Antwort zu geben - wir waren sozusagen beschäftigt. Schau dir das an." Paige hatte mich in den Saal mit den Manuskripten geführt. Die Glasvitrine, in der Martin Chuzzlewit gelegen hatte, war leer.

"Gibt’s was Neues?" fragte sie eine Beamtin der Spurensicherung.
"Nein."
"Handschuhe?" erkundigte ich mich.
Die SpuSi stand auf und streckte sich; sie hatte keinerlei Abdrücke gefunden.
"Nein; und genau das ist das Komische daran. Es sieht aus, als ob sie den Kasten gar nicht angefasst hätten; keine Handschuhe, kein Tuch - nichts. Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Kasten ist gar nicht geöffnet worden und das Manuskript liegt noch darin!"

Ich inspizierte die Vitrine. Sie war fest verschlossen, und keines der anderen Exponate hatten die Diebe auch nur angerührt. Die Schlüssel wurden getrennt aufbewahrt und sollten jeden Augenblick aus London eintreffen.

"Hoppla, das ist ja merkwürdig ...", murmelte ich und beugte mich vor.
"Hast du was entdeckt?" fragte Paige erwartungsvoll.
Ich deutete auf eine Stelle an einer der Seitenscheiben, die kaum merklich pulsierte. Der Bereich hatte in etwa die Ausmaße des Manuskripts.


(Aus dem Roman "Der Fall Jane Eyre" von Jasper Fforde.)